Überschriftentauglichkeit allein ist auch keine Lösung

Überschriftentauglichkeit allein ist auch keine Lösung
Die Zeitschriftenregale werden etwas leerer (mangels des "Sogs, den es in einem vollen Regal braucht"). Jogi Löws Ehe-Glücks-Geheimnis. Ein Familienroman aus Gütersloh. Ein zwei bis drei Jahrhunderte langes und nun fast abgeschlossenes Kapitel? Comeback des Stockholm-Syndroms? Der Unterschied zwischen Journalismus und Medien. Außerdem: Um prekären Journalismus zu beschreiben, reichen 140 Zeichen.

Wenn eine Redaktion einen "Danke, liebe ...-Redaktion"-Tweet liest,

###extern|twitter|grunerundjahr/status/743419177885700096###

ist das kein gutes Zeichen. Das ist jetzt bewiesen. Der ambitionierteste deutsche Versuch seit ziemlich langem, ein völlig neues gedrucktes Medium herauszubringen, und was die Zukunft betrifft, womöglich für immer, ist nicht gelungen und nun abgeschlossen. Es handelt sich um die im Februar (Altpapier) gestartete Freitags-Zeitschrift mit dem sympathischen Namen frei!. Die Ambition bezog sich wenig bis gar nicht auf Inhaltliches, sondern auf die Menge der Hefte, die gedruckt wurden, anfangs pro Woche eine halbe Million, und hätten verkauft werden müssen. Zur Prognose, dass jetzt erst recht kaum noch ein Verlag auf die Idee kommen dürfte, ein gedrucktes Periodikum in ähnlich hoher Auflage in wöchentlichem Erscheinungsrhythmus herauszubringen, gehört nicht viel.

Der Weg, den Gruner+Jahr gewählt hat, die nicht völlig überraschende frei!-Einstellung der Öffentlichkeit mitzuteilen, besteht im oben eingebundenen Tweet und dem, worauf dieser verlinkt: ein mit einer saisonal trendigen Fußball-Metapher überschriebenen Power-Interview, das G+Js Chief Product Officer meedia.des Georg Altrogge gab. Nach noch einer Danksagung und einem Überblick über sonstige jüngere G+J-Zeitschriften, die den Vorteil haben, längst nicht so oft zu erscheinen wie frei!, oder auch keinen neuen Markennamen zu tragen ("Stern Crime – nach einem Jahr schon nicht mehr wegzudenken ..."), nennt Stephan Schäfer mit sportiver Selbstkritik den Grund:

"Wir haben nicht den Sog erzeugt, den es in einem so vollen Regal braucht."

Dieser Weg hat den Vorteil, dass der Power-Eindruck, den Gruner+Jahrs Pressemitteilungs-Webseite macht, auf der es um viele "Führungsteams" geht, um die neuformierte Content Communication-Abteilung mit dem ulkigen Namen Territory, und um Awards mit noch klingenderen Namen, nicht getrübt wird. Via meedia.de melden es interessierte Zeitungen wie die SZ und das Hamburger Abendblatt knapp.

Noch hat kein Sog frei-magazin.de weggesogen. Klicken Sie noch mal dahin. Um Fußball geht's auch im noch ungetrübten Editorial von Redaktionsleiterin Annette Utermark, und auf der ersten Doppelseite der aktuellen Ausgabe sind Daniela und Jogi Löw zu sehen, obschon Daniela Löw "ungern im Mittelpunkt" steht, wie im Text ("Das Geheimnis ihres Ehe-Glücks") daneben sich beim Online-Durchblättern lesen lässt.

Eine große Redaktion hat frei! nicht gehabt. Der laut Online-Impressum inzwischen einzige Chefredakteur Philipp Jessen, der auch stern.de leitet, hat Urlaub und den frei!-Credit bereits von seinem Twitter-Account entfernt (nicht aber den zeitlosenLeitspruch "nichts ist tiefer als die oberfläche").

[+++] Wenn wir gerade bei Gruner+Jahr waren: Es gibt auch Neues von der obersten Chefin dieses traditionsreichen Verlags. Damit nach Gütersloh.

