"Meine Kirchengemeinde gibt mir Halt"

© Anna Stuhlmann
Seit sechs Jahren lebt Kristina mit einem inoperablen Hirntumor. Ihr Glaube und ihre Kirchengemeinde helfen ihr die Hoffnung nicht zu verlieren.
Leben mit inoperablem Hirntumor
"Meine Kirchengemeinde gibt mir Halt"
Mit 16 Jahren bekommt Kristina die schockierende Diagnose: Hirntumor. Es reißt ihr den Boden unter den Füßen weg. Seither prägen Schmerzen, Arzttermine und Ungewissheit Kristinas Alltag. Wie die heute 22-jährige mit dem Fremdkörper in ihrem Kopf umgeht und warum sie an schweren Tagen besonders dankbar für ihre Kirchengemeinde ist, hat sie der evangelisch.de-Autorin Anna Stuhlmann erzählt.

Seit sechs Jahren weiß Kristina, dass sie einen Hirntumor hat. Trotzdem habe sie das bis heute noch immer nicht ganz realisiert, sagt sie im Gespräch. Wie verarbeitet man so eine Diagnose? Wie behält man die Hoffnung, wenn das Leben sich plötzlich um 180 Grad dreht und alles anders ist?

Als ich die junge Frau in ihrer Wohnung mitten in den Weinbergen treffe, fällt mir zuerst die ruhige und liebevolle Einrichtung auf: Alles ist hell und freundlich. Es ist früh am Morgen und Kristina bietet mir als erstes einen frischen Kaffee aus ihrer Siebdruckmaschine an. Sie macht sich selbst auch einen. Heute hat sie einen guten Tag und kann Kaffee trinken. Nicht selten kommt es vor, dass die Kaffeeliebhaberin mit Kopfschmerzen aufwacht und vor Übelkeit weder Cappuccino noch Frühstück runter bekommt. 

Seit sie 2016 die Diagnose bekommen hat, hat sich Kristinas Leben komplett verändert. Die Teenagerin war damals nur zum Arzt gegangen, weil sie dauerhaft mit einem pulssynchronen Tinnitus zu kämpfen hatte. Das heißt, sie hat an ihrem rechten Ohr ihren Herzschlag gehört, der mit der Zeit immer lauter wurde.
Beim ersten MRT sahen die Ärzt:innen nichts und die Kopfschmerzen sowie der Tinnitus blieben. Bis heute ist das für Kristina unerklärlich.

Nach dem zweiten MRT bekam Kristina, damals noch vom Kinderarzt, die Diagnose. Ein Schock für die damals 16-jährige. Sie musste sofort notoperiert werden, um herauszufinden, welcher Art das Gewebe ist. Bei der Biopsie stellte sich heraus, dass der Tumor gutartig ist. Eine gute Nachricht für Kristina, da ihr so eine Bestrahlung oder Chemotherapie erspart bleibt.

Die Angst wichtige Fähigkeiten zu verlieren

Kristina erzählt mir am Esstisch, der mit einem weißen Makramee-Tischläufer geschmückt ist, wie sie damals eine Freundin anrief und ihr von dem Befund erzählte. Sie war direkt im völligen Verdrängungsmodus und konnte die Diagnose und die Auswirkungen in ihrer Gänze überhaupt nicht realisieren. Angst vor dem Tod hatte sie nicht, aber zu der notwenigen Operation sagt sie: "Die Angst vor einer Hirn-OP kann man gar nicht beschreiben. Es ist kein Fuß, der operiert wird, sondern dein Kopf. Man hat einfach wahnsinnige Angst, dass man nicht mehr sprechen oder laufen kann, wenn man aufwacht."

Kristinas Hirntumor ist zwar gutartig, liegt jedoch so ungünstig, nämlich direkt am Thalamus, sodass er nicht entfernt werden kann. Der Thalamus ist das Kerngebiet des Zwischenhirns und die Sammelstelle für fast alle Sinneseindrücke. Eine Operation birgt damit immer das Risiko wichtige Hirnregionen zu verletzten. Dann könnte Kristina vielleicht nicht mehr sprechen, laufen oder sehen. Bei der Biopsie war das Risiko deutlich geringer, als es bei der Entfernung des Tumors wäre. Er muss also bleiben.

Hirnwasser staut sich durch den Tumor

Doch der Tumor führt dazu, dass das Hirnwasser nicht mehr richtig abfließen kann. Kristina muss daher abermals operiert werden. Ein halbes Jahr nach der Diagnose wird sie ein zweites Mal operiert und bekommt einen Shunt eingesetzt. Dieses Implantat reicht vom Hirn bis zur Bauchdecke und lässt das Hirnwasser abfließen. 

Auf einem Röntgenbild ist Kristinas Shunt deutlich zu erkennen.

