Das Tor zum großen Abenteuer Westen

Menschen im Notaufnahmelager Berlin Marienfelde 1958
Foto: epd-bild/akg-images/Gert Schütz
Menschen im Notaufnahmelager Berlin Marienfelde 1958
Das Tor zum großen Abenteuer Westen
Für jeden dritten DDR-Flüchtling war es die erste Adresse in der neuen Heimat: Die ersten Tage im Westen verbrachten sie im Berliner Notaufnahmelager Marienfelde. Dort bekamen sie alle nötigen Papiere - und wurden selbst auf Läuse untersucht.
14.04.2013
epd
Jürgen Heilig

"Links zwei Stockbetten, rechts zwei Stockbetten und in der Mitte ein viereckiger Tisch". Auch 30 Jahre nach Eröffnung des Notaufnahmelagers Marienfelde am südlichen Stadtrand Berlins war das Leben dort sehr spartanisch, erinnert sich der heutige Innensenator der Stadt, Frank Henkel (CDU). Wie mehr als 1,3 Millionen andere DDR-Flüchtlinge wurde auch er als 17-Jähriger durch das "Tor der Freiheit" geschleust - und dort auf ein neues Leben vorbereitet: neuer Personalausweis, Krankenversicherung, Unterkunftssuche.

Bei einem Festakt mit Bundespräsident Joachim Gauck wird am Sonntag an die Eröffnung des Lagers vor 60 Jahren, am 14. April 1953, erinnert. Die zunächst 15 Wohnblocks bildeten eine "regelrechte kleine Stadt", wie es damals in der West-Berliner Presse hieß, die das Lager zum "Bau der Schwierigkeiten" erklärte. Zwei Jahre lang hatten sich Bund und Land über das Geld gestritten, bis der damalige Bundespräsident Theodor Heuss ihn eröffnen konnte.

Trauer und Aufbruchstimmung lagen dicht nebeneinander

Die Gründung eines zentralen Notaufnahmelagers war pure Not. Seit Schließung der innerdeutschen Grenze durch die DDR-Behörden nahmen immer mehr Flüchtlinge in Berlin die dort noch nicht abgesperrte S-Bahn. Allein 1952 kamen fast 120.000 DDR-Bürger in den Westteil der Stadt.

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Dennoch war das Lager nur als Provisorium angelegt - "in der festen Zuversicht, dass der Kampf um die Freiheit und Einheit aller Deutschen endgültig gewonnen wird" - wie es in der Grundsteinurkunde hieß. Doch bis dieser Wunsch in Erfüllung ging, sollten 37 Jahre verstreichen. Jahrzehnte, in denen Marienfelde zu einem Lager voller menschlicher Fluchtschicksale wurde.

"Wie schwer es war, von zu Hause zu flüchten, glaubt Ihr mir vielleicht gar nicht", heißt es etwa in dem undatierten Brief eines Vaters an seine Kinder, den die heutige Erinnerungsstätte Notaufnahmelager aufbewahrt. Die Trauer über die verlassene Heimat und Aufbruchstimmung lagen in Marienfelde immer dicht nebeneinander. Bei Frank Henkel und anderen mischten sie sich aber durchaus mit der Lust auf das ganz große Abenteuer Westen.

Leere nach 1961

Frau Z. aus Stralsund schleppte dafür 1956 sogar ihre 16 Kilogramm schwere Nähmaschine nebst Mutter und zwei Kindern nach Marienfelde und mehrere andere Durchgangslager. Zwei Jahre lang, bis sie endlich eine Heimstatt in Hamburg fand, wo ihr die Nähmaschine noch gute Dienste im neuen Leben leisten sollte. Je mehr die staatliche Repression in der DDR zunahm, Bauern dort zwangskollektiviert wurden und gen Westen gerichtete Fernsehantennen umgedreht wurden, schwoll in den 50er Jahren der Flüchtlingsstrom an.

In dem eigentlich zunächst nur für 2.000 Menschen ausgelegten Notaufnahmelager führte das zu völliger Überbelegung. 1958 alarmiert der Leiter der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge in Berlin, Gustav Ahme, die Kirchenleitung: "Am Ostersonntag wurde ich in Marienfelde Zeuge, wie Hunderte von neu angekommenen Flüchtlingen Schlange standen."

Nach dem Mauerbau 1961 hingegen blieb das Lager dann oft halb leer, erst im Revolutionsjahr 1989 standen wieder Notbetten im Speisesaal. Bis Silvester kamen 51.000 DDR-Bürger nach Marienfelde.

Jetzt sind es Menschen aus Irak, Afghanistan oder Syrien

Das Lager sei immer "ein Seismograph für die politische Entwicklung in der DDR" gewesen, sagt der Direktor der Stiftung Berliner Mauer, Axel Klausmeier, zu der die heutige Gedenkstätte gehört. Für das SED-Regime war es naturgemäß ein "Feindobjekt", dessen Alltag ständig ausgekundschaftet werden musste. Schilder im bewachten Lager warnten Neuankömmlinge vor Spitzeln, das Fotografieren war verboten. Aber auch die alliierten und westdeutschen Geheimdienste waren nicht untätig und durchleuchteten im Rahmen des zwölfstufigen Notaufnahmeverfahrens jeden, der in den Westen wollte.

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Nicht Angst vor politischer Unterwanderung, sondern vor Wirtschaftsflüchtlingen hatte 1950 dafür gesorgt, dass die Zahl der abgelehnten Übersiedler höher war als die der angenommenen. Je offensichtlicher aber der Kalte Krieg wurde, desto mehr wurde die enge Verbundenheit "mit den versklavten Brüdern im Osten" betont, wie es dann in der Grundsteinurkunde von 1952 für das Lager hieß.

Wie virulent das Misstrauen gegenüber angeblichen Wirtschaftsflüchtlingen nach wie vor ist, weiß niemand besser als die Asylbewerber, die heute auf dem Areal in Marienfelde leben. Das Lager ist seit Monaten vollbelegt. Jetzt sind es Menschen aus Tschetschenien, Irak, Afghanistan oder Syrien. Versklavt von den Bürgerkriegen dieser Welt.