Zu viel Gefühl

Zu viel Gefühl
Wie gerne entschuldigt sich Springers Shootingstar Julian Reichelt? Ist auf Englisch klarer, was genau "Fake News" sind? Wie geht's den französischen Zeitungsverlegern und wie geht die Bundestagswahl aus? (Und sind alle Antworten so spannend wie die Fragen?) Außerdem: eine besonders absurde türkische Journalisten-Anklage, eine "Google-Vermeidungsmaschine", sind Blogger Journalisten?

"Herr Reichelt ..., wie leicht fallen Ihnen diese Entschuldigungen?"

Es ist ein relativ zupackendes Interview, das Joachim Huber vom Tagesspiegel mit dem relativ frischgebackenen Vorsitzenden der Bild-Zeitungs-Medien führt. Julian Reichelt entschuldigt sich zwar nicht so oft wie es nötig wäre, aber öfter als sein mehr oder minder Vorgänger Kai Diekmann es getan hatte. Zuletzt tat er's wegen der Frankfurter "Sex-Mob"-Berichte (AP gestern).

Routine beim Entschuldigen besitzt er also. Entschuldigungen seien ein "wichtiger Teil der journalistischen Aufrichtigkeit und Ausdruck unserer proaktiven Kommunikation", lauten Teile der Antwort. "Da wurde der Vorwurf, wir würden über gewisse Vorfälle beim Flüchtlingsthema nicht berichten, quasi zum Treiber der Berichterstattung", lautet der relativ analytischste Satz. Und wenn Reichelt von "Schützengraben" redet, dann nicht etwa, weil seine eigene Kriegsreporter-Vita kürzlich Thema "mündungsfeuerheißer Hymnen" (Altpapier) war, sondern als Vorwurf an Bild-Zeitungs-Gegner. Fairerweise muss auch erwähnt werden, dass die Interview-Überschrift "Mein Anspruch: 'Bild' als ehrlichstes Medium Deutschlands" nicht direkt aus Reichelts Mund stammt, sondern erst mal vom Interviewer hineingelegt wurde.

Worum es auch geht: ums Schlagwort mindestens des Jahres, also um sog. Fake News. Reichelt unterscheidet dabei zwischen "Fake News" und klassischen "Enten". Medienmenschen, die derzeit nicht von Fake-News reden, sind, wie heißt es?.. mit dem Klammerbeutel gepudert.

[+++] Die öffentlich-rechtlichen Anstalten formieren sich in derselben Sache ebenfalls weiterhin, tagesaktuell in Interviews mit dem Werbermedium horizont.net. Das ZDF hat seinem Dings den Namen "#ZDFcheck17" mit attraktivem Hashtag gegeben. Was der stellvertretende Chefredakteur Elmar Theveßen dazu im E-Mail-Kurzinterview sagt, ist: nichts, aber in einer durch allerlei Parenthesen aufgewerteten Form, die gewiss kompetent klänge, wenn sie gesprochen würde.

Eher einen Klick wert ist die Online-Zusammenfassung des Ulrike-Simon-Interviews mit der MDR-Intendantin und ARD-Vorsitzenden Karola Wille, vor allem allerdings der hypnotischen Qualitäten des neuen Wille-Fotos wegen. Womit Wille zitiert wird, klingt so, als hätte sich die ARD bereits gründlich mit dem ZDF abgestimmt, damit sie nicht gegeneinander ausgespielt werden wie immer bei Bundesliga-Fernsehrechte-Versteigerungen, müsse aber noch die Zustimmung der Gremienvorsitzendenkonferenz oder solch einer Einheit abwarten:

"Wir planen, eine in Hamburg bei ARD aktuell angesiedelte, gemeinsame und medienübergreifende Verifikationseinheit aufzubauen, zu der die Landesrundfunkanstalten eigene Kollegen entsenden können".

Die sinnfälligste Formulierung zum Schlagwort hat weiterhin Mathias Döpfner, also Reichelts oberster Chef, der zurzeit aber auch den Hut des Zeitungsverlegerverbands-Chefs trägt (und weiter unten noch mal vorkommt). Gerade trug er sie am Rande der Berlinale vor:

###extern|twitter|HeikeRaab/status/831906227059884032###

Klicken Sie auch den Link, schon der eindrucksvollen Illustration wegen, die Heike Raab angefertigt hat (und die ist ja nicht irgendwer, sondern die wichtigste Strippenzieherin der deutschen Medienpolitik).

Das relativ instruktivste Interview zum Thema hat die TAZ mit der BBC-World-Chefin Francesca Unsworth geführt. Instruktiv ist es schon, weil die BBC sozusagen die Mutter allen öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist und außerdem Englisch spricht. Das Diffuse, das den Trend-Anglizismus "Fake News" auf Deutsch umwabert, könnte also gelichtet werden.