Für Kristina ist der Shunt Fluch und Segen zugleich. Sie erinnert sich, dass ihr Gehirn kurz vor der Shunt-Operation durch die angestaute Flüssigkeit unter einem so großen Druck stand, dass sie ohne den Eingriff vermutlich einen Tag später erblindet wäre. Sie braucht den Shunt, um mit dem Tumor leben zu können, jedoch verursacht dieses Implantat im Alltag oft Probleme. Mal wird zu viel, mal wird zu wenig Flüssigkeit abgesaugt, was bei Kristina zu unangenehmen Druckkopfschmerzen führt. 

"Es ist okay"

Mir fallen die vielen aufgestellten Postkarten in ihrer Wohnung auf. Ich weiß, dass sie diese selbst gestaltet und in einem kleinen Online-Shop verkauft. Darauf stehen Bibelverse oder Sprüche wie "Es ist okay." Die gelernte Erzieherin macht aktuell einen Fernlehrgang als Grafikerin. Von zuhause aus, ganz in ihrem eigenen Tempo. Sie liebt ihren Job in der Krippe über alles, aber sie weiß auch, dass sie nicht auf Dauer dort arbeiten kann. An vielen Tagen gibt sie alles für die Kinder und kann sich nach der Arbeit nur noch auf ihr Sofa legen und schlafen. Für mehr reicht die Kraft nicht. Wenig Freizeit, viel Ruhezeit. Aber das ist okay. Sätze wie diese helfen ihr schwierige Phasen zu akzeptieren. Und mit dieser Einstellung beeindruckt und ermutigt sie auch andere Menschen: durch ihre Postkarten, ihren Instagram-Kanal oder ganz persönlich in ihrer Kirchengemeinde.

Mit ihren selbstgestalteten Postkarten ermutigt Kristina sich und andere.

Doch ganz alleine würde sie die Kraft nicht aufbringen. Eine Stütze ist ihr Glaube an Gott, aber auch ihre Gemeinde. Ich darf Kristina an einem Samstagnachmittag in die evangelische Freikirche "Brothaus" in Bad Kreuznach begleiten. Bei einem Kaffee wird im gemeindeeigenen Garten gelacht und gequatscht. Gemeinschaft tut der jungen Frau gut und lässt sie auftanken. Ich spüre wie ausgelassen, herzlich und wohlwollend die Gemeinschaft ist. In der Kirchengemeinde hat Kristina Freunde gefunden, bei denen sie immer wieder Halt findet. Die beten nicht nur für sie, sondern hören ihr zu, ermutigen sie, schweigen mit ihr, kochen füreinander und fahren auch mal eine Stunde mit ihr nach Heidelberg in die Notaufnahme.  

"Ich kann nicht beschreiben, wie dankbar ich für meine Gemeinde bin. Für die Leute, die für mich beten, mich anrufen, mir schreiben. Diese Gewissheit zu haben: Ich habe Leute, die sind für mich da. Das ist das Allerschönste!", sagt Kristina und strahlt. Wenn sie Hilfe braucht, dann kann sie unkompliziert in der WhatsApp-Gruppe der Gemeinde eine Nachricht hinterlassen und beispielsweise fragen, ob sie jemand spontan am nächsten Tag zum Arzt oder ins Krankenhaus fahren kann. Meistens melden sich gleich mehrere Menschen. Ein echter Segen in Situationen, in denen Kristina so zwingend auf Hilfe angewiesen ist. 

Die Gemeinschaft in ihrer Kirchengemeinde tut Kristina gut.

Ganz normales Leben mit Hirntumor?

Vor einigen Jahren hat sich Kristina dazu entschlossen ihre Krankheit auf Instagram öffentlich zu machen. Sie teilt gute und schlechte Tage, nimmt sich Pausen, aber beschönigt nichts. In ihrer Profilbeschreibung steht "trying to live a normal life with a braintumor" und genau das erlebe ich bei meinem Besuch. Kristina hat sich dazu entschlossen ihre Krankheit auf Instagram zu teilen, weil der Tumor Teil ihres Lebens ist. Sie will zeigen, dass es Christen nicht immer gut geht und dass das Leben nicht immer leicht ist – und dass sie trotz allem an Gott festhält. Sie beschreibt, was sie mit ihrem Profil erreichen möchte so: "Mein Kanal soll ein Kanal der Ermutigung sein. Leute schreiben mir manchmal auf Instagram: "Das hat mich so ermutigt." Und ich denke: Krass, das war voll die tiefe Phase. Ich habe das Gefühl, dass Gott das nutzt." 

