Spagat auf dem Scheideweg

Spagat auf dem Scheideweg
Aufrüttelnde Vorträge über "Überwachungskatastrophen", anfeuernd optimistische über "digitale Herzschrittmacher", und wer das alles sponsort. Geht die Privatsphäre gerade für immer verloren? Zensiert Facebook auf Sultansweisung bereits auch in Deutschland? Außerdem: eine Übung zum Pressefreiheits-Tag, ein attraktives Eklätchen bei Axel Springer, und was macht eigentlich Jan Böhmermann?

Irgendein Tag ist ja immer, aber der heutige, stets am 3. Mai begangene Internationale Tag der Pressefreiheit könnte in Deutschland einen Tick mehr durchdringen als übliche Thementage es tun.

Wenn, hängt das vermutlich mit dem Staat zusammen, auf den die aktuelle deutsche Innen- und daher auch Außenpolitik ganz besonders baut, sowie mit einem jungen Fernsehsatiriker, der kürzlich mit anfechtbaren Klamauk-Mitteln den breiten deutschen Blick auf die Medienfreiheit in der Türkei lenkte. (Dieser Fernsehsatiriker taucht heute nach kurzer Karenzzeit wieder im Altpapierkorb auf, schließlich laufen neue und alte Shows in Kürze wieder an und müssen beworben werden ...).

Ganz besonders dem Thema widmet sich heute die TAZ, und zwar als zweisprachige Sonderausgabe (Titelseite als PDF). "Denn es sind die türkischen KollegInnen, die den Preis für unseren vermeintlichen Frieden bezahlen", wie es dort im Editorial heißt. Und auch wenn es womöglich schon etwas lustigere Titelseiten-Karikaturen gegeben hat, freilich kaum mit hübscheren Gesichtsausdrücken, ist das Ganze lesenswert.

U.a. erzählt Bülent Mumay, "Leiter von Hürriyet Online, der reichweitenstärksten Nachrichtenseite des Landes", wie er vor der letzten Neuwahl kaltgestellt wurde. Und Ragıp Duran, Türkei-Korrespondent der Libération, berichtet von der Pressefreiheit in der Türkei als einem auch "historisch gewachsenen Problem", da bereits tief im 19. Jahrhundert die Journalisten der ersten türkischen Tageszeitung "vom Sultan bezahlt" wurden.

Falls Ihnen das doch zu fern liegt: Eine aufschlussreichen Artikel darüber, wie die Böhmermann-Sache hätte gelaufen sein können, wenn die Verbreitungswege noch etwas weiter globalisiert wären, erschien bei Telepolis. Da schildert Peter Nowak, wie Facebook offenbar auf dem - deutschen - Account des Referenten für Gewerkschaftsfragen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung herumzensierte:

"'Wir haben etwas entfernt, was Du gepostet hast' oder 'Konto gesperrt' - solche Meldungen hat ... Florian Wilde immer wieder über seinem  Facebook-Account erhalten. Die Gründe sind beliebig. Allerdings ist auffällig, dass die Anträge von der türkischen Justiz kommen und die von ihr inkriminierten Texte und Bilder in Deutschland  nicht strafrechtlich relevant sind. So kassierte Wilde eine siebentägige Sperre bei Facebook, weil er Fotos aus einer Dokumentation über eine türkeikritische Demonstration in Hamburg gepostet hat. Dabei habe er nach vorherigen Sperren schon darauf geachtet, dass Symbole der kurdischen Arbeiterpartei PKK oder Forderungen nach der Freilassung von deren Vorsitzenden Öcalan nicht unter dem geposteten Material waren. Das waren schließlich die Gründe für die vorigen Sperren. Das macht auch deutlich, wie disziplinierend sie wirken ..."

Also, "Google und Facebook dürfen nicht die Welt kontrollieren" (sueddeutsche.de-Überschrift). So etwas schreibt Evgeny Morozov bekanntlich ziemlich oft. So etwas gehört zum Einsatz für Medienfreiheit aber unmittelbar dazu.

