Avatar: Verantwortung des Zwischenmenschlichen

Avatar: Verantwortung des Zwischenmenschlichen
Das Mainstream-Kino hat einen Trend entdeckt, den andere Medien schon seit Jahrzehnten kennen: Es geht um Avatare, um ferngesteuerte Charaktere, die von außen gelenkt werden. Drei Filme nehmen sich des Themas an, alle drei kommen in Deutschland innerhalb weniger Wochen ins Kino. Aber sie unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von Kino-Vorgängern und Videospielen: Sie schicken ihre ferngelenkten Charaktere nicht in eine virtuelle, sondern in die reale Welt.
16.12.2009
Von Hanno Terbuyken

Der eine Film ist "Avatar" von James Cameron (im Kino ab 17. Dezember), ein digitales 3D-Spektakel auf einer außerirdischen Dschungelwelt. Der zweite Film ist "Gamer" von den "Crank"-Machern Mark Neveldine und Brian Taylor (im Kino ab 7. Januar 2010), in dem Videospieler echte Menschen durch moderne Schlachtenszenarien steuern. Der dritte Film ist "Surrogates – Mein zweites Ich" von Jonathan Mostow (im Kino ab 21. Januar 2010), der eine Welt portraitiert, in der die Menschen nur noch über mechanische Avatare statt unmittelbar miteinander umgehen.

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"Avatar" ist vor allem wegen seiner technischen Brillanz auf dem Gebiet der Computer-Animation mit Spannung erwartet worden. Die Story des Films ist kein dramaturgisches Highlight. In der Geschichte um die Vertreibung der blauen Ureinwohner des Planeten "Pandora" zugunsten eines rohstoff-ausbeutenden Großkonzerns ist wenig neu. Interessant ist aber, dass der Held des Films im Rollstuhl sitzt und daher mit dem titelgebenden Avatar – einer Nachbildung eines der Ureinwohner-Aliens – durch den animierten Dschungel hüpfen darf.

Vom MUD zu Second Life und WoW

Der Gedanke ist im Prinzip nicht neu. Rollenspieler machen das schon seit den 70er Jahren: Sie schlüpfen in die Rolle eines erfundenen Charakters und lenken ihn in ihrer gemeinsamen Vorstellung durch eine fremde Welt. Videospiele nahmen diese Idee schon von Anfang an auf. In fast jedem Spiel steuert der Spieler einen Avatar, eine Spielfigur. Sei es der Pac-Man der Arcade-Maschinen, ein Rollenspielcharakter in den Spielen der Ultima-Reihe, Super Mario in den klassischen Nintendo-Spielen oder Gordon Freeman in Half-Life – es ist immer die Steuerung eines fremden Körpers durch eine Welt oder eine Situation, die nicht die eigene ist.

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Zu Anfang des 21. Jahrhunderts erschienen aber dann zwei Anwendungen, deren Einfluss auf den aktuellen Kino-Trends unverkennbar ist: die virtuelle Welt "Second Life" (2003) und das Online-Rollenspiel "World of Warcraft" (2004). Die Idee war zwar wirklich nicht neu – so alt wie Multi-User-Dungeons (MUD) aus dem Anfang der Computerzeit – aber nie zuvor trafen sich so viele Menschen gleichzeitig in einer virtuellen, digitalen Welt. Beide Anwendungen haben jeweils mehr als 13 Millionen Mitglieder und sind ein weltumspannendes Phänomen, das sich entlang der Hochgeschwindigkeits-Internetleitungen verbreitet. Sie prägten das Bewusstsein vieler Menschen dafür, dass sich ein digitales Abbild der echten Welt schaffen lässt, in dem Idealvorstellungen der Nutzer, selbstgestaltete Avatare, miteinander kommunizieren können.

Künstliche Avatare in die echte Welt

Ungefähr so sieht auch der Plot von "Surrogates" aus, nur dass die Welt, in der sich diese Idealvorstellungen begegnen, keine künstliche ist. Stattdessen sind es die echten Menschen, die sich in eine künstliche Welt zurückziehen und ihre Avatare in die echte Welt schicken.

