Interessiert ungeduldig

Interessiert ungeduldig
Endlich ein Patentrezept für den Medienkompetenz-Unterricht. Brennpunkt Ukraine (Und: Ignorieren deutsche Medien Putin-Kritik?). Brennpunkt Türkei: fast 295.000 geleakte E-Mails (leider aus dem Posteingang) und "Tritthocker unter den Galgen". Eine prominente Amok- und Medien-Amokfahrt wird verfilmt oder gerichtlich gestoppt. Oberlandesgerichtlich noch nicht entmurkst: das Leistungsschutzrecht (bzw. das "Geschäftsgeheimnis" Snippethöchstlänge). Außerdem: "der Polit-Skandal des Sommers"; "in Twitter veritas"?

Unverzichtbares Utensil im Nähkästchen aller Onlinejournalisten: durchnummerierte, daher am Artikelende zuverlässig abgeschlossene Aufzählungen von irgendetwas. Nichts bringt ähnlich effektiv den Hauch von Übersichtsgefühl in unübersichtliche Gemengelagen, den alle wollen und brauchen. In ungefähr so einem Sinne hat Sascha Lobo bei SPON mit aller Routine des regelmäßig Kolumnierenden (die wir an dieser Stelle ausdrücklich nicht kritisieren) "fünf reflexhafte Reaktionen" bzw. "Kategorien" von "Reaktionsmustern" auf den islamistischen Axt-Angriff bei Würzburg aufgeschrieben. Der Artikel ist so dicht, dass am Ende sogar das "tl;dr" fehlt.

Überraschender sind die nur vier "unterschiedlichen Motivationen" für Kritik am journalistischen Umgang mit dem, was gerade zwischen Nizza, der Türkei und eben  Unterfranken passiert ist und passiert, die Udo Stiehl, u.a. einer der Floskelwolken-Macher, in seinem Namensblog aufzählt. Eine der Motivationen nennt er "Die interessierten Ungeduldigen". Und

"von Beginn an stand eine Erwartungshaltung gegen eine journalistische Haltung. Ab den ersten Eilmeldungen wurde in den sozialen Medien kritisiert, es gäbe ja noch gar nichts im Fernsehen dazu",

lautet ein Schlüsselsatz. Im zweiten Teil mag der Blogeintrag ein wenig ("Das fängt im Elternhaus und auch in der Schule an ...") so klingen, als müsste ein sozialdemokratischer Landesminister für Energie- und Forstwirtschaft, Europaangelegenheiten und Medien eine Rede zu letzterem Teilressort halten und würde halt wieder einfordern, dass "Medienkompetenz" jetzt aber wirklich auf den Lehrplan gehörte. Das macht aber nichts. Denn genau dafür ist Stiehls Ansatz tatsächlich eine Art Patentrezept.

Anhand der Lücke der zwischen den in Echtzeit immerzu strömenden und aktuell sehr oft sehr dramatischen Ereignissen, Perspektiven darauf und Interpretationen einerseits und fundiert-seriöser journalistischer Berichterstattung darüber andererseits könnte jeder Oberstufenlehrer sofort ins Thema einsteigen. Hausaufgabe: Wie sollten journalistische Medien, deren Nutzer gewöhnt sind, rund um die Uhr neue Inhalte zu finden, diese notwendige Lücke seriös füllen?

[+++] Brennpunkt Ukraine. Die Auseinandersetzungen dort sind aus deutscher Sicht fast so auserzählt wie Griechenland. Zu Ende sind sie leider nicht. Gestern morgen wurde der Journalist Pawel Scheremet in Kiew durch eine Autobombe ermordet:

"Die Explosion ließ einen 50 Zentimeter tiefen Krater zurück. Augenzeugen berichten, Sche­remet habe noch kurz um Hilfe gerufen ..." (TAZ).

