Wie Effe

Wie Effe
Ein griechischer Mittelfinger und seine Folgen. Was den Economist von so ziemlich jeder deutschen Zeitung unterscheidet. Ein Jahr Amazon Prime. Was die DDR für die Sozialisten der Zukunft drehen ließ. Jetzt rappt er auch noch.

Wenn es ein Thema gibt, das gut klickt, dann sollte man es bedienen. Ganz egal, ob vom Mittelfinger, der in aller Munde ist, gestern hier wie auch überall sonst schon mehr als genug die Rede war.

Für alle, die die vergangenen 24 Stunden in einem Erdloch verbracht haben: Yanis Varoufakis, The Walking Debt, hat vor zwei Jahren bei einer Veranstaltung den Effenberg gemacht, was nicht bedeutet, dass er damals noch genug Haare hatte, um sich einen Tiger hineinzurasieren, sondern es geht um die Sache mit dem Finger. Günther Jauch hat sie Szene in seiner Sendung am Sonntagabend gezeigt und so getan, als habe sich der Vorfall erst kürzlich ereignet. Tenor dabei: Stinkefinger-Zeigen unter Freunden geht gar nicht.

Der zugeschaltete Varoufakis stritt das Video als „doctored“ ab, was die Macher von „Günther Jauch“ im Laufe des gestrigen Tages zu dieser Pressemitteilung bewegte:

„Der am Sonntagabend in der Sendung GÜNTHER JAUCH gezeigte Videoausschnitt von einem Auftritt des heutigen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis beim Subversive Festival in Zagreb am 15. Mai 2013 enthält nach Aussage verschiedener Medienexperten und Netzforensiker keinerlei Hinweis auf eine Manipulation oder Fälschung und könne als authentisch eingestuft werden.“

Alleine an dem Begriff "Netzforensiker" könnte man sich jetzt die nächsten zwei Stunden erfreuen, wäre da nicht die klitzekleine Tatsache, dass Kritiker der Jauch-Sendung wie Stefan Niggemeier oder Michalis Pantelouris niemals ernsthaft behauptet hatten, dass man dem griechischen Finanzminister einen falschen Finger auf die Hand montiert hätte. Vielmehr ging es darum, dass das Zitat verfälschend zusammengeschnitten und zudem nicht deutlich genug gemacht wurde, dass die Szene zwei Jahre alt ist und damit aus einer Prä-Minister-Zeit stammt. Was übrigens auch Varoufakis meinte, als er sagte, das Video sei „doctored“, wie wir seit diesem Tweet von gestern Abend wissen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich nun drei Arten der Nachberichterstattung unterscheiden.

1. Die Mittelfinger-Analytiker

„Besonders beliebt ist der Stinkefinger als Ventil für überschäumende Emotionen in Fußballkreisen. Effenbergs Entgleisung gegenüber den deutschen Fans bei der WM 1994 war da nur der Auftakt einer regelrechten Tradition. Kaum ein Rasenstar, der im Laufe seiner Karriere seinen Unmut nicht gelegentlich mit Hilfe eines Mittelfingers kundgetan hätte. Der ehemalige englische Nationalspieler David Beckham bemühte diese Geste ebenso wie Thomas Helmer und Jens Lehmann. Unübersichtlich wird es in popkulturellen Kreisen, wie das Beispiel von Miley Cyrus zeigt.  Denn hier steht der gereckte Mittelfinger nicht immer für eine Beleidigung, zumindest nicht für eine, die dem Gegenüber gilt. Er soll vielmehr Ausdruck von Unangepasstheit sein, von Rebellion und Freiheitsdrang.“

Tanja Brandes schreibt hier zur Kulturgeschichte des ausgestreckten Fingers in der Berliner Zeitung, während Gerd Höhler im Tagesspiegel daran erinnert, dass wir aktuell nicht das erste Mal einen Fall von Fingerzeig beobachten, in dem ein deutsches Medium Griechenland-Hass zu schüren versucht.

