Seltene Momente fürs Orgelspiel

Seltene Momente fürs Orgelspiel
Der Landarzt macht kurz Pause. An der Bundesstraße 198, die durch Mirow führt, weist ein Schild mit der Aufschrift "Imbiss" auf einen holprigen, sandigen Parkplatz und einen Bretterverschlag. Vor der Tür steht ein Elektrorollstuhl.

Als der Arzt hereinkommt, drehen sich die Leute nach ihm um, nicken ihm freundlich zu. "Ach, der Doktor!" Es ist kurz nach neun, zweites Frühstück. Meyer nimmt eine Bockwurst mit Brötchen, für zwei Euro, mit Kaffee. In einem über­dachten Vorraum stehen Plastikstühle und Tische. Drei Männer gucken den Arzt erwartungsvoll an, als er sich zu ihnen setzt.

Am Nachbartisch steht ein Schornsteinfeger. "Ein Schornstein­feger kennt doch immer einen Witz", ruft Meyer durch den Raum. Aber es passiert nichts. Da erzählt er selbst einen, einen Ärztewitz natürlich, nicht jugendfrei. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass der Arzt richtig lacht.

Zuckerspiegel muss kontrolliert werden

Einen Kilometer später. Eberhard Meyer stellt bei Wilhelmine Ziegner einen kleinen Plastikbecher auf den Wohnzimmertisch, der nur knapp Platz hat zwischen Schrankwand und schwerer Couch. Meyer will den Zuckerspiegel seiner Patientin im Labor kontrollieren lassen.

"Du isst zu fett, Minchen, mach hier bitte mal ein bisschen Pinkel rein." Auf dem Bild, das in der Schrankwand steht, himmelt die Frau, die jetzt lachend zum Becher greift, einen Mann an, ­ihren Mann. Er lebt nicht mehr. "Ich weiß aber nicht, ob ich kann", sagt sie und geht raus. "Versuch' mal, Minchen", ruft Meyer ihr hinterher. Man macht nicht viele Worte in Mecklenburg. Er mag das. In der Magdeburger Börde, wo Meyer auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, ist das nicht anders. Sein Dialekt erinnert ein bisschen an den Berliner Zungenschlag, aber manchmal rutscht ihm ein plattdeutscher Satz raus. "Na, wo geihd di dat?", fragt er, als Minchen wieder in ihr Wohnzimmer kommt.

"Tut mir leid, da kommt nichts, Dokterchen." "Macht nichts. Wenn was ist, meldest du dich!" Er wird schon nächste Woche nach ihr schauen, weil Minchen heute keine Grippeimpfung bekommen darf, sie ist erkältet.

Aus kurzen Gesprächen werdnen Geschichten

Vielleicht ist das blaue Köfferchen mit dem Grippeimpfstoff so etwas wie ein Kompromiss, den der Landarzt mit dem ­System getroffen hat. Er kann nicht alles leisten, aber was geht, das macht er auch. Eine Impfung, die muss man sich eigentlich selbst holen. Und wenn man es nicht mehr zum Arzt schafft, muss man anrufen, damit der Arzt zu einem rauskommt. Eberhard Meyer kommt einfach. Kaum einmal bleibt er länger als zehn Minuten, selten spricht er mehr als nötig. Aber immer Klartext. "Deine Knochen sind im Arsch", sagt er zu Ella Kleinschmidt, einer Frau, die in einem kleinen Dorf zwischen Schwarz und Mirow lebt. In ihrem Wohnzimmer stapeln sich die Bierflaschen in einem Korb. Sie sagt, es sind nur so viele, weil sie mit dem Wegbringen wartet, bis es sich lohnt.

An der Wand hängt ein Bild, schwarz-weiß, es zeigt einen Mann mit dunklen Locken, er lacht in die Kamera. Frau Kleinschmidt guckt ihn an, als sie ihre Impfung bekommt. "Ach, nächstes Jahr wird glattgemacht", seufzt sie und erzählt, dass sie das Grab ihres Sohnes einebnen lässt. Sie kann sich die Friedhofsgebühren nicht mehr leisten. Auch dieser Besuch hat kaum fünf Minuten gedauert. Der Doktor hat keine Antwort gegeben. Aber zugehört.