Nein, doch nicht:

"Es herrscht Uneinigkeit darüber, was mit 'Fake News' überhaupt gemeint ist. Geht es um Blogger in Estland, die sich virale Geschichten ausdenken, um Geld zu verdienen? Um Versuche, gezielt Wahlergebnisse zu beeinflussen – wie es im Zusammenhang mit dem US-Wahlkampf unterstellt wird? Oder schlicht um Nachrichten, die einem nicht passen? 'Fake News' ist ein politischer Begriff geworden. Für uns bei der BBC bedeutet das, dass wir mehr Aufwand in das stecken müssen, was wir schon immer getan haben: Behauptungen zu prüfen",

sagt Unsworth, die vor der britischen Volksabstimmung zum EU-Austritt ihr Dings unter dem Namen "Reality Check" gestartet hatte.

Ob es nicht mehr hülfe, wenn Medien mit im Prinzip ja bewährten Mitteln versuchen würden, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, als wenn sie nun unter neuen Trendnamen "Fake"-Stempel verteilen wollen (weil es geht und alle tun), bleibt also vorerst unklar. Oder fühlen sich Anti-Fake-News-Fact-Checker unter neuen Namen statt den verbrauchten alten einfach besser?

[+++] Falls Ihnen das zu kleine Kreise waren: Eine erheblich elaboriertere These hat wieder Sascha Lobo in seiner SPON-Kolumne ersonnen. Sie läuft auf die Gleichung:

"Der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl wird davon abhängen, wie glaubwürdig die Polarisierung zwischen den beiden Volksparteien bis Ende September wirkt"

hinaus. Das bedeutet ungefähr: Sollte Martin Schulz auch noch im September als reelle Alternative zu Angela Merkel erscheinen, würde die Partei namens Alternative für Deutschland wenige Stimmen erhalten. Denn eigentlich reichen den Menschen zwei tatsächliche Alternativen aus. "Nach gefühlten sechshundert Jahren Große Koalition" waren SPD und CDU/CSU lange nicht im geringsten als solche erschienen. Nun tun sie's doch wieder.

Wie Lobo den Gedanken über die Übertragung der offenkundigen "netztypischen Hyperpolarisierung" auf "sozialmediale Öffentlichkeiten", die teilweise wählen gehen, herleitet, ist gewohnt ausgefuchst. Nur an einer Stelle könnte er noch nachbessern: indem er das fürchterlich überstrapazierte Adverb "gefühlt" wegließe. Das ist schließlich die Mutter aller post-/ alternativfaktischen Wahrnehmungen. Wer irgendeine Wahrheit fühlt, lässt sich womöglich auch dadurch nicht davon abbringen, dass Elmar Theveßen "Fake" drüberstempelt.

[+++] Brüssel. (Oder Straßburg?) Wehende Europafahnen vor einer typischen Europainstitutionen-Hochhausfront. Mit diesem Foto macht der BDZV, also die von Mathias Döpfner geführte Verlegerlobby, auf eine nicht unspektakuläre deutsch-französische Pressemitteilung aufmerksam.

"Anlässlich eines Austauschs über die Zukunft der Presse und die wirtschaftliche Lage der Branche in Deutschland und Frankreich, haben Dr. Mathias Döpfner, Präsident des BDZV, sowie Francis Morel, Präsident des Verlegerverbands der französischen nationalen Tageszeitungen (SPQN), die Notwendigkeit eines europäischen urheberrechtlichen Schutzes für die Presseverleger – so genanntes Verlegerrecht – betont",

heißt es dort in fürchterlich büro- oder eurokratischen Sound (inklusive des überzähligen Kommas) einleitend. Und es geht so weiter. Die PM muss vermutlich als verzweifelter Appell verstanden werden, irgendwas mit dem verkorksten Leistungsschutzrecht anzustellen. Was die Verleger wollen (z.B.: "ein faires Kräfteverhältnis zwischen Presseunternehmen und internationalen Technologiekonzernen und den Herstellern von Endgeräten herzustellen") ist zum Teil völlig nachvollziehbar. Dass sich nun, vor den Wahlen in Frankreich und Deutschland, und wo Günther Oettinger wieder wegversetzt worden ist, noch jemand drum kümmert, scheinen sie nicht zu glauben.

Noch drisser wirkt die Initiative, wenn man zum SPQN klickt, auf dessen Startseite sich zwar aktuelle Zeitungs-Titelseiten hübsch bewegen, dessen jüngste Actualité aber aus dem Sommer 2015 stammt.