"Im Unterschied zu Friede Springer scheint Liz Mohn den Fortbestand von Bertelsmann als Familienunternehmen gesichert zu haben",

lautet einer der Schlüsselsätze im Familienroman, den Holger Steltzner fürs FAZ-Wirtschaftsressort verfasst hat und der auch bereits frei online steht. "Anders als ursprünglich vorgesehen und von der Medienbranche erwartet" wird Liz Mohn, "die fit, gesund, international gut vernetzt und unternehmungslustig ist", auch im vierten Vierteljahrhundert, also über ihren 75. Geburtstag am kommenden Dienstag hinaus, Familienunternehmens-Chefin bleiben.

"Die früher in der Geschäftsordnung vorgesehene Altersgrenze wurde Anfang 2014 geräuschlos aufgehoben, wie diese Zeitung jetzt erfahren hat",

ist die harte News des Bertelsmann-freundlichen Artikels. Ansonsten geht es auch darum, wie die Mohns sich über profitable neue Geschäftsfelder ihres Unternehmens wie etwa den wieder aufgenommenen Musikrechtehandel freuen. Wie Manager sagen würden: Gut aufgestellt ist Bertelsmann also. Zumal ...

[+++] "Der Journalismus, wie er die vergangenen 200 bis 300 Jahre existiert hat, steht vor seinem Ende."

So wird nun Evgeny Morozov, einer der skeptischsten Medienbeobachter und, wie der Standard ihn nennt, "Internetkritiker" von einem der laufend laufenden Medienkongresse zitiert. Was sich von seiner Keynoten beim GEN-Summit in Wien (wobei GEN für Global Editors Network steht) bleiben könnte: das in letzten Jahren verblasste, in seinem Ursprung schon vergessene Bild "Stockholm-Syndrom":

"Medien werden weiter an Bedeutung verlieren und ihre Macht einbüßen, prognostiziert er. Verlegern und Journalisten wirft Morozov vor, sich zu wenig damit auseinanderzusetzen, wie die großen Technologieunternehmen wie Google und Facebook mit Daten umgehen. Auch in der Berichterstattung komme diese neue Machtkonzentration zu wenig vor. Anstatt die Gefahr des Datenmissbrauchs zu hinterfragen und immer wieder aufzuzeigen, arbeiten Verleger mit diesen Playern zusammen ..."

Dass Medien nicht per se dasselbe sind wie Journalismus, auch wenn Journalisten beide Begriffe gerne synonym verwenden, kam hier im Altpapier anhand der aktuellen Arlt/ Storz-Studie auch schon öfter vor. Der Medienkonzern Bertelsmann fährt z.B. gut damit, dass seine Firmen RTL und auch Gruner+Jahr zweifellos Medien machen, ohne sich mit Journalismus im engeren Sinne sehr intensiv zu beschäftigen.

[+++] Falls Sie wissen wollen, was auf dem gestern hier erwähnten Berliner Medienkongress "Zeitung Digital 2016", auf dem Mathias Müller von Blumencron das stockholmsyndrom-affine Bild vom Sich-mit-Facebook-ins-Bett-Legen verwandte:

"Beim Blick in die eigene Zukunft schauen die Medienleute auch über den Tellerrand ihrer Branche",

berichtet die Frankfurter Rundschau und nennt dann die Referenten Rüdiger Grube von der Deutschen Bahn sowie einen Vertreter von VW. Die einzuladen war zweifellos eine gute Idee der Kongressveranstalter vom Zeitungsverlegerverband. Unternehmen, von denen sich ähnlich gut lernen lässt, wie man viele Dinge besser nicht machen sollte, gibt es in Deutschland sonst kaum.

Wobei natürlich auch bzw. daneben sein kann , dass die Verleger sie eher eingeladen haben, weil diese beiden Unternehmen kräftig werben und die deutschen Zeitungsverleger über sehr viele andere Ideen, digital Geld zu verdienen, als halt Onlinewerbung bekanntlich nicht verfügen. Vor diesem Hintergrund ist es für die Verleger eine gute Nachricht, dass das spektakulärste Ergebnis der gestrigen Sitzung der für Medienpolitik zuständigen Bundesländer-Vertreter in Berlin lautet, dass ein "Verbot von Adblockern" geprüft werden soll (Tagesspiegel/ EPD).

