Der scheue erste Mann im Staat tritt ab

Der scheue erste Mann im Staat tritt ab
Bei den Menschen beliebt, im Politikbetrieb eher ungeübt: Mit Horst Köhler verlässt ein Mann das höchste deutsche Staatsamt, der sich nie richtig einordnen ließ.

Rund ein Jahr nach seiner klaren Wiederwahl schreibt Horst Köhler Verfassungsgeschichte. Im Mai 2009 war er im ersten Wahlgang als Bundespräsident wiedergewählt worden, am Montag erklärte er seinen Rücktritt. In der bundesdeutschen Geschichte ist es der erste Fall, dass ein Staatsoberhaupt während seiner Amtszeit zurücktritt - überdies mit sofortiger Wirkung. Der Bremer Bürgermeister und gegenwärtige Bundesratspräsident Jens Böhrnsen (SPD) übernimmt nun Köhlers Amtsgeschäfte bis zur Neuwahl, die spätestens Ende Juni erfolgen muss.

Den überraschenden Schritt begründete Köhler mit der heftigen Kritik an seinen Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Die Unterstellung, er habe einen grundgesetzwidrigen Einsatz der Bundeswehr zur Sicherung von Wirtschaftsinteressen befürwortet, entbehre jeder Rechtfertigung. Das lasse den notwendigen Respekt vor dem höchsten Staatsamt vermissen, sagte Köhler. Er sieht sein Amt irreparabel beschädigt - Kritiker hingegen meinen, der Präsident selbst habe mit diesem Rücktritt das Amt beschädigt. Respekt wurde dem unbequemen Köhler nach dem Rücktritt dennoch gezollt. In allen politischen Lagern gab es Bedauern über seinen Schritt.

Militäreinsätze und Wirtschaftsinteressen

Erst mehrere Tage nach seinem nur wenig beachteten Truppenbesuch in Afghanistan geriet das Deutschlandfunk-Interview, das Köhler bei dieser Gelegenheit gab, in den politischen Tagesstreit. Für Unmut sorgte seine verklausulierte Äußerung, militärische Einsätze könnten auch den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands dienen. Während die Linkspartei aus den Köhler-Äußerungen eine Bestätigung herauslas, dass der Bundeswehreinsatz nicht verfassungskonform sei, hielten sich Koalitionspolitiker weithin bedeckt. Andere empfahlen einen Blick ins Bundeswehr-Weißbuch. Darin hatte die Große Koalition bereits 2006 festgehalten, dass die deutsche Sicherheitspolitik auch zum Ziel habe, den freien Welthandel als Basis von Deutschlands Wohlstand zu fördern.

Köhler sei der Präsident, den Deutschland in der aktuellen Situation brauche, bescheinigte ihm Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach der Wiederwahl. Er selbst listete die Themen auf, die ihm schon in seiner ersten Amtszeit wichtig waren: die Stärke und Leistungsfähigkeit der Bürger, mit der sich auch die aktuelle Krise bewältigen lasse, Gerechtigkeit für die ganze Welt, Bildungschancen für alle und Integration.

Seit längerem Unruhe im Bundespräsidialamt

Den stärksten Eindruck hinterließ in der Öffentlichkeit seine Rede bei der Gedenkfeier für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden Anfang März (Foto: dpa). In der Folgezeit wurden aus dem Bundespräsidialamt mehrfach Personalquerelen und Machtkämpfe kolportiert. Massive Kritik am Bundespräsidenten übte der Köhler-Biograf und Politikwissenschaftler Gerd Langguth. Der Präsident schweige zu allen wichtigen Themen - Missbrauch, Hartz IV oder Euro-Krise, monierte er im "Spiegel". Gerade die "Macht des Wortes", die Bundespräsidenten zu Gebote steht, nutze er nur wenig.

Der 67-Jährige war vieles nicht, was zu Beginn seiner ersten Amtszeit erwartet oder auch befürchtet wurde. Er ist kein rein neoliberal orientierter Wirtschaftsfachmann. "Schrankenlose Freiheit bringt Zerstörung", warb Köhler zuletzt für einen starken Staat. Seine eigene Rolle legte Köhler mitunter unorthodox aus. Mancher in der Union und der FDP ärgerte sich dann über Köhlers gelegentliche Einmischung in die Tagespolitik, etwa seinen Vorschlag zu Erhöhung der Spritsteuer.

In der Bevölkerung hingegen erfuhr der politikunerfahrene und immer wieder scheu und unbeholfen wirkende Köhler hohe Sympathiewerte, galt als bescheiden und zuvorkommend. Denn anders als seine Vorgänger war der Volkswirt kein Politveteran. Sein Auftreten ist nicht durch jahrelange politische Arbeit abgeschliffen. Mitunter wirkte er ein wenig linkisch bei Terminen. Auch große symbolische Gesten sind seine Sache nicht. Vielleicht galt Köhler gerade deshalb mehr ein Mann des Volkes als einige seiner Vorgänger.

Ein bewegtes Leben

Köhlers Leben ist ein bewegtes: Am 22. Februar 1943 wird er nach der Flucht seiner Eltern aus Rumänien im polnischen Skierbieszów geboren. Bevor er laufen kann, geht die Flucht weiter: zunächst in einen kleinen Ort nahe Leipzig, bereits 1953 aus der DDR. Nach vier Jahren in Auffanglagern lässt die Familie sich im schwäbischen Ludwigsburg nieder. Köhler studiert Volkswirtschaft und wechselt mit 33 Jahren in die Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums, 1982 ins Bundesfinanzministerium. 1998 wird er Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Zwei Jahre später wird Köhler vom neuen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) als Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgeschlagen. 2004 wird er auf Vorschlag von Union und FDP zum Bundespräsidenten gewählt.