[+++] Bevor sich die flachen Untiefen der deutschen und EU-Medienpolitik zu sehr bedauert: Anderswo sind viel entscheidendere Zustände um ein Vielfaches schlimmer.

"Zu welchem Irrsinn die türkische Justiz aus politischen Gründen gezwungen wird, wurde gestern in einem Gerichtssaal in Istanbul eindrucksvoll demonstriert. Nämlich, als dem Richter Ahmet Şik, der bekannteste Enthüllungsjournalist des Landes, vorgeführt wurde",

berichtet Jürgen Gottschlich für die TAZ. Şik ist zunächst angeklagt, "dem Ergenekon-Netzwerk anzugehören. Das ist eine Gruppierung, die angeblich in den Jahren 2008 bis 2011 den gewaltsamen Sturz der Erdoğan-Regierung vorbereitet haben soll". Damals war die Gülen-Sekte, die für den angeblichen Putsch 2016 verantwortlich gemacht wird, "noch eng mit Erdogan verbündet". Şik wurde wegen seines geplanten Enthüllungsbuchs "Die Armee des Imam" (vgl. Spiegel 2011) angeklagt und ist es noch. Dieser Fall ist juristisch bzw. "juristisch" nicht abgeschlossen. Unabhängig davon sitzt Şik seit Ende Dezember, wie Abertausende in der Türkei, wegen angeblicher Unterstützung der Ereignisse 2016 im Gefängnis – also "wegen des genau gegenteiligen Vorwurfes".

Und das in einem Staat, der nicht nur enger außenpolitischer Partner der deutschen Bundesregierung ist, sondern dessen führende Vertreter aktuell durch deutsche Fußballstadien touren, um für Wählerstimmen für ihre Politik zu werben.

"Tatsächlich, sagte Şık kürzlich, habe er nichts anderes getan, als seiner normalen journalistischen Arbeit nachzugehen, den Machthabern auf die Finger zu schauen."


Altpapierkorb

+++ "Eine Google-Vermeidungsmaschine aus Deutschland drängt auf den internationalen Markt" (zeit.de), und zwar der "Browser Cliqz, seit 2013 mehrheitlich im Besitz des Burda-Konzerns" (t3n.de). Cliqz hat das erheblich verbreitetere Add-on Ghostery gekauft, um seine eigene Verbreitung und seine Stärken beim unverfolgten Surfen zu erhöhen. Patrick Beuth von zeit.de erscheint die Strategie sinnvoll. Wenn Sie den Browser ausprobieren wollen: hier entlang. +++

+++ Neues Gerichtsurteil zur Frage, ob Blogger Journalisten sind: Ja, entschied der bayerische Verwaltungsgerichtshof, und zwar anhand des von zeit.de betriebenen Störungsmelder-Blogs. Blogger "haben die gleichen Auskunftsrechte wie andere Journalisten. Der "Blog verfolge eine 'publizistische Zielsetzung', es handele sich bei den Beiträgen der Autoren nicht um bloße Meinungskundgebungen und Diskussionsbeiträge, sie zielten vielmehr auf eine Teilhabe am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ab", zitiert Matthias Meisner aus dem Urteil (Tagesspiegel). +++ Das heißt: "Auch freie Journalisten können diese Karte", in den Pressegesetzen der Länder enthaltene besondere Auskunftsrechte bei öffentlichen Behörden, "ziehen, selbst, wenn sie keinen direkten Rechercheauftrag nachweisen können" (blog.zeit.de/glashaus). +++

+++ Nicht unspektakuläre ARD-Personalie: Martina Zöllner, die noch die SWR-Hauptabteilung "Film und Kultur" leitet, geht zum RBB, um dort die neu gegründete Abteilung "Doku und Fiktion" zu übernehmen. Was Zöllner bislang so verantwortete: Produktionen zwischen "Deutschland, deine Künstler" und der SWR-WDR-Arte-Koproduktion "Toni Erdmann". Wer's als erste wusste: Ulrike Simon natürlich (horizont.net). +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite geht's u.v.a. um eine "kleine Meldung in den Nachrichten ... von großer Tragweite: iPhone-Nutzer in China können künftig die Nachrichten-App der 'New York Times' nicht mehr herunterladen – Apple hat die App auf Drängen der Regierung aus seinem App-Store entfernt". Und auch in anderen autoritären Staaten sind Google und Apple gerne dabei, lokale bzw. nationale Löschungswünsche an ihre App-/ Play-Stores zu erfüllen. +++