Verwirrend wirkt auf die ersten Blicke schon die Nationalität des Opfers, eines "gebürtigen Weißrussen, russischen Staatsbürgers und zuletzt ukrainischen Journalisten" (Standard). Und gerade die Kürze, in der Meldungen aus Regionen, aus denen Meldungen und erst recht ausführliche Berichte sonst längst selten kommen, behandelt werden müssen, kann Probleme bergen:

"Schmerzhaft auch die irreführende Berichterstattung in Deutschland über den Mord an dem Putin-Kritiker ... Die überall verbreitete dpa-Meldung suggeriert unterschwellig, dass hinter dem Anschlag Interessen der ukrainischen Regierung gestanden haben könnten. Die polnischen Medienkollegen zeigen, dass es auch anders geht - sie bringen einen kurzen aber anschaulichen Abriss der Vita, aus dem deutlich wird, dass Pawel gerade vor den Regierungen in Weißrussland und Russland in der Ukraine Schutz gesucht hat",

facebookte Boris Reitschuster. Die DPA-Meldung steht z.B. bei faz.net; das mit der Suggestion ist nicht ganz falsch. Der scharfe Putin-Kritiker Reitschuster beklagte in seinem Facebook-Account kürzlich außerdem, dass "große Teile der deutschen Medien mein Buch 'Putins verdeckter Krieg' konsequent ignorieren" (wohingegen russische Medien dieses Buch überhaupt nicht ignorieren würden; das war dann Anlass dieses Eintrags). Der Ansicht, deutsche Medien würden Putin-Kritik ignorieren, begegnet man ebenfalls selten; um dieses Buch handelt es sich jedenfalls.

[+++] Beim Brennpunkt Türkei kommt niemand hinterher, daher nur Schlaglichter aus medienjournalistischer Sicht: Einen Überblick über bislang 24 geschlossene Fernseh- und Rundfunkstationen, aber auch doch noch sendende, gibt wiederum die TAZ. Interessant findet Korrespondent Jürgen Gottschlich ferner, "wie sich die Zeitungen und Fernsehanstalten der Dogan-Mediengruppe verhalten. Bis zum Putsch war der Dogan-Konzern der größte Medienkonzern, der noch nicht völlig auf Regierungslinie gebracht worden war". Nun jedoch gingen Journalisten der Medienholding, an der Axel Springer wohl nominell wohl noch  beteiligt ist (Altpapier), "erkennbar auf Erdoğan zu".

Ebenfalls in der Türkei blockiert ist natürlich Wikileaks, das gerade 294.548 AKP-E-Mails veröffentlicht hat. "Die Inhalte sind erwartungsgemäß zumeist in Türkisch und noch ist deren Brisanz nicht absehbar" (heise.de). Aber: Ungeheuer groß ist sie zunächst wohl nicht, selbst wenn begleitend von der "dritten Welle im Kampf um die türkische Republik" und der "nächsten Propaganda­schlacht um die Zukunft der Türkei" die Rede ist, wie erneut die TAZ einschätzt:

"Ein großer Teil der nun veröffentlichten Daten stammt von Bürgern, die Partei und Regierung mit Mails bombardieren. Darunter sind persönliche Anliegen, teils herzzerreißende Probleme, es geht um drohende Obdachlosigkeit bis hin zu kriselnden Ehen",

fassen Volkan Agar, Johanna Roth und Martin Kaul zusammen und hoffen auf Fortsetzung:

"Betrachten lässt sich jedoch vor allem der Posteingang ... Interessant dürfte es werden, wenn Wikileaks nachliefern kann. Die politische Sprengkraft steckt im Postausgang der AKP."

Weitere Berichte im Schnelldurchlauf: Was Karen Krüger über die paradoxe Lage der türkischen Medien, die den Putsch scheitern ließen und nun dennoch unter der Reaktion der Erdogan-Regierung leiden, in der FAZ gestern schrieb, steht inzwischen frei online. Täglich im SZ-Feuilleton schreibt Yavuz Baydar, gestern darüber, wie "Journalisten, die finanziell ohnehin schon kaum über die Runden kommen", jetzt "als 'öffentliche Feinde' und 'Parias' beschimpft" würden. Vom Untertauchen der Journalistin Arzu Yildiz berichtet schon wieder die TAZ.

Und Can Dündar, der international wohl bekannteste türkische Journalist, der deutsche Politiker so gründlich wie vergeblich aufmerksam zu machen versuchte, wird nicht müde, weiter zu warnen - aktuell in der Zeit (Erdogans "wahres Ideal ... sei nie die Demokratie gewesen, sondern immer der Islam", fasst die Vorabmeldung zusammen). Wegen eines eindringlichen Sprachbilds, von dem sich nur hoffen lässt, dass es wirklich metaphorisch bleibt, verdient das huffingtonpost.de-Interview mit ihm Aufmerksamkeit:

"Wir können nur hoffen, dass Merkel und andere EU-Politiker jetzt keine Tritthocker unter die Galgen in der Türkei stellen, indem sie sagen 'Der Flüchtlings-Deal ist uns aber äußerst wichtig'."