Falls Sie lieber konkrete gute Ratschläge wünschen, noch mal kurz nach Wien:

"'Investiert Zeit in gute Überschriften!' Blendle habe ein eigenes Redaktionsteam für schlechte Headlines",

zitiert wiederum der Standard den Gründer des Presseartikel-Onlinekiosks Blendle, Marten Blankesteijn. Für flüchtige Leser: Dieses Redaktionsteam verfasst natürlich keine schlechten Überschriften, sondern verbessert solche aus gedruckten Medien, die ihre Inhalte zu Blendle geben  - wobei das "besser" sich auf den Klick- also Kaufanreiz bezieht und unter anderen Fragestellungen ebenfalls diskutiert werden kann.

Überschriftentauglichkeit allein hilft Medien, aber nicht unbedingt dem Journalismus. Das arbeitet Stefan Niggemeier (uebermedien.de) aktuell am Satz "Zuwanderer sind nicht krimineller als Deutsche" aus einer DPA-Meldung heraus, der zwei- bis dreizeilig in Zeitungs-Überschriften passt und dafür oft verwendet wurde. Er stimme inhaltlich aber bloß bedingt.

"Ist das die Nachrichtenroutine, in der ein korrektes Zitat erst einmal ein korrektes Zitat ist, auch wenn es inhaltlich nicht korrekt ist? Oder spielt dabei ein Wunsch der Journalisten eine Rolle, solche eine positive Nachricht zu verbreiten? Gegen den verbreiteten Verdacht, dass Journalisten mit den Regierenden unter einer Decke stecken, hilft das alles jedenfalls nicht."

[+++] Inwieweit der nun also wirklich ehemalige Die Welt-Redakteur Günther Lachmann unter einer Decke mit der AfD steckte (Altpapier aus dem Februar), wurde gestern einvernehmlich vor dem Arbeitsgericht Berlin geklärt. Darüber berichten der Tagesspiegel und ebenfalls uebermedien.de, das auch verwendet, dass Lachmann

"in etlichen Online-Texten der 'Welt' nachträglich Links zu einer Seite namens geolitico.de eingefügt"

habe, die "offiziell von Lachmanns Ehefrau betrieben" wird und zum ziemlich großen Spektrum eher rechts angesiedelter Medien gehört.

"Anfang des Jahres kaufte ich in meinem Stamm-Kiosk die 'Junge Freiheit' – zur Überraschung der Besitzerin, die mir ungefragt versicherte, sie biete nur deshalb dieses rechte Blatt in ihrem Laden an, weil das zur Pressefreiheit eben auch dazugehöre",

leitet Ulrike Simon ihre RND-Medienkolumne für die Madsack-Zeitungen ein, um dann dieses Spektrum weiter zu beleuchten.


Altpapierkorb

+++ "Studie" ist ein Begriff wie etwa "Institut" und auch "Journalist": Er, der Begriff, ist nicht geschützt, kann von jedem nach Belieben verwendet werden, und strahlt auf relativ viele Zeitgenossen noch eine Form Seriosität aus. Einerseits sinkt gewiss die Zahl solcher Zeitgenossen ständig, aus Gründen, andererseits steigt die Anzahl der Medien, die in schnellem Takt weitermelden, was schon mal gemeldet wurde, und vor allem überschriftentauglich ticken. Daher wird oft viel aus Studien zitiert. Zu denen, die die Talkshow-Falschaussagen-Studie der Journalistenschule (siehe Altpapierkorb gestern und Altpapier vorgestern zzgl. Diskussion darunter) nicht besonders aussagekräftig finden, gehört nun auch das dezidiert linke Neue Deutschland. +++

+++ Um etwas über prekären Journalismus auszusagen, reichen 140 Zeichen locker aus, beweist dieser  immer noch rasant weiter-gelikete Tweet der Altpapier-Autorin Juliane Wiedemeier. +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite: ein Gastbeitrag von Andreas Gross ("war von 2008 bis Anfang 2016 Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Europarat, Berichterstatter für Russland (2010–2015) und leitete die Untersuchung zum Tod von Sergei Magnizki" zum von Arte abgesetzten Dokumentarfilm "Der Fall Magnizki" (siehe zuletzt dieser Altpapierkorb): "Wer die uns aus verschiedenen Quellen zugekommenen Dokumente kennt, merkt, dass [Filmautor Andrej] Nekrassow manipuliert und Sergei Magnizki ein weiteres Mal Unrecht antut. Umso besser, dass diese Manipulation nicht auf unseren öffentlichen TV-Programmen weiterverbreitet wurde". Mit "uns" meint er außerdem Marieluise Beck. +++