Gewiss würde Facebook innerhalb der EU anders zensieren, wenn die Regierungen dort andere Schwerpunkte setzen würden. Aber sie setzen zurzeit ja ungefähr diese. Und dort, wo Facebook selbst am ehesten kontrolliert wird, ist zwar 2015, als "Reaktion auf Snowdens Enthüllungen"  der "USA Freedom Act" verabschiedet worden. Aber der ist in der Praxis
auch "ziemlich egal"
, wie in einem weiteren aktuellen Medienfreiheits-Erklär-Text wiederum die TAZ kommentiert.

[+++] Damit und mit ihrem aus Freiheitsgründen gestern nur zugeschalteten Stargast Ed Snowden zur Republica, die gerade wieder Berlin rockt. Um ein bisschen Atmo zu schnuppern:

"Mehr als 8000 Gäste, 400 Stunden Programm, 770 Sprecherinnen und Sprecher aus 60 Ländern, 17 Bühnen – und 35 Minuten Verspätung: Mit wummernden Bässen und sphärischen Bild-Klang-Fetzen in einer mehr als überfüllten Halle ist am Montag in Berlin die zehnte re:publica eröffnet worden, die größte Digitalkonferenz Europas, die dieses Jahr unter dem Motto Selbstreflexion steht, aber auch einen Blick in die digitale Zukunft werfen soll" (BLZ/ FR).

Und

"alle benutzen ihre Smartphones dermaßen exzessiv, dass man sich fragt, ob überhaupt noch jemand etwas von den Vorträgen mitbekommt" (Tagesspiegel-Blog).

Der Tenor der meistbeachteten Vorträge geht in die pessimistische Richtung, die auch in diesem Altpapier schon anklang:

"Auf die Frage von Blogger Richard Gutjahr" (siehe Altpapier gestern), "wer eine größere Bedrohung für die Privatsphäre darstelle, das FBI, Google, Facebook oder die Regierungen, antwortete Snowden: Der Missbrauch von Daten durch Unternehmen sei üblicher, aber jener durch Regierung und ihre Behörden sei gefährlicher" (Alexandra Föderl-Schmid, Standard).

Ja,

"wer glaube, 'nichts zu verbergen zu haben', habe höchstwahrscheinlich auch nichts zu sagen. Wenn die Privatsphäre jetzt nicht gesichert werde, sei sie vermutlich auf immer für die Gesellschaft verloren",

zitiert heise.de Snowden.

"'Alles spricht dagegen, dass wir es schaffen, die Überwachungskatastrophe zu überwinden', sagte er. 'Trotzdem möchte ich versuchen, optimistisch zu bleiben",

sind Kernaussagen der Sascha-Lobo-Ansprache vom Abend, die noch in den schon oben verlinkten BLZ-Überblick gemixt wurden.

"Facebook und das Internet als Ganzes seien heute ein 'Überwachungsorganismus', da waren sich die beiden", Eben Moglen und Mishi Choudhary, "einig. 'Wollen wir wirklich noch 3,5 Milliarden weitere Menschen an diesen Überwachungsorganismus anschließen?', fragt Choudhary. Aber kann man den Internetriesen überhaupt übelnehmen, dass sie Geld verdienen? Schon der Gedanke führe in die falsche Richtung, sagt Moglen: "Wir bauen die perfekte Tyrannei, und wir glauben, dass wir nur die Effizienz von Werbung steigern",

fasst Christian Stöcker bei SPON eine weitere dieser Aufrüttel-Ansprachen zusammen, bevor er seinen und seiner Leser Blick nach draußen schweifen lässt:

"Auf dem Außengelände der re:publica, ist vom revolutionären Furor der Eröffnungsredner denn auch wenig zu spüren. Dort präsentieren sich große Unternehmen, es wird für Start-ups geworben und über Geschäfte geredet".