[+++] An vielen Brennpunkten der Zeit- und Weltgeschichte engagiert ist der Mann, der auch als "Scherzanwalt Dr. Witz" aus Böhmermann-Zusammenhängen bekannter wurde.

Schließlich vertritt Rechtsanwalt Christian Schertz erstens ja tatsächlich den ZDF-Entertainer in den keineswegs beendeten Rechtsstreitigkeiten mit R.T. Erdogan. Zweitens: Falls Sie gestern zu einem der hier (Altpapierkorb) verlinkten Artikel über den Zivilprozess vor dem Krakauer Bezirksgericht gegen den ZDF-Ufa-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" geklickt haben, werden Sie gesehen haben, dass Schertz dabei die Ufa vertritt.

Drittens vertritt Schertz die Produktionsfirma Ziegler-Film, die auf dem Klageweg an einem gerade angelaufenen ARD-Fernsehfilmprojekt gehindert werden soll. Darin geht's um die mit der Stadt Gladbeck assoziierte Amok- und Medien-Amokfahrt von 1988. Einer der sog. Geiselgangster will trotz ersten Misserfolgen weiter, vorm Oberlandesgericht, gegen die Verfilmung klagen. Schertz argumentiert auf der Gegenseite damit, dass "die Täter ... bis heute im wahrsten Sinne des Wortes Personen der Zeitgeschichte" seien (EPD/ evangelisch.de, Süddeutsche).

[+++] Und wenn wir vor Oberlandesgerichten sind: Vor dem in München ging es um ein "Musterbeispiel für gesetzgeberischen Murks", wie Prozessbeobachter Patrick Beuth bei zeit.de schreibt, den das Gericht dann aber nicht entmurksen wollte.

Die Süddeutsche Zeitung gehört zwar nicht zur VG Media, in der Verlage, die mit dem noch recht neuen Leistungsschutzrecht Geld von Google wollen, zusammengeschlossen sind (und zwar bislang von Google nichts bekamen, aber immerhin einen Teil des Geldes, das sie für Gerichtskosten ausgaben, von anderen Seiten einnahmen; vgl. heise.de neulich). Aber Geld einnehmen oder zumindest entsprechende Prozesse führen mag die Süddeutsche schon auch. Aktuell ging es gegen die Berliner Firma Ubermetrics. Das Verfahren bot die erste Chance, die noch von der vorigen Bundesregierung im Gesetzestext offen gelassene Frage, wie groß denn "Kleinste Textausschnitte" sind (Altpapier von 2013), zu klären.

Doch "eine Snippethöchstlänge definiert das OLG nicht", und die Klägerin, also die SZ-Verlag, der Snippets von "235 und 250 Zeichen" für größer als kleinst hielt, mag dazu ebenfalls nichts sagen:

"Welche Snippetlänge der Süddeutsche Verlag für unkritisch hält, wie viel uberMetrics -Konkurrenten zahlen, um eine Lizenz zur Verwendung bestimmter Snippetlängen zu bekommen und ob der Verlag auf der Grundlage des Leistungsschutzrechts auch gegen andere Unternehmen als uberMetrics vorgeht, beantwortet der Anwalt auf Anfrage von Zeit Online nicht. Es handele sich um 'Geschäftsentscheidungen und -geheimnisse unserer Mandantin oder ihr konkretes Verhalten bei Vertragsabschlüssen'. Dazu könne oder wolle sich der Verlag nicht öffentlich äußern."



