Deuter der religiösen Vielfalt - EZW besteht seit 50 Jahren

Deuter der religiösen Vielfalt - EZW besteht seit 50 Jahren
Zu ihrem 50-jährigen Bestehen hat die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) ein positives Fazit ihrer Arbeit gezogen. In einer pluralistischen Gesellschaft wachse die Bedeutung der Arbeitsfelder der Zentralstelle, sagte deren Leiter Reinhard Hempelmann am Dienstag in Berlin. Religionsfaszination, -fundamentalismus und -distanz charakterisierten die gegenwärtige religiös-weltanschauliche Situation.
08.06.2010
Von Rainer Clos

In persönlichen Krisen nimmt das Bedürfnis an religiöser Orientierung zu. Mit dieser Beobachtung hat der evangelische Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf zwar die Zeitenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Blick, als sich Fitness-Kulte, Vegetarismus, wissenschaftlich konstruierte Neureligionen und asiatische Importreligionen ausbreiteten. Aber 100 Jahre später gilt nicht minder: Wir leben in religiös produktiven Zeiten.

Gesellschaftliche Veränderungen

Nicht nur ist seit den 1960er Jahren ein Boom an neuen religiösen Bewegungen zu verzeichnen. Hinzu kommen Veränderungen der religiösen Landschaft in Deutschland durch Einwanderung nichtchristlicher Religionen wie Islam und Buddhismus. Als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen wurden die Ränder des religiösen Feldes, auf dem lange Zeit die christlichen Kirchen die alleinigen Akteure waren, unscharf. Außerkirchliche Formen des Religiösen - von Astro TV über New Age, Glaube an die Wiedergeburt und Neuheidentum - erfahren Zulauf.

Diese religiöse Pluralisierung beobachten, beschreiben, verstehen, deuten und beurteilen, so lassen sich die Aufgaben der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) kennzeichnen, die vor 50 Jahren gegründet wurde. Als Aufklärung über den fremden und den eigenen Glauben, beschreibt Zentralstellen-Leiter Reinhard Hempelmann den Auftrag: Neben pflingstlich-charismatischen christlichen Gruppierungen und neuen religiösen Bewegungen haben die EZW-Mitarbeiter - Theologen und Psychologen - dabei östliche Spiritualität, Esoterik, Psychoszene, Okkultismus, Scientology und christliche Sondergemeinschaften ebenso im Blick wie (pseudo)religiöse Phänomene in Literatur, Popkultur oder Werbung. Dabei wird den religiösen Aspekten von Kochshows im Fernsehen ebenso nachgespürt wie den Anleihen religiöser Sprache im Fußball.

Christliches Spektrum differenziert sich aus

Dass die religiöse Vielfalt in Deutschland größer wird, zeigt eine Überblick aus der Zentralstelle: Parallel zu einer wachsenden jüdischen, buddhistischen und islamischen Präsenz differenziert sich das christliche Spektrum aus. Neben jeweils rund 25 Millionen evangelischen und katholischen Christen gibt es etwa 1,4 Millionen orthodoxe Christen. Rund 300.000 Menschen gehören zu den klassischen Freikirchen. Die Anhängerschar der pfingstlich-charismatischen Gruppierungen wird auf mehr als 200.000 geschätzt. Ohne konfessionelle Bindung sind Schätzungen zufolge etwa 20 Millionen Menschen in Deutschland.

Weder Säkularisierung noch eine Wiederkehr von Religion ist Hempelmann zufolge charakteristisch für den religiösen Wandel. Kennzeichnend seien gegenläufige Tendenzen: Religionsdistanz und Wiederkehr der Religion, Relativierung und Fundamentalisierung religiöser Wahrheit, Individualisierung und neue Gemeinschaftsbildung. Das neue Interesse an Religion lasse sich allerdings kaum als Vorbote neuer religiöser Erweckungen deuten, dämpft der Leiter der Zentralstelle kühne Erwartungen. In den zurückliegenden Jahren rückte Hempelmann zufolge die Fundamentalismus-Debatte in den Vordergrund, breiteten sich "religiös-säkulare Mischphänomene" aus und meldete sich mit Vehemenz ein neuer Atheismus zu Wort.

Beratung, Information, Orientierung

Für den Umgang mit religiöser Vielfalt wolle die EZW Unterscheidungskriterien bieten und zur Urteilsfähigkeit beitragen, erläutert Hempelmann. Eine gefragte Adresse sei die Zentralstelle mit Sitz in Berlin seit 1997 deshalb für Menschen, die Beratung, Information und Orientierung über die Szene religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften und Gruppen suchen. Maßgeblich beteiligt an der Gründung der Zentralstelle 1960 war der württembergische Pressepfarrer und Kirchenrat Kurt Hutten. Der erste Leiter der EKD-Einrichtung mit Sitz in Stuttgart hatte sich durch sein Handbuch "Seher, Grübler, Enthusiasten" als Experte für "traditionelle Sekten und religiöse Sonderbewegungen" einen Namen gemacht.

Mit anderen Fragen konfrontiert sah sich der historische Vorläufer der EZW, die Apologetische Centrale. In engem Zusammenhang mit der Volksmission 1921 gegründet befasste sie sich damals vorrangig mit Ideologien mit säkularreligiösem Wahrheitsanspruch: Wissenschaftsglaube, Materialismus, Sozialismus, Kommunismus und dem deutsch-völkischen Gedankengut. Diese Arbeit nahm 1937 ein Ende, als die Centrale von den Nationalsozialisten geschlossen wurde. Ein Grund dafür war die Kritik des damaligen Leiters Walter Künneth an dem Werk des NS-Ideologen Alfred Rosenberg "Der Mythos des 20. Jahrhunderts".

epd