„Pikant ist der Vorgang aus griechischer Sicht, weil ein solcher ,Stinkefinger’ schon zu Beginn der Krise für viel Aufregung sorgte. Am 22. Februar 2010 erschien das deutsche Nachrichtenmagazin ,Focus’ mit einem Titelbild, das eine Statue der Aphrodite zeigte. Die griechische Liebesgöttin ballt die Faust und streckt den Mittelfinger aus – eine Geste, die wohl sagen sollte: Europa kann mich mal!“

2. Die Varoufakis-Kritiker

In der FAZ vergibt man so eine Vorlage natürlich nicht, um mal wieder auf die Unfähigkeit dieser linksradikalen griechischen Hanseln hinzuweisen.

„Mit der Wirkungsforschung politischer Gesten und symbolischer Handlungen, mit der Wirkung politischer Rede gar scheint sich der frühere Wirtschaftsprofessor Varoufakis noch nicht beschäftigt zu haben. Spieletheoretiker mögen an seinen Auftritten ihre Freude haben und den paneuropäischen Rabatz, den er veranstaltet, dahingehend deuten, dass er so für sein überschuldetes Land am meisten erreiche. Doch scheint seine Penetranz, geübt im Verein mit Ministerpräsident Alexis Tsipras und dem gefährlich verrückt wirkenden Verteidigungsminister Panos Kammenos, für immer größeren Widerstand in der EU zu sorgen. Die Herren scheinen nicht zu verstehen, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Politik, die man aus der Opposition heraus fordert, und jener, die man in der Regierung verantwortet“,

schreibt Michael Hanfeld nicht nur auf der Medienseite, sondern sogar in diesem Internet verfügbar.

Nun könnte man einwenden, dass Varoufakis durchaus einen Unterschied zwischen Opposition und Regierung erkennt, sonst hätte er als Finanzminister wohl nicht so angefasst auf die Bilder aus der Zeit vor dem Amt reagiert. Aber Argumente erscheinen an dieser Stelle vergebliche Liebesmüh, zumal Günter Bannas auf Seite 4 der FAZ sehr deutlich macht, dass sich die wirklich wichtigen Menschen mit solchen Petitessen eh nicht abgehen. 

„Nicht einmal die – von Varoufakis bestrittene, auf einem bei einem Vortrag in Zagreb im Jahr 2013 aufgenommenen Video zu sehende – ,Stinkefinger’-Aktion des Griechen führte zu regierungsamtlichen Erregungen. Es gibt Wichtigeres.“

Zum Beispiel, noch einmal das eigene Graecum aus dem Schrank zu holen, abzustauben und dann „Giannis“ statt „Yanis“ zu schreiben. Ist doch klar, dass die FAZ besser weiß, wie man Γιάνης in lateinische Schrift bringt als, sagen wir, der Namensträger selbst.

3. Die Jauch-Verächter

Am anderen Ende des politischen Spektrums hat man auch Erfahrung mit alten Sprachen sowie selbstredend mehr Verständnis für wirtschaftsprofessorale Entgleisungen. Hier dient vielmehr die verzerrende Recherche-Leistung der Jauch-Redaktion als Gelegenheit, auf die Quatschigkeit der Quatschbuden an sich einzuschlagen.

„,Der Euro-Schreck stellt sich’ lautete der Titel der Sendung. Erschienen war dann aber blöderweise ein argumentativ gut aufgestellter Varoufakis, der um Respekt und Geduld für seine Regierung sowie Empathie für die Nöte der Griechen warb. Damit war das Sendungskonzept von vornherein geschrottet. Anders als Söder, Jauch oder der Bild-Autor Ernst Elitz war der Grieche gut vorbereitet - was nicht wundert, schließlich muss er die Syriza-Politik mehrfach täglich erläutern. Richtig lustig wurde es, als CSU-Söder Varoufakis genau das vorhielt. Ein Politiker, der in einem Live-Interview einem anderen Politiker vorhält, sich interviewen zu lassen? Irre. (...) Wo Stolz und Vorurteil erwünscht sind, vergessen Politiker die Grenze zwischen Interview und Verhör.“

Sie lasen Anja Meier in der taz.

Noch einen Schritt weiter geht Holm Friebe bei Carta, dessen Ärger nicht bei Markus Söder endet.