Altpapierkorb

+++ "Der Polit-Skandal des Sommers" (meedia.de über die rätselhafte Lebenslauf-Fälschung einer SPD-Bundestagsabgeordneten aus Essen) käme medial besser, wenn es weniger Mord, Terror, Präsidentenputsch etc. gäbe. Aber die ebenfalls in Essen ansässige Funke-Mediengruppe hat die Gelegenheit schon mal genutzt, sich en passant zu profilieren. Das berichtet meedia.de ebd.. Falls Sie den Original-Enthüller dieser Sache, das Informer Magazine auch aus Essen ("Seit 20 Jahren greifen wir Themen auf, die die Menschen in unserer Stadt bewegen. Als People- und Personality-Medium"), mal online durchblättern möchten: hier. +++

+++ "Ich glaube, dass Twitter ein segensreiches Instrument ist. Ich glaube, man kann sagen: In Twitter veritas - so wie in Wein. Man kann in dem ersten kurzen Tweet immer herausfinden, wie einer wirklich denkt" (Talkshowgast Claus Strunz gestern abend in Sandra Maischbergers Talkshow zum vielbeachteten Renate-Künast-Tweet, laut sueddeutsche.de). +++ "'In Twitter veritas' ist profunder Quatsch ..." (Altpapier-Autor Frank Lübberding in seiner faz.net-Besprechung). +++

+++ "Ein nicht kleiner Teil der Bevölkerung stellt sich Fragen wie die, die [Marietta] Slomka" im "heute journal"-Interview mit Kanzleramtschef Peter Altmaier am Dienstag "andeutete. Vielleicht ist es sogar der größere" Teil. Und deswegen sollte Slomka solche Fragen nicht stellen, oder so, meint die TAZ im Rahmen bemerkenswert nebulöser Kritik am ZDF. +++

+++Haben sich "Manager eines der größten deutschen Internetunternehmen", die inzwischen bei einem Flugzeugabsturz gestorben sind, "in Venedig einen Koffer mit Schwarzgeld unterjubeln" lassen? Siehe manager-magazin.de. +++ Was um die nie unumstrittene Leipziger Firma Unister geschah und geschieht, würde unter anderen Zeitumständen auch sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jetzt dürfte das Unternehmen verkauft werden, damit "potenzielle Gläubiger" auf ihre Kosten kommen. "Zu denen könnte auch der US-Konzern Google gehören. Der Suchmaschinenkonzern verdiente jahrelang gut an Unister, weil die Leipziger über Google-Anzeigen einen Großteil ihrer Kunden gewannen" (sueddeutsche.de). +++

+++ Der RBB sieht zur Berliner Abgeordnetenhaus-Wahl "keine journalistisch tragfähige Umsetzung" eines TV-Duells, da Umfragen zuvielen Parteien ähnlich gute (bzw. schlechte) Ergebnisse vorhersagen. Das meldet der Tagesspiegel. +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite keilt Rainer Meyer, der im Internet Don Alphonso ist, zugunsten des kürzlich hier erwähnten Kabarettisten Achim Winter (Twitter-Auftritt) aus. Mit Kritik an der Amadeu-Antonio-Stiftung ("fordert im Stil des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, dass der Beitrag aus der Mediathek gelöscht wird") sowie an Zeit Online, Matthias Meisner und anderen, und nicht ohne allerhand Tweets zu zitieren. Meyers Fazit: "Stiftung, 'Zeit Online', Privatleute: reibungslos wird ein Shitstorm gegen Achim Winter losgetreten". +++

+++ Außerdem auf der FAZ-Medienseite: "Die Geschichte des Digitalradios in Deutschland ist keine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen, sondern eine von Murks und Unvermögen, ein an sich sinnvolles System in den Markt zu bringen". Das schreibt Jürgen Bischoff, einer der besten Digitalradio-Experten, der sonst (schon lange) in der TAZ darüber schreibt: "Was das Digitalradio angeht, sollte sich die Politik nicht von den Privatsendern kirre machen lassen. Es ist sinnvoll, auf diese Übertragung zu setzen. Man muss es nur wollen und notfalls erzwingen." +++

+++ Die "Pokémon Go"-AGBs waren hier kürzlich Thema. Nun mahnt der Verbraucherzentrale Bundesverband "das US-Entwicklerstudio Niantic wegen der Nutzungsbedingungen des Spiels" ab (heise.de). +++

+++ Viele deutsche Medienjournalisten mussten just bitterlich weinen (Altpapier-Korb), weil trotz ihrer Beühungen Netflix nicht mehr so doll wächst. "Das größte Problem des Streamingdienstes sind enttäuschte Erwartungen", analysiert nun die SZ. +++

+++ Und ein "Pseudo-Doku-Soap-Show-Richter" (Robert Ide im Tsp.-Checkpoint) wird Bundespräsidentschaftskandidat. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

 

 

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