Noch mal Hendrik Lehmann im verlinkten Tsp.-Blog:

"...  IBM, Microsoft und Daimler, aber auch die Deutsche Bahn, die Telekom, Google und Vodafone, fährt einigen Zuschauern ein Grinsen über das Gesicht. Soso, Netzneutralität. Überwachungskritik, aha! Der Spagat zwischen den mahnend hackenden Netzaktivisten und der versammelten deutschen New Economy wird dieses Jahr wohl noch schwieriger."

In so einer Atmosphäre ist dann auch kein großes Wunder, wenn Berlins Regierender Bürgermeister Müller, bereits im Wahlkampf, seiner Stadt "'goldene Jahrzehnte' und Zehntausende neue Arbeitsplätze" als "Herzschrittmacher des digitalen Wandels" voraussagt (auch Tsp., anderer Artikel).

"Es ist schön, dass es ein so großes Bedürfnis nach Information und Austausch über digitale Themen gibt. Man wünschte sich nur, Information und Austausch erreichten irgendwann auch einmal die höheren politischen Entscheidungsebenen. Dann könnte es einem wohler sein an diesem Scheideweg, an dem wir gerade stehen" (Andrea Diener, faz.net).

Wobei zur digitalen Gegenwart eben auch gehört, dass Ebenen aller Art unverbunden nebeneinander stehen bzw. die Displays runterrauschen können, ohne je in irgendeinen Austausch zu geraten.

[+++] Sind die #ttipleaks, also die öffentlich gemachten, bislang weniger bekannten Verhandlungsstände zum supergeheimen EU-USA-Freihandelsabkommen bzw. "Wirtschaftsgrundgesetz der Superlative" (Heribert Prantl, SZ) der Star-Scoop der diesjährigen Republica? "Enthalten sie zwar viele Details, aber kaum echte Neuigkeiten" und echte Skandale (NZZ), weil Enthüllungen halt auch Produkte sind, die verkauft werden müssen und derzeit durch das Suffix -leaks noch ganz gut verkauft werden können?

Noch so ein weites Feld, zu dem ein weiterer Blick nach Österreich lohnt:

"... Der Leak zum in Österreich sehr umstrittene Handelsabkommen TTIP hat auch ein eigenes Kapitel zur Telekom-Regulierung ans Tageslicht gebracht",

berichtet Barbara Wimmer (futurezone.at) mit Bezug auf eine European Digital Rights Initiative-Analyse (siehe auch netzpolitik.org). Wimmer weiter:

"Darin heißt es, dass die zugesicherte Vertraulichkeit von elektronischer Kommunikation und dem dazugehörenden Datenaufkommen nur dann sichergestellt werden kann, wenn es dadurch kein Handelshindernis geben wird. Aber was ist eigentlich ein solches 'Handelshindernis'? Kann etwa die gerade beschlossene EU-Datenschutzreform oder das Grundrecht auf Privatsphäre als so eines gesehen werden?"


Altpapierkorb

+++ Falls wer zum Internationalen Tag der Pressefreiheit sich kurz der nicht immer einfachen Übung unterziehen will, Satire oder Karikaturen zu verteidigen, die er/ sie vielleicht nicht gut findet - Alice Schwarzer hat etwas unter der Überschrift "Was ist Satire bzw. Kunst?" vorbereitet: "Ja, die Cover von Focus und Süddeutsche Zeitung zur Silvesternacht waren fragwürdig. Und nein, das Cover vom Falter ist nicht rassistisch, sondern Kunst. Aber was ist das Kriterium für Satire bzw. Kunst?" Damit verteidigt sie den "linken Falter" gegen die "selbstverständlich richtig linken an.schläge und Missys ...", "die Hüterinnen des Anti-Rassismus". Es geht also wieder um was Österreichisches (siehe auch Standard). +++