Das ist es, was diese drei Filme von Videospielen und Kino-Vorgängern wie "Matrix" (1999) unterscheidet. In "Matrix" schickten die Menschen ihre Avatare noch genau wie im Videospiel in eine künstliche Umgebung. Auf der einen Seite stand die dreckige, physikalische Welt mit all ihren Problemen, auf der anderen Seite die Vorspiegelung einer Welt, in der man sein konnte, wie man wollte, die am Ende aber doch nicht echt war. Das ist in Videospielen oder Second Life heutzutage auch so: Der Spieler sitzt vor dem Bildschirm und schickt seinen Avatar durch eine digitale Welt. Schaltet man das Spiel aus, bleibt nur die echte, physikalische Welt übrig.

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In "Avatar", in "Gamer" und in "Surrogates" ist das anders. Zwar werden die Avatare auch dort aus sicherer Entfernung gesteuert. Aber die Welt, in der sie existieren, ist nicht virtuell. Es ist die gleiche Welt, in der auch die Spieler leben. Virtualität und Realität verschmelzen. Die zeitweilige Flucht in eine andere Welt, die Rollen- und Videospieler motiviert, wird in den Filmen ausgehebelt. Auf einmal hat virtuelles Handeln echte Konsequenzen. Nicht für den Spieler, aber für die Welt um ihn herum.

Was ist echt, was ist Spiel?

Wenn ein Videospieler Nico Bellic in "Grand Theft Auto IV" von einem Hochhausdach Raketenwerfer in einen Verkehrsstau feuern lässt, bleibt es bei Pixel-Explosionen auf dem Fernseher. Für den Spieler sind Spielwelt und Realität streng getrennt. Wenn der Teenager Simon in "Gamer" seinen Kämpfer Kable durch die Schlachten in der Wettkampfzone steuert, sterben echte Menschen. Aus Simons Sicht, der Sicht des Spielers, ist die Spielwelt die Realität. Laut Geschichte sind die ferngesteuerten Teilnehmer zum Tode verurteilte Strafgefangene, damit der Kino-Zuschauer noch irgendeine Rechtfertigung entdecken kann, aber das ändert nichts daran: Sie sind Menschen aus Fleisch und Blut, die als Avatare im Spiel töten und getötet werden.

Im wahren Leben, außerhalb von Kino und Videospiel, gibt es diese fatale, nur einseitig folgenlose Mischung aus Videospiel und Realität bereits: Beim Militär. Die Piloten von unbemannten, aber bewaffneten Kampf-Drohnen sehen vor sich nur das Kamerabild und die Steuerungskonsole. In klimatisierten Kampfcontainern weit entfernt vom Geschehen können sie auf Knopfdruck Tod und Verderben bringen, ohne Konsequenzen für sich selbst. Sie bedienen Joysticks wie bei einem Videospiel. Der Steuerstand sieht aus wie ein Simulator, aber er ist es nicht.

Die Menschen dahinter nicht vergessen

"Avatar", "Gamer" und "Surrogates" verwischen die Grenzen zwischen Videospiel und Wahrheit, zwischen Virtualität und Realität. Sie erzählen nicht nur Geschichten von menschlichen Gefühlen, Freud und Leid, Liebe und Tod, sondern tragen auch noch eine andere Botschaft in ihren Bildern: Wenn wir uns hinter Avataren verstecken, können wir umso einfacher Schaden anrichten, Menschen verletzen, mit Wort und Tat tiefe Wunden schlagen. Und es fällt uns leichter, weil wir selbst nicht in Gefahr sind.

Sich in der Anonymität eines Avatars zu verstecken, bedeutet, sich der Verantwortung des persönlichen Umgangs zu entziehen. Das ist die Botschaft, die im Dezember und Januar von der großen Leinwand strahlt. Sie findet ihren Widerhall in den unzähligen digitalen Gassen des weltweiten Netzes. Denn auch dort entscheiden sich viele Menschen für Anonymität, für den Schutz eines Fantasienamens und anonymer Profilbilder. Das Kino zeigt uns, dass am Ende doch immer echte Menschen dahinter stecken. "Avatar", "Gamer" und "Surrogates" sind großformatige Warnungen, das nicht zu vergessen.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen, und schreibt das Blog "Angezockt".