Melanchthon: Erlesenes über den Lehrer Europas

Melanchthon: Erlesenes über den Lehrer Europas
Im Melanchthonjahr 2010 erinnert die evangelische Kirche an den großen Philologen, Theologen und Mitstreiter Martin Luthers, der vor 450 Jahren starb. Zahlreiche Bücher geben Auskunft über Leben und Wirken Philipp Melanchthons (1497-1560) und laden zu einer Entdeckungsreise durch die Reformationsgeschichte ein.
04.06.2010
Von Bernd Buchner

Ein wundersamer Mensch war Philipp Melanchthon. Viele Gründe lassen sich finden, warum der 1497 geborene Humanist, den man später Lehrer Europas nennen sollte, auch genau 450 Jahre nach seinem Tod unvergessen ist. Klein von Statur, war der Freund Luthers ein wahrhafter Geistesriese. Er stand an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, schwankte zwischen Tradition und reformatorischer Erneuerung, stellte der theologischen Spekulation historisch-philologische Gelehrsamkeit zur Seite. Nicht nur Freunde hat Melanchthon sich gemacht. Der Streit um seine Bedeutung, sein Erbe geht bis in die Gegenwart.

Das betrifft theologische wie politische Fragen. Melanchthon machte Zugeständnisse an die Papstkirche, wollte die Kircheneinheit retten. War er zu konziliant? Martin Luther sagte über seinen Wittenberger Mitstreiter, so "sanft und leise" könne er nicht treten. Doch statt Melanchthon deshalb einen Leisetreter zu schimpfen, wird heute weithin das diplomatische Geschick des "Außenministers der Reformation" gewürdigt. Und immer mehr setzte sich in den vergangenen Jahrzehnten die Erkenntnis durch, welche grundlegende Bedeutung der Bildungsreformer Philipp Melanchthon für die folgenden Jahrhunderte hatte.

Standardwerk von Heinz Scheible

Bildung hat mit Büchern zu tun, und an Abhandlungen über Melanchthon mangelt es im aktuellen Gedenkjahr naturgemäß nicht. Nach der umfänglichen Biografie, die Heinz Scheible, damaliger Leiter der Heidelberger Melanchthon-Forschungsstelle, 1997 zum 500. Geburtstag des großen Gelehrten vorlegte und die auf Jahrzehnte hinaus ein Standardwerk bleiben wird (Heinz Scheible: Melanchthon. Eine Biographie, München 1997), sind es nun deutlich kürzere, luftigere Veröffentlichungen, die den Leser auf den ersten Blick vor die Qual der Wahl stellen. Wenn er sich aber einmal in Leben und Werk dieses Geistesriesen des 16. Jahrhunderts vertieft hat, greift er gerne zum zweiten Buch, vielleicht zum dritten.

Ein Mensch, der ohne Bildung lebe und handele, "rennt wie ein Schwein in die Rosen", wird Melanchthon von Martin Greschat zitiert. In seinem hellsichtig geschriebenen Büchlein, das im Gütersloher Verlagshaus erschienen ist, folgt der emeritierte Gießener Kirchenhistoriker weitgehend der Chronologie von Melanchthons Lebensstationen. Im kurpfälzischen Bretten zur Welt gekommen, kam dieser schon sehr früh mit dem humanistischen Gedankengut und dem Bildungscredo seiner Zeit in Berührung. Dass Melanchthon (im Bild sein Denkmal in Wittenberg, das zurzeit restauriert wird) schon mit zwölf Jahren zur Universität kam, sei aber nicht so einzigartig gewesen, wie es heute scheine, so Greschat – ein Beispiel für den angenehm nüchternen, mythenkritischen Blick, den er bei aller Sympathie für seinen Gegenstand behält.

Bei der Kindertaufe entschied Luther

Den nahezu unendlichen geistigen Horizont des Wittenberger Professors schildert Greschat ebenso fundiert, wie er Melanchthons selbstgesetzte Grenzen aufzeigt. Zur Frage der Kindertaufe etwa – Anlass für heftigen, teils blutig ausgetragenen Streit mit den täuferischen Bewegungen - signalisierte er knapp, dies müsse Luther entscheiden. Auch im Abendmahlsstreit spielte er nach den Worten des Historikers keine große Rolle: "Allgemeine Aussagen wie die, dass Christus in der Eucharistie gegenwärtig sei oder dass Christi Leib nach göttlicher Verheißung und Anordnung hier präsent sei, genügten ihm."

Nicht ganz so eng am Lebensgang Melanchthons orientiert sich Martin H. Jung, der in Osnabrück Kirchengeschichte lehrt. Sein außerordentlich elegant und stellenweise in fast lakonischer Sprache verfasstes Buch, mit dem Vandenhoeck & Ruprecht zum Melanchthonjahr aufwartet, enthält viele sozialgeschichtliche Details und sowie Zeitkolorit. So entsteht ein farbiges Porträt über Werk und Wirkung des Reformators. Dessen Leben handelt der Autor nicht chronologisch ab, sondern bietet klug gewählte thematische Querschnitte. Diese Methode hat seine Vorteile, allerdings ist der Leser dankbar für die vorausgehende Greschat-Lektüre und den darin gesponnenen chronologischen Faden.