+++ "... Nach dem Wirbel zog sich Böhmermann aus der Öffentlichkeit zurück. Er sagte seine Sendungen ab und machte sich auch online rar, was man von ihm nicht gewohnt war. Am 12. Mai will er mit seinem "Neo Magazin Royale" (ZDF/ZDFneo) auf den Bildschirm zurückkehren". Böhmi facebookt und twittert also schon mal wieder (auch Standard/ APA). +++ Noch viel besser als mit dem Suffix -leaks lässt sich, pardon, jeder Scheiß verkaufen, wenn William Cohns Stimme ihn performt. Zurzeit verkauft er u.v.a. "augenzwinkernde Alliterationen" (horizont.net), wie Böhmis und Olli Schulz' neue Radioshow künftig heißen könnte. +++

+++ Kein Eklat, denn "Marc Thomas Spahl, der Direktor der Axel-Springer-Akademie, zeigte Verständnis für von Rönnes Reaktion: 'Wir finden die selbstkritische Haltung, die dieser Entscheidung zugrunde liegt, vorbildlich. Unabhängig von der heutigen Haltung der Autorin bleibt ihre Arbeit auszeichnungswürdig'", doch ein nicht nur für welt.de, auch für Nicht-Springer-Medien attraktives Eklätchen, um die Axel-Springer-Preis-Verleihung (nicht zu verwechseln mit dem Axel-Springer-Award!) aufzupeppen: Welt-Autorin Ronja von Rönnes Weigerung, den ihr zugedachten anzunehmen. +++

+++ EU-Kommissar Günther Oettinger war auch auf der Republica und hat die Erwartungen erfüllt (Tagesspiegel, mobilegeeks.de). +++

+++ Mehr Transparenz und das Inkaufnehmen von Einschaltquotenverlusten könnten ARD und ZDF einen "Gewinn an innerer und äußerer Glaubwürdigkeit" bringen, glaubt Alt-Grimmechef Uwe Kammann (EPD/ evangelisch.de). +++

+++ ProSiebenSat.1 hat einen neuen "Anwärter auf den Euphemismus des Jahres im Rennen", aber nicht mehr den Youtube-Konkurrenten bzw. Online-Fernsehsender namens Myvideo (dwdl.de). +++

+++ Die SZ-Medienseite bespricht natürlich eine US-amerikanische Serie ("Special Correspondents", "abrufbar bei Netflix"), lobt den Hessischen Rundfunk, "der es verglichen mit den anderen Sendeanstalten bemerkenswert oft schafft, das bewährte Muster von Krimis und Problemfilmen zu durchbrechen", für seinen Mittwochs-Film "Kaltfront", und plaudert mit Oliver Berben und Sascha Schwingel ("sind so aufgeregt, dass sie im Gespräch bei einem Berliner Medien-Schnitzelwirt viel durcheinanderreden"), die gerade Ferdinand von Schirachs Theaterstück "Terror" für die ARD verfilmen.  +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite protokolliert Oliver Jungen die Kölner Veranstaltung "Serien-Summit" ("Den Abschluss des Serien-Gipfels bildet die schon wie rituell wirkende Diskussionsrunde zur Frage, warum ausgerechnet die deutsche Serie so schlecht ist, dass sie international nicht mithalten kann. Dort sitzt mit Gebhard Henke, dem Fiktions-Chef des WDR, der einzige Verteidiger hiesiger Rumpelfiktion, der dieses Mal ausnahmsweise nicht den 'Tatort'  vor sich hertrug, sondern die 'Breitenförderung' lobte ...")  +++ Außerdem geht's um die "Fotos für die Pressefreiheit 2016" der Reporter ohne Grenzen sowie um ein französisches TV-Interview der "neuen Starjournalistin, die kein Feigenblatt vor den Mund nimmt", Léa Salamé, mit Präsident François Hollande. +++ Und einen kenntnisreichen Uwe-Friedrichsen-Nachruf ("Kriminalfilm, Komödie, Kinderprogramm – Friedrichsen wirkte zwei Jahre lang an der deutschen Ausgabe der 'Sesamstraße' mit – markierten aber gerade einmal die Hälfte seines Schaffens") gibt es.  +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

 

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