Rechtsextremismus in Westdeutschland - unterschätzt?

Foto: VISUM/Stefan Boness
Auf dem rechten Auge blind? Das unterstellt zumindest dieser Demonstrant in Berlin der Staat.
Rechtsextremismus in Westdeutschland - unterschätzt?
Rechtsextremismus galt über Jahre vor allem als Ost-Phänomen. Doch auch im Westen Deutschlands gibt es mittlerweile an vielen Orten eine verfestigte rechte Szene, so das Ergebnis einer Studie der Amadeu-Antonio-Stiftung. Dabei werde oft weggeschaut, meinen Kritiker. Ein Fall in einem hessischen Gefängnis belegt außerdem die gute Vernetzung von Neonazis untereinander.

Der Rechtsextremismus in den westlichen Bundesländern ist einer Studie zufolge systematisch unterschätzt oder kleingeredet worden. Der von der Amadeu-Antonio-Stiftung am Mittwoch in Berlin vorgestellte Report "Staatsversagen. Wie Engagierte gegen Rechtsextremismus im Stich gelassen werden" untersucht beispielhaft die Zustände in zehn Orten in sechs Bundesländern. Darunter sind München, Frankfurt am Main, Kiel und das rheinland-pfälzische Betzdorf. Die Untersuchung knüpft an den Vorgängerreport "Das Kartell der Verharmloser" von 2012 an.

Der neue Bericht dokumentiere die Bagatellisierung der alltäglichen rechten Gewalt durch die dortige Polizei, Justiz und Politik und damit ein staatliches Versagen auf allen Ebenen, sagte Autorin Marion Kraske. Der Umgang sei geprägt von Nachsichtigkeit gegenüber rechten Gewalttätern. Akteure und Initiativen, die sich gegen die Neonazis stellen, würden wiederum als Nestbeschmutzer oder Linksextremisten diskreditiert. Die Botschaft, die damit an die rechte Szene vermittelt wird, sei verheerend, betonte Kraske: "Sie lautet: Ihr könnt hier machen, was ihr wollt."

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) sieht einen dringenden Handlungsbedarf auch in den westdeutschen Bundesländern. Justiz, Polizei und Politik machten es den Rechten oft zu leicht, Fuß zu fassen. Grünen-Chefin Claudia Roth fordert von westdeutschen Politikerin ein Umdenken. Alltägliche rechte Gewalt und ihre Bagatellisierung sei ein Problem in ganz Deutschland.

Verharmlosung des allgegenwärtigen Rassismus

Studien-Autorin Kraske bilanzierte: "Betroffene werden nicht ernst genommen, Behörden ermitteln einseitig." In diesem Kontext müsse auch der NSU-Terror betrachtet werden. Exemplarisch sei ein Fall aus Wuppertal, eine der Hochburgen der rechtsextremen Szene in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde Ende 2010 eine Vorführung in einem Kino von vermummten und bewaffneten Neonazis überfallen, in der ein Film über Erscheinungsformen von Rechtsextremismus gezeigt wurde.

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Obwohl 13 der Täter gefasst wurden, wurde bis heute keiner verurteilt. Laut Report verschleppte die Polizei die Ermittlungen, der Oberbürgermeister habe einen rechtsradikalen Hintergrund bestritten. Erst nach einem Bericht des ZDF-heute-journals wurde Ende 2012 überhaupt Anklage erhoben.

Als Beispiel für Verharmlosung nennt Kraske das ostbayrische Amberg, wo seit Jahren immer häufiger Neonazi-Konzerte stattfinden und Schwule Morddrohungen erhalten. Von den Verantwortlichen der Stadt werde das Problem aber geleugnet. Proteste dagegen würden als Provokation bezeichnet. Im baden-württembergischen Korb wiederum könne die NPD seit Jahren unkommentiert ihre Parteitage in einer Gaststätte mit Zustimmung von Landrat und Polizei abhalten.

Der Grund für diese Entwicklungen auch im Westen sei der allgegenwärtige Rassismus in Deutschland in all seinen Ausprägungen, sagte die Vorsitzende der Stiftung, Annetta Kahane. "Das ist das Grundübel, dass leider bisher nicht ernst genommen wird."

Bundesweites Netzwerk von Neonazis in Gefängnissen

Gegenbeispiele gibt es auch, wie das "Braune Haus" in Bad Neuenahr: Zwei Jahre lang hatte dort das "Aktionsbündnis Mittelrhein" sein Hauptquartier, bis die Polizei das Haus der rechtsradikalen Gruppe räumte. In der Stadt gibt es seit 2012 einen Runden Tisch, der sich gegen Rechtsextremismus einsetzt. Wie Verwaltung und Bürger mit den Rechtsradikalen umgehen, wenn sie aus dem Gefängnis entlassen werden, wissen sie aber auch noch nicht.

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Nimmt man den Fall des hessischen Gefängnisses Hünfeld als Beispiel, trennt aber auch Inhaftierung Neonazis und Rechtsextreme nicht von ihren Kollegen. In Hünfeld wurde ein bundesweites Netzwerk von inhaftierten Neonazis aufgedeckt. Mitarbeiter der hessischen Sicherheitsbehörden fanden zufällig eine Zeitschriftenanzeige, die auf die Gruppe hindeutete.

Er sei Mitglied einer "wilden Horde", die eines gemeinsam hätten, nämlich in Haft säßen, schrieb der Drahtzieher des Netzwerks in der Annonce. In seiner JVA habe er mit anderen die Gruppe ins Leben gerufen. Und es gebe schon Kontakte in andere Knäste in der Republik - etwa in Kassel, Frankfurt, Leipzig, Dresden, Kiel, Hamburg, Stuttgart, Gelsenkirchen oder Saarbrücken.

Rechtsradikale im Gefängnis "oft sehr angepasst"

In den Gefängnissen geben sich Rechtsradikale oft nicht offen zu erkennen. "Sie wirken meistens sehr angepasst, fallen nicht durch überbordende Verhaltensweisen auf", sagt Birgit Kannegießer vom hessischen Bund der Stafvollzugsbediensteten. Allerdings seien den meisten Beamten die Häftlinge mit extremer Gesinnung bekannt.

Viele geben ihre Ideologie auch durch Tätowierungen preis. "Wir müssen uns ein vollständiges Bild von den Gefangenen machen", sagt Hessens Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) und meint damit auch, dass einschlägige Tattoos fotografiert und in den Akten gesammelt werden.

Vorerst hat die hessische Justiz verdächtige Gefangene verlegt und voneinander getrennt und die Kontrollen bei Häftlingen verschärft. Vollzugsbeamte sollen besser ausgebildet werden, damit sie rechtsextreme Umtriebe schnell zu erkennen. Denn der Name des Mannes, der die Anzeige verfasst hat, steht nach inoffiziellen Angaben auch auf der Liste mit 129 Namen möglicher Helfer und Helfershelfer der Terrorzelle NSU.