+++ Günther Jauch und Dorothea Sihler-Jauch haben vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine presserechtliche Niederlage erlitten. "Die Richter drückten es etwas höflicher aus, meinten aber recht deutlich, dass Spitzenprominente, die ansonsten öffentlich zugängliche Sehenswürdigkeiten mit Flatterband absperrten, sich Berichte über die dahinter veranstalteten Festivitäten gefallen lassen müssten" (Tagesspiegel). +++ "Der Fall ist auf einem sehr schmalen Grat zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz angesiedelt. Wären die Fotos intimer und die mediale Zudringlichkeit frivoler gewesen – die Gerichte hätten sich auf die Seite des Moderators geschlagen." (SZ-Meinungsseite). +++

+++ "Ich muss mir den Vorwurf machen, nicht rechtzeitig erkannt zu haben, dass der Termin als Provokation angelegt war": Da hat Markus Ehrenberg vom Tagesspiegel hat Hajo Seppelt zum Interview interviewt, dass er einem staatlich russischen Fernsehsender gab (siehe z.B. FR). +++

+++ Wer 105 Minuten Zeit hat, kann sich hier (wwwagner.tv) den "Mainzer Medien-Disput Berlin" anhören, bei dem Wolfgang Herles, der auch im oben verlinkten Ulrike-Simon-Artikel auftritt, u.a. mit Katrin Gottschalk von der TAZ, Anne Wizorek und Diskussionsleiter Thomas Leif diskutierte. Eine Diskussions-Besprechung gibts bei pro-medienmagazin.de, einem hier nebenan "evangelikal" genannten Medienmagazin ... +++

+++ "Für auf Privatsphäre bedachte Nutzer ist das wohl ein Albtraum", aber "für Marketer ... das Paradies": was Facebook jetzt wieder angekündigt hat  (t3n.de; siehe auch futurezone.at). +++

+++ Rami Sadan, "Eigentümer einer Werbeagentur und enger Vertrauter von Regierungschef Benjamin Netanjahu, soll neuer Nachrichtenchef beim kommerziellen Fernsehsender Channel 10" in Israel werden. Das sei "eine schlechte Nachricht für die innerisraelische Koexistenz von Juden orientalischer Abstammung und Aschkenasen, den Juden mit europäischen Wurzeln" (TAZ). +++

+++ "Wie praktisch die Netzallianz", vollständig: "Netzallianz Digitales Deutschland", "für die Telekom-Lobby ist: Hinter verschlossenen Türen hat man sich einen direkten Draht ins Verkehrsministerium gelegt und tauscht beispielsweise Ausbauzusagen gegen die Netzneutralität ein", will netzpolitik.org anhand eines Fototermins der Alliierten mit dem U.a.-Infrastrukturminister Alexander Dobrindt zeigen. +++

+++ Aus dem FAZ-Feuilleton gestern inzwischen frei online: Patrick Bahners' Analyse der Hamburger Erdogan-vs.-Böhmermann-Urteilsbegründung. +++

+++ Den "Begriff 'Zensur' ... sollten Journalisten eigentlich für die Fälle reservieren, in denen er tatsächlich zutrifft", sagte ARD-"EM-Teamchef" Jörg Schönenborn der SZ. +++ Groß auf der SZ-Medienseite: ein Porträt des vom ORF gekommenen neuen Fernsehdirektors, der "aber zum Beispiel auch für das digitale Radio BR Heimat zuständig" ist, nämlich "für Kultur, Unterhaltung, Heimat, Wissenschaft, Bildung und Geschichte" überhaupt, Reinhard Scolik. +++

+++ Dann natürlich noch der "Mustread" aus dem SZ-Magazin, den Kai Diekmann empfiehlt ... +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.

 

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