+++ Nicht, dass Sie einen Trend-Anglizismus verpassen! Von der jugendschutz.net-Veranstaltung, auf der "Familienministerin Schwesig ... vor hippen Rechten, den 'Nipstern'" warnte, berichten ZDFs heute.de und besonders empathisch der alte Vorwärts: "Kaum zu glauben, aber selbst die rechte Szene geht heute mit der Zeit: Gaben in den 1990ern Glatzen in Bomberjacken den Ton an, sind heute 'Nipster' der letzte Schrei. Die Nazi-Hipster geben sich rebellisch, cool und gesundheitsbewusst. Sie trinken Club-Mate, hören Hip Hop und ernähren sich vegan. Statt Springerstiefel tragen sie Hornbrille". Doch "die Ministerin hat einen Plan, wie der rechte Online-Hass eingedämmt werden soll: Sie will die Medienkompetenz bei Jugendlichen stärken". +++ Bevor jemand Manuela Schwesig vorwirft, spät dran zu sein: Die Bedeutung von Medienkompetenz unterstrichen hatte sie schon 2014. Ja, damals wollte sie sogar "noch in dieser Legislaturperiode ein 'Freiwilliges Digitales Jahr' zur Vermittlung von Medienkompetenz ins Leben rufen." Daraus wird aber wohl frühestens in der nächsten Legislaturperiode was ... +++

+++ Die Zeit: "Was kann man denn tun, um die Mediennutzer besser aufzuklären?" - Oliver Quiring: "Zum einen muss man früh anfangen, Stichwort Medienpädagogik." - "Das hört sich etwas verstaubt an." - Quiring: "Heute ist die Medienpädagogik noch wichtiger als früher, als es ja keine Alternativen zu den etablierten Medien gab und Journalisten die Schleusenwärter der veröffentlichten Meinung waren. Heute dagegen kann dank der sozialen Medien jeder zum Meinungsmacher werden ..." Das Interview aus der vorigen Woche, in dem die Mainzer Medienwissenschaftler Quiring und Tanjev Schultz zur in diesem AP erwähnten Studie befragt werden, steht inzwischen frei online. Es enthält auch spannendere Passagen als diese, etwa zu "gewissen Grundgnadenlosigkeit bei Journalisten, die schnell dabei sind, etwas zu verurteilen." +++

+++ Der neulich schon hier erwähnte epd medien-Beitrag von Nora Frerichmann zur Radio-Visualisierung ("Wenn alle Medien visuell aufrüsten - was macht dann eigentlich das Radio?") steht nun auch frei online. +++

+++ Ebenso wie Hans-Jürgen Krugs informativer Text darüber, wie das Feedback ins Fernsehen kam (Vor fünfzigeinhalb Jahren ...). +++ 

+++  Auf der SZ-Medienseite wird mal wieder was bei Netflix gelobt - die Doku-Serie "Abstrakt"( "passt wunderbar in die überkuratierte Gegenwart der Kernzielgruppe"). +++ Und um die "als Spendenaufruf verkleidete Drohung" von reportagen.fm geht es dort ("Das Kuratieren von Artikeln ist derweil in den vergangenen Jahren zum Geschäftsmodell geworden. Start-ups wie Blendle, Piqd und Pocketstory geben in Newslettern und auf ihren Websites personalisierte Leseempfehlungen samt Begründungen. Finanziert werden sie durch Einzelverkäufe von Paid-Content-Artikeln, Abo-Modelle oder Mitgliedschaften. Wie sehr sich das lohnt, darüber kann man nur spekulieren ..."). +++

+++ Nachtrag aus der FAZ gestern: die "Tausendsassarin" Anne Dorn ist gestorben ("Den Einsturz des Kölner Stadtarchivs, dem sie ihren Vorlass anvertraut hatte, hat Anne Dorn als Schock erfahren – und einen zornigen Essay darüber geschrieben. Im literarischen Leben der Stadt war die empathische Frau, die auch Lyrik und Stücke schrieb, präsent und geschätzt ...").  +++

+++ "Am Ende wird vermutlich die Erkenntnis stehen, dass Lügengebäude oft mehr als einen Architekten haben" (Frankfurter Rundschau zur oben und gestern hier behandelten Frage der "Sex-Mob"-Berichte). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

weitere Blogs

Ein mysteriöser Todesfall, das Mauern der Einheimischen und eine latente Homophobie begegnen einer lesbischen Pastorin bei ihrer Ankunft in einer ostdeutschen Kleinstadt. Aus der Großstadt bringt sie zudem ihre persönlichen Konflikte mit. Beste Zutaten für den Debütroman „In Hinterräumen“ von Katharina Scholz.
Nach 15.000 Kilometern und fünf Monaten ist Leonies Reise vorbei. Was bleibt? In ihrem letzten Blogbeitrag schaut sie auf ihre Erfahrungen zurück.

Vom Versuch nicht zu hassen. Biografische Streiflichter von gestern, das irgendwie auch heute ist.