In Kristinas Wohnzimmer entdecke ich keinen Fernseher, aber dafür eine Reihe an Ratgebern, einen alten Plattenspieler und einen Schaukelstuhl. Eine Leiter führt nach oben auf eine zweite Ebene unter dem Dach. Dort ist Kristinas Kreativbereich, wo sie Postkarten gestaltet oder Gedrucktes für den Versand verpackt.

Kristina erzählt mir, dass ihr Kopf voller Narben ist und zeigt mir, wo sie den Shunt von außen fühlen kann. Ganz oben auf ihrem Kopf befindet sich auf der rechten Seite ein Reservoir, wo sie pumpen kann. Das demonstriert sie mir. Und an der Seite, über ihrem rechten Ohr, kann die Stufe des Shunts mit einem Magneten von außen verstellt werden. Denn nur mit der richtigen Druckstufe kann der Shunt funktionieren und Kristina schmerzfrei sein. Doch die richtige Stufe zu finden ist gar nicht so leicht und sie kann sich auch verändern.

Insgesamt hatte Kristina drei Operationen am Gehirn. Jedes Mal musste sie dafür ihre Locken abrasieren. Am ganzen Kopf hat sie Narben.

Kleinigkeiten wertschätzen

Wenn Kristina mal schmerzfrei ist, genießt sie es - so banal es klingt - länger wach bleiben zu können. Denn durch die Schmerzen ist sie oftmals so müde, dass sie sehr viel schlafen muss. Das erinnert mich, wie wenig ich diese kleinen Dinge im Leben wertschätze und wie wertvoll es ist, gesund zu sein. 

Schmerzfreie Tage genießt Kristina gerne mit ihrer besten Freundin Talitha. Sie ist auch Christin und die beiden haben sich in der Kirchengemeinde kennengelernt. Mit ihr kann sie über alle schweren Phasen sprechen und auch umgekehrt. Auch wenn die zweifache Mutter ganz andere Sorgen hat, die ihr oft viel bedeutungsloser erscheinen, unterstützen sich beide.

"Dann glaubt die andere weiter!"

Talitha erzählt, dass es ihr hilft, für ihre Freundin zu beten. Schon oft hat sie erlebt, dass sie durch die Kinder nicht an Kristinas Seite sein konnte, aber Gott sie bewahrt hat, wenn sie beispielsweise trotz Schmerzen alleine ins Krankenhaus gefahren ist. Auch für Kristina ist das Gebet ihrer Freundin oder andere Gemeindemitglieder unglaublich aufbauend und beruhigt sie in vielen Situationen. Talitha erzählt: "Wir haben uns ein Versprechen gegeben: Wenn eine die Hoffnung verliert, dann glaubt die andere für sie weiter."

Mit Talitha kann Kristina seit drei Jahren all ihre Sorgen teilen.

Trotz der Unterstützung fragt sich Kristina manchmal "Warum ich?" und sagt, dass sie oft sauer auf Gott ist. Aber das sei menschlich und sie lässt es zu. Meistens spricht sie mit Gott darüber und spürt im Gebet Gottes Liebe und Frieden. Dann weiß sie: Es ist okay. Trost schenkt ihr auch der Gedanke an die Ewigkeit. Der Gedanke daran, dass es irgendwann kein Leid mehr geben wird. Oder sie versucht sich daran zu erinnern, was sie schon alles mit Gott erlebt hat und wo er sie durchgetragen hat: Zum Beispiel drei Hirnoperationen, die ohne Komplikationen verlaufen sind. Kristina ist sich sicher, dass sie niemals ohne Jesus leben kann, weil er der ist, der sie in allem hält und trägt. Der Glaube ist ihr Fundament ohne das sie vermutlich schon zerbrochen wäre.

In Gottesdiensten und durch christliche Musik wird Kristinas Glaube gestärkt. Sie erzählt, dass die Menschen in ihrer Kirchengemeinde immer Gutes über ihr Leben sprechen, wenn sie es nicht kann. Und das macht es leichter. Deswegen arbeitet sie auch gerne in der Gemeinde mit und gestaltet den Instagram-Kanal. Auch wenn es Zeit und Kraft kostet, sagt sie, bekäme sie so viel zurück. Ob neue Menschen im Gottesdienst oder Leute, die von einem ihrer Posts berührt werden – sie freut sich sehr, das Leben Anderer positiv beeinflusst zu haben.

Aktuell wächst der Tumor nicht, dennoch ist die Angst da, dass er eines Tages größer werden könnte. Aber der Gedanke diese Ängste nicht alleine aushalten zu müssen, ist für sie sehr beruhigend. Ihr größter Wunsch ist es irgendwann gesund zu werden: "Es gibt Tage, wo ich daran glaube, dass der Tumor verschwindet und Tage, wo ich einfach denke: Es ist so, wie es ist. Es schwankt. Aber in meinem Herzen weiß ich - auch wenn es erst bei Jesus sein wird - gesund sein werde."