Mehr als die innenpolitischen Entscheidungen, mit denen er in seiner ersten Amtszeit Schlagzeilen machte, sind die Globalisierung und das Schicksal Afrikas die großen Themen Köhlers, was wohl auch aus seiner beruflichen Vergangenheit herrührt. Das Interesse daran ist bereits früh geweckt - schon 1970 gründet er mit seiner Frau Eva und Freunden im schwäbischen Herrenberg einen Dritte-Welt-Laden. Es passe nicht zu seiner Überzeugung als Christ, Afrika Hunger, Krieg und Chaos zu überlassen, sagt Köhler, der die evangelische Kirche als "geistige und geistliche Heimat" ansieht.

"Schlag ins Kontor"

Im politischen Berlin verschärft Köhlers Schritt unterdessen das verbreitete Krisengefühl. Der für alle völlig überraschende Rücktritt trifft die ohnehin schon seit Monaten geschwächte Merkel-Regierung empfindlich. Von einem "Schlag ins Kontor" ist in ihren Reihen die Rede. Der Abgang des Staatsoberhaupts komme angesichts nationaler und internationaler Krisen und unter dem Eindruck der Kriegsgefahr im Nahen Osten zu einem dramatischen Zeitpunkt. Bei den Regierungsparteien herrscht entsprechend Fassungslosigkeit.

Köhlers Rückzug trifft selbst die Kanzlerin und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) ohne Vorwarnung. Sie haben erst um 12 Uhr mittags von Köhler erfahren, dass er um 14 Uhr - beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik - als Präsident das Handtuch werfen wird. Merkel sagt: "Ich war überrascht von dem Telefonat und habe versucht, ihn noch einmal umzustimmen. (...) Aber er wollte nicht umgestimmt werden."

Eine Kurzschlussreaktion wird vermutet

Viele Koalitionspolitiker halten den Schritt des 67-Jährigen für absolut überzogen. Mehr noch. Manche sprechen von "unverantwortlichem Handeln" eines Präsidenten. Der Anlass sei eine Lappalie gewesen. Selbst die Queen in England müsse sich Kritik gefallen lassen. Köhler habe "beleidigt" und "mimosenhaft" reagiert. Auch viele Menschen auf der Straße zeigen sich irritiert und teilweise enttäuscht über ihren Präsidenten, zu dem sie wegen seiner oft klaren und volksnahen Worte Vertrauen gefasst hatten. In den Reihen der Regierung wird eine Kurzschlussreaktion bei Köhler vermutet. Weggefährten berichteten schon früher, Köhler könne auch cholerisch und unberechenbar sein. Auch von "durch den Raum fliegenden Akten" war die Rede.

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Merkel wird kritisiert, sie habe Köhler nicht genügend gegen die Angriffen aus der Opposition in Schutz genommen. Dazu sagt die Kanzlerin, sie habe mit Köhler früh vereinbart, aus Respekt vor den Verfassungsorganen sich nicht gegenseitig zu kommentieren. "Das ist ein guter Brauch." In ihrem Umfeld heißt es, niemand habe geglaubt, dass Köhler sich nicht allein verteidigen könne und auf die Hilfe der Kanzlerin warte. Andere wiederum sagen, Merkels Instinkt für politische Gefahren habe versagt. So meint auch SPD-Chef Sigmar Gabriel, dass Köhlers Rückzug nur mit der fehlenden Unterstützung seiner einstigen Förderer erklärbar sei.

Die Kanzlerin betont: "Ich bedauere diesen Rücktritt aufs Allerhärteste. Ich glaube, dass die Menschen sehr traurig sein werden über den Rücktritt." Westerwelle sagt: "Das ist ein Tag, davon werden Sie noch Ihren Enkeln erzählen." Für die regierenden Parteien heißt es nun, neben Eurokrise, Finanzkrise, Koalitionskrise und den Personaldebatten in den eigenen Reihen nun vier Jahre früher als geplant einen neuen Mann oder eine neue Frau an der Spitze des Landes zu suchen. Köhler war erst im Mai 2009 für eine zweite Amtszeit gewählt worden. Ein Resümee von Union und FDP gibt es bereits: "In Zukunft nur noch Politiker ins Schloss Bellevue".

Spekulationen über Nachfolger

Viele Namen aus der CDU werden nun gehandelt, von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen bis Bundestagspräsident Norbert Lammert. Nach ersten Berechnungen aus der Koalition haben Union und FDP in der Bundesversammlung eine klare Mehrheit. Eine Staatskrise in Deutschland drohe jedenfalls nicht, heißt es in der Regierung. Das Fundament des Staates werde nicht erschüttert. Für solch unvorhergesehenen Situationen gebe einen geordneten Weg. Bis zum 30. Juni werde ein neues Staatsoberhaupt gewählt.

Außerdem sei der Rettungsschirm für den Euro mit den europäischen Partnern gespannt, der Bundeshaushalt werde aufgestellt - wenn auch mit drastischen Einschnitten. Union und FDP setzen darauf, dass sie wegen der Flut der Probleme nun zusammenstehen, internen Streit vermeiden und diese Krise insofern als Chance nutzen können. Eine Chance im übrigen auch für eine Klärung der Rahmenbedingungen für Auslandseinsätze der Bundeswehr.

epd/dpa