Kloster vor der Auflösung gerettet

Höchst anregend und aufschlussreich sind Jungs Schilderung etwa der Nürnberger Vorgänge um die Äbtissin Caritas Pirckheimer, deren Kloster durch Melanchthons Eingreifen vor der Auflösung bewahrt wurde, oder das Kapitel über die lebenslange Freundschaft des Wittenbergers mit Joachim Camerarius. Auch die Beziehungen Melanchthons zum Genfer Reformator Johann Calvin zu beleuchten, ist einer der Vorzüge des Buches von Jung, der im übrigen in der edition chrismon auch einen Band mit Melanchthon-Gebeten herausgegeben hat (ich rufe zu dir. Gebete des Reformators Philipp Melanchthon, Frankfurt a.M. 2010).

Ein erfrischendes Bild des großen Wittenberger Gelehrten zeichnet auch Uwe Birnstein in seinem Buch "Der Humanist", das in der Porträtreihe des Berliner Wichern-Verlages erschienen ist. Neben den großen biographischen Linien ist hier vor allem der Mensch Melanchthon zu entdecken - in zahlreichen Zitaten und Anekdoten. So schreibt er etwa 1529 seinem Bruder Georg vom Marburger Abendmahlsdisput: "Mein Herz ist voll von Kümmernissen. Die beiden Männer, Luther und Zwingli, können nicht übereinkommen, welches doch mein sehnlichster Wunsch wäre!" Das sagt mehr aus als manche theologische Analyse.

Ausnehmend schön gestaltet

Bettine Reichelt wiederum legt in ihrer Melanchthon-Biografie, die zum 450. Todestag in ausnehmend schöner Gestaltung in der Evangelischen Verlagsanstalt zu Leipzig erschienen ist, den Schwerpunkt auf die Frühzeit. Elegant und eingängig schildert die Pfarrerin und Autorin die großen Leitlinien in Leben und Wirken des Reformators, etwa die paradigmatische Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam über den freien Willen oder das Ringen um die Rechtfertigungslehre. Die Jahrzehnte nach 1530 sind eher summarisch gehalten.

Melanchthon steht auch im Mittelpunkt des Themenjahrs "Reformation und Bildung", das die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im Rahmen der Lutherdekade und im Hinblick auf das große Reformationsjubiläum 2017 veranstaltet. Ein exzellent gestaltetes Themenheft stellt den "Lehrer Europas" in Essays und Reportagen, bietet zudem praktische Anregungen für Schule sowie Gemeinde. Erhältlich ist es unter bestellung@chrismon.de oder www.chrismonshop.de – dort gibt es auch auf DVD den sehenswerten Film "Philipp Melanchthon – Reformator wider Willen", den Dagmar Witters zum 500. Geburtstag Melanchthons 1997 drehte.

Gelehrter und Glaubender

"Er ließ sich nicht festlegen", resümiert Bettine Reichelt über den großen Wittenberger Reformator. "Sprach man ihn als Kämpfer für die Kirche an, antwortete er als Humanist. Trat man ihm als Gelehrtem gegenüber, entdeckte man den Glaubenden und Betenden. Schaute man auf den Mahner zum Frieden, forderte er, Ordnung zu schaffen und dabei notfalls auch das Schwert einzusetzen." Melanchthons Hauptverdienst lag in der systematischen Zusammenfassung des reformatorischen Denkens. Er machte dieses "lehr und lernbar", so Greschat. Ohne Melanchthon wäre die geistige, theologische Ausprägung der Reformation Martin Luthers weit weniger authentisch gewesen, als sie heute überliefert ist.

Die Beschäftigung mit Philipp Melanchthon, das zeigen die zahlreichen Veröffentlichungen, lohnt sich auch nach einem halben Jahrtausend. Er hat den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen nicht nur ein immenses geistliches Vermächtnis hinterlassen, sondern tritt zunehmend wieder als Mensch in den Blickpunkt. Als Melanchthon am 19. April 1560 in Wittenberg starb, fand man einen Zettel bei ihm, auf dem er notiert hatte, warum man den Tod nicht zu fürchten brauche. Seine Antwort: "Du entkommst den Sünden. Du wirst befreit von aller Mühsal und der Wut der Theologen. Du wirst ins Licht kommen, Gott schauen, Gottes Sohn betrachten."

Martin Greschat: Philipp Melanchthon. Theologe, Pädagoge und Humanist, Gütersloh 2010. Gütersloher Verlagshaus, 208 Seiten, 19,95 Euro.

Martin H. Jung: Philipp Melanchthon und seine Zeit, Göttingen 2010. Vandenhoeck & Ruprecht, 168 Seiten, 17,90 Euro.

Uwe Birnstein: Der Humanist. Was Philipp Melanchthon Europa lehrte, Berlin 2010. Wichern-Verlag, 120 Seiten, 9,95 Euro.

Bettine Reichelt: Philipp Melanchthon. Weggefährte Luthers und Lehrer Deutschlands. Eine biographische Skizze mit Aussprüchen und Bildern, Leipzig 2010. Evangelische Verlagsanstalt, 130 Seiten, 14,80 Euro.


Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und verantwortet die Ressorts Politik und Religion.