"Ich habe Abitur, bitte behandeln Sie mich auch so!"

"Ich habe Abitur, bitte behandeln Sie mich auch so!"
Infantile Cerebralparese ist der medizinische Fachbegriff für das, was Kathrin Lemler behindert, aber nach ihrem Empfinden nicht einschränkt. Die 24-jährige Frau sitzt im Rollstuhl und hat keine vollständige Kontrolle über ihre Muskeln - das hindert sie aber nicht daran, ein fast normales Leben zu führen. Außerdem hat sie kürzlich den Geschichten-Wettbewerb der Aktion Mensch gewonnen.
25.10.2009
Von Andrea Djifroudi

Sie steuert mit ihren Augen einen Sprachcomputer und ihr Leben. Dass die übrigen Muskeln ihres Körpers ihr wegen der frühkindlichen Hirnschädigung nicht immer gehorchen: ­ alles Äußerlichkeiten. Denn Kathrin Lemler aus Kettig in Rheinland-Pfalz ist klug, lebenslustig, mutig und uneingeschränkt schlagfertig. Gerade hat sie einen Geschichten-Wettbewerb der "Aktion Mensch" gewonnen. Die zwei preisgekrönten Geschichten entlarven, dass nicht Kathrin gehandicapt ist, sondern die Menschen, die ihre Vorurteile nicht überwinden können. Die Studentin der Erziehungswissenschaften an der Uni Köln lässt sich nicht einschränken, weder von ihrem Körper noch von Menschen, die sie unterschätzen.

Mit leichtfüßiger Ironie hat sie beschrieben, welchen Aufruhr es verursacht, wenn sie, wie jeder andere, einen Personalausweis beantragen will. Da soll sogar die Polizei gerufen werden, nur weil sie via Computer spricht. Auch die zweite Geschichte zeigt, wie unbeholfen nicht behinderte Menschen reagieren, wenn sie auf Menschen wie sie treffen. Kathrin Lemler verschafft sich etwa im Gerichtssaal als Zeugin Gehör, als der Busfahrer, der sie chauffiert, zu Unrecht beschuldigt wird, einen Auffahrunfall verursacht zu haben. Der Anwalt des tatsächlichen Unfallfahrers will erreichen, dass sie als Zeugin nicht ernst genommen wird. Doch der Richter glaubt ihr.

Der Computer ermöglicht ihr das Sprechen

"Viele Leute wissen einfach nicht, wie sie mit einem Menschen mit Behinderung umgehen sollen. Es muss sich in der Gesellschaft etwas ändern. Dass es selbstverständlich wird, dass Menschen mit Behinderung dazugehören." Ihre Augen haben auf dem Computerbildschirm die Buchstaben für diese Sätze gesucht. Eine Frauenstimme spricht sie. Der Computer, der an ihrem Rollstuhl befestigt ist, erkennt, wenn sie bestimmte Punkte mit ihren Augen fixiert. Er loggt dann diesen Buchstaben ein. Zudem macht er Vorschläge, wie das Wort vollendet werden kann. Diese Technik macht es der Studentin möglich, auch ohne menschlichen Assistenten zu kommunizieren.

Eine schwedische Firma hat das Gerät namens "MyTobii" entwickelt. Kathrin Lemler repräsentiert das Unternehmen bisweilen auf Messen und Vorträgen im In- und Ausland. Sie möchte auch nach ihrem Studium "nicht sprechenden Menschen mit ihren Erfahrungen helfen". Mit ein Grund, warum sie ihre Geschichten schreibt und publiziert. So gibt es etwa ein Buch mit dem Titel "Kathrin spricht mit den Augen", das bereits in der zweiten Auflage und in Englisch erschienen ist.

Lebenslust ist größer als der Frust

Beinahe noch wichtiger als alle technischen Krücken ist, wie bei jedem anderen Menschen auch, die Mimik. Die Überschrift ihrer eigenen Homepage lautet: "Nicht lachen können ist schlimmer, als nicht reden können." Und das Lachen der 24-Jährigen ist ansteckend, wenn sie von den merkwürdigen Alltagsabsurditäten erzählt. Vor einem Flug nach Birmingham wurde ihr Freund von der Dame am Check-In-Schalter gefragt, ob Kathrin anfängt zu schreien, wenn man sie anfasst. Ihr Freund antwortete: "Nein! Sie beißt!" Bissig kann Kathrin Lemler tatsächlich sein. So gibt es auf ihrem Sprachcomputer einen Satz, den sie sich für ganz harte Fälle einprogrammiert hat: "Ich habe Abitur, bitte behandeln Sie mich auch so!"

Aber die Lebenslust ist weitaus größer als der Frust. Auf ihrer Homepage gibt es eine Geschichte, in der sie davon träumt, wie es wäre, wenn sie keine Behinderung hätte. "Die Geschichte habe ich mit
16 geschrieben", erzählt die junge Frau. Die Erzählung über das Was-Wäre-Wenn endet mit der Vision, dass sie als ganz normale Frau am Bügelbrett steht: "Ich raufe mir die Haare. Neben mir liegt ein Berg mit Wäsche... Hilflos blicke ich umher. 'So ein Glück, dass ich mich niemals mit Bügeln beschäftigen muss', sage ich zu mir selbst und gluckse..." Heute träumt sie nicht mehr von einem Leben ohne Behinderung. Ihr Ziel ist eine Normalität, die für Nicht-Behinderte im Grunde Alltag ist: "Ich möchte mit meinem Freund zusammenziehen und einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt haben."

dpa