Über die Jahre sind aus den kurzen Gesprächen Geschichten geworden. Wenn Eberhard Meyer im Ruhestand ist, will er sie aufschreiben, ein ganzes Buch soll daraus werden. Die Sache mit Ella Kleinschmidt zum Beispiel, die ihren Sohn verloren hat, noch zu DDR-Zeiten. Das geht ihm nicht aus dem Kopf. "Jefeiert, je­soffen, und dann wollte er noch zu den Weibern fahren", erzählt der Landarzt. Als Meyer ihn neben seinem verbrannten Trabi fand, konnte er noch reden. "Eberhard, weißt du denn nicht, wer ich bin?", stöhnte ein Bündel Mensch. Der junge Kleinschmidt starb nach ein paar Tagen im Krankenhaus.

Die meisten schlafen ruhig ein

Der Tod, das ist ein Thema, das den Arzt beschäftigt. 1965 und 1966 machte er sein Vorpraktikum in Jena, Städtisches Klinikum. "53 Tote durfte ich da fertig machen", das hat er sich genau gemerkt. Er schätzt, dass es mittlerweile Tausende sind. Sein Grundsatz: gehen lassen. Mit den Jahren hat er ein Gefühl dafür entwickelt, für wen er den Blaulichtwagen, wie er den Krankenwagen nennt, rufen muss. Und für wen nicht mehr.

Dann bleibt er da, setzt sich ans Bett, hält die Hand. Er will nicht, dass jemand im Blaulichtwagen stirbt, der hier, auf dem Land, viele Kilometer unter­wegs ist bis zum nächsten Krankenhaus. "So schlafen die meisten ganz ruhig ein." Das passiert oft. Die Patienten, die er zu Hause besucht, sind im Schnitt zwischen 70 und 80 Jahre alt.

In Deutschland gibt es mehr als 130.000 ambulant tätige Mediziner. Nachkriegsrekord. Knapp 60.000 von ihnen sind Hausärzte. Warum gibt es einen Ärztemangel im Osten? Warum droht der auch in anderen ländlichen Regionen, im Sauerland oder im Bayerischen Wald? "Ärzte sind Freiberufler, wir können sie nicht mit dem Lasso einfangen", sagt Roland Stahl von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er spricht von Work-Life-Balance, davon, dass junge Ärzte ein Theater in ihrer Nähe wollen.

60 bis 70 Arbeitsstunden pro Woche

Eberhard Meyer steht in seinem Garten, in den er sich selbst eine Sauna gebaut hat. "Alles handgeschnitzt", sagt er und zeigt auf einen kleinen Tisch vor dem Eingang, da liegt das Handy, wenn er drinnen schwitzt. Falls was ist. Oft ist was, 60 bis 70 Stunden in der Woche arbeitet er, mehr, als gesund ist. Vor acht Jahren wurde er selbst Patient. Im eigenen Sprechzimmer erlitt er einen Infarkt, der Hubschrauber musste kommen. "Ich hätte schon längst in Rente gehen können", sagt Eberhard Meyer, dem das Leben viele Streiche gespielt hat. Zwei Scheidungen hat er hinter sich, er nennt sie "Ehekriege". Jetzt lebt er mit seiner Freundin zusammen und mit den zwei jüngsten seiner fünf Kinder.

Der Landarzt würde jetzt so gern noch kurz zeigen, wie er ­Orgel spielt, obwohl er morgens noch streng angekündigt hatte, gar nicht so viel Zeit zu haben. Aber die Momente fürs Orgelspiel, die nimmt er sich, das ist sein Ausgleich. Leider ist die Tür zur Empore der kleinen Kirche in Schwarz heute verschlossen. Er fährt zum Pfarrhaus, vielleicht liegt der Schlüssel da. Der Pfarrer ist nicht da, die Pfarrersfrau weiß auch nicht, wo sie suchen sollte. Als sie den Arzt wieder hinausbegleitet, kommen sie an einem Kunstwerk vorbei. Es ist eine Art Schaukasten, und da hinter dem Glas steht nur ein einziges Wort. "Leben". Eberhard Meyer bleibt kurz stehen, zeigt mit dem Finger auf den Kasten und sagt: "Schönes Motto." Dann geht er weiter.

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