„In den missmutig grummelnden Reaktionen auf Varoufakis schwimmt das ekeligste Fett Deutschlands einmal kurz ungelöst als Fettaugen auf der Suppe. Gerade noch ,Je suis Charlie’ und das Recht auf Satire mit Gratis-Demonstrationen verteidigt, jetzt eingeschnappt sein, weil da jemand – uneigentlich oder nicht – beiläufig auf einer kleinen subversiven Konferenz angedeutet hat, wie es wäre, wenn Griechenland Deutschland den Stinkefinger zeigte. Insofern: Jeder der sich nun ohne Ansehen des ursprünglichen Kontextes und der wahren Sprechabsichten durch Varoufakis ,beleidigt’ fühlt, ist auf dem Weg zum Salon-Salafisten.“

Höchste Zeit, um endlich zur Erkenntnis unter dem Strich zu kommen. Die sich, wir sind hier ja keine Politikkolumne, natürlich nicht auf die Beurteilung griechischer Politik, sondern auf das bezieht, was wir über Medien lernen können: Sie sind unwillig, dazu zu lernen.

Denn was muss eigentlich noch passieren, bis man sich in deutschen Redaktionen entschließt, sorgfältiger bei der Arbeit vorzugehen, sauberer zu recherchieren und nicht entstellend zu zitieren, damit nicht auch die letzten Gutgläubigen zur Lügenpresse-Front überlaufen? Und wann hört man endlich auf, mit platter Stimmungsmache auf unser schnuckeliges Europa einzuschlagen und zu suggerieren, statt der Griechen hätte besser Wolfgang Schäuble die griechische Regierung gewählt, nur um billig Aufmerksamkeit zu generieren (passend dazu auch Stefan Niggemeier im Bildblog über die Welt am Sonntag, die sich für eine plakativere Schlagzeile um den Faktor 1000 verrechnete)?

Bislang gibt es bei dieser Debatte nur einen Gewinner: die Klick-Zähler hinter den einszweidreivier Artikeln bei Meedia.


Altpapierkorb

+++ Wer sich rasch eine Erinnerung setzen möchte: Politico Europe startet am 21. April, schreibt das Wall Street Journal. +++

+++ Die Berliner Morgenpost aus dem Hause Funke lässt sich noch ein wenig länger von Springers Welt beliefern, hat Jürn Kruse für die taz herausgefunden. +++

+++ Zanny Minton Beddoes, die erste Frau an der Spitze des Economists, hat Deutschland besucht und erzählt, wie es sich so lebt als Chefin einer gedruckten Zeitung, der es immer noch gut geht. „Sie weiß, wo Wachstumsmärkte für eine englischsprachige Zeitung liegen, die an Wohlstand durch Wachstum glaubt: in Asien vor allem. Zanny Minton Beddoes geht von 73 Millionen potentiellen Lesern aus. Sie weiß, dass man nichts reparieren muss, das funktioniert. Sie weiß auch, dass Social Media eine wachsende Rolle spielen, aber ein nicht einfach zu spielendes Spiel sind für ein Blatt, das seine Autoren nicht zu Marken aufbaut – im Gegenteil“, so steht es in der FAZ. Auch Meedia berichtet. +++

+++ Wenige Frauen gibt es hingegen an den Spitzen deutscher Zeitungen, wie dieser Schnappschuss vom Treffen der Chefredakteure bei der dpa gestern beweist. +++

+++ Gedruckte Zeitschriften haben eine Zukunft, das muss man sagen, wenn man selbst ein derartiges Produkt erfunden hat. Die Euphorie, die Monocle-Mann Tyler Brûlé im Interview mit Florian Siebeck auf der heutigen FAZ-Medienseite an den Tag legt, ist dann aber doch ungewöhnlich. „Wenn man sich den Kiosk ansieht, mögen die Deutschen weiter Print. Es ist unmöglich, wenn man nicht gerade in einen speziellen Magazinladen geht, in anderen europäischen Ländern die Vielfalt zu finden, die es etwa am Frankfurter Hauptbahnhof gibt, oder in Stuttgart oder München. Das ist beispiellos. Die Deutschen sind intellektuell neugierig, und wir arbeiten wirklich hart daran, in Deutschland präsent zu sein. Wir lieben Deutschland.“ +++ Teil dieser Vielfalt zu werden, ist jedoch gar nicht so einfach, erzählt Oliver Wurm, der mit der WM-Heft-Reihe 54749014 ein Printprodukt ohne Anzeigen auf den Markt gebracht hat, im Vocer-Interview mit Michael Runges. „Das journalistische Handwerk und das Kollegen-Netzwerk für ein solches Vorhaben habe ich, da hatte ich keine Bedenken. Die eigentlichen Hürden bei im Eigenverlag gestemmten Projekten aber sind immer die zwei großen ,V’: Vertrieb und Vermarktung!“ +++

+++ „,Bombastic’ ist ein ambitiöses Projekt. Es will ein Land mit 35 Millionen Einwohnern mit einem einzelnen Magazin aufrütteln. Und das in einem Staat, in dem das gleichgeschlechtliche Begehren mit Haft bestraft wird.“ Cidem Akyol in der NZZ über die Macher des ersten Magazins für Homo- und Transsexuelle in Uganda. +++

+++ Ebenfalls in der NZZ: Die Beschwerde des VPRT gegen den öffentlich-rechtlich-privatwirtschaftlichen Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ. +++

+++ Wann kommen die Kaufempfehlungen, die zur gerade gesehenen Serie passen? Das ist nur eine von diversen Fragen, die Karoline Meta-Beisel Christoph Schneider, Geschäftsführer bei Amazon Prime, zum einjährigen Geburtstag des Angebotes in Deutschland stellt. Nachzulesen auf der Medienseite der SZ. +++

+++ Zudem auf der Seite: Jürgen Schmieder zu der Frage, warum selbst tödliche Unfälle dem Genre der Realiy-Show nicht schaden. „Bei der Produktion der französischen Survival-Sendung Dropped sind in der Nacht zum Dienstag der vorigen Woche in Südamerika bei einer Helikopter-Kollision zehn Menschen gestorben (...). Ist es nicht irgendwann genug mit dem Verschieben der Grenzen? Die Sendung ,Dropped’ wurde vorläufig abgesetzt, Reality TV dagegen lebt weiter, als wäre nichts gewesen. Der Grund: Es ist zu ertragreich.“ +++

+++ Dass im Auftrag der SED in der DDR Filme gedreht wurden, von deren Existenz niemand erfahren durfte, ist jetzt erstmal keine neue Erkenntnis. Dass es sich dabei aber nicht nur um verwackelte Aufnahmen vermeintlicher Republikfeinde durch Männer in schrecklichen Anoraks handelte, sondern auch um als Doku gedachtes Material, belegt der Film „Der heimliche Blick – Wie die DDR sich selbst beobachtete“, der heute Abend im RBB läuft. Kurt Sagatz erklärt den Sachverhalt im Tagesspiegel: „Im Auftrag des Kulturministeriums hielt die Staatliche Filmdokumentation (SFD) am DDR-Filmarchiv von ihrem Stammsitz am Rosenthaler Platz aus zwischen 1970 und 1986 fest, wie die DDR wirklich war, nicht wie sie sein sollte. Insgesamt 300 Filme umfasst die einmalige Sammlung. (...) Die SFD-Aufnahmen waren für das sozialistische Publikum der Zukunft gedacht. Diesen Zuschauern sollte später das Negative und Hässliche, das man überwinden wollte, ungeschminkt gezeigt werden.“ Eine weiterte Rezension findet sich in der taz. +++

+++ Gleicher Abend, ähnliche Zeit, anderes Programm: „,Tabu Abtreibung – warum länger schweigen?’ heißt eine Reportage, die an diesem Dienstagabend auf Arte läuft und sich auf selten betretenes Terrain begibt: Sie stellt das Recht der Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch in keiner Sekunde in Frage, macht aber deutlich, dass die seelischen Folgen in langen Jahren des feministischen und juristischen Kampfes kleingeredet wurden.“ Cathrin Kahlweit heute in der SZ. +++

+++ In der Schweiz sollen die Rundfunkgebühren ebenfalls zur Haushaltsabgabe werden. Warum das nicht allen gefällt, lässt sich beim SRF nachhören. +++

+++ Das „garantiert Beste von FOCUS Online“ in „vertraute(r) Qualität“, jetzt auch im Blog von Stefan Niggemeier. +++

+++ Apropos Stefan Niggemeier: Kai Diekmann rappt jetzt auch. +++

+++ Zum Abschluss auf Wunsch des geschätzten Kollegen noch ein Hinweis in eigener Sache: Falls Sie mal eine Steuerberatung brauchen, gehen Sie nicht zum DJV. Dort hält man Pressemitteilungen für ein journalistisches Produkt und Spiegel Online für das Internet. +++

Frisches Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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