Für die, die im Schatten leben

Kaffeetasse im Café Einstein Unter den Linden
Foto: Bernd Brudert, Montage: Linde Köhne
Für die, die im Schatten leben
Von der schlichten Schrippenkirche zur modernen Diakoniekirche
Zu Fuß ist Hans-Georg Filker vom Gendarmenmarkt herüber in das Cafe Einstein Unter den Linden in Berlin gekommen. In einer der beiden Taschen hat er seinen schwarzen Talar untergebracht. Denn kurz vorher hat er im Französischen Dom die Predigt in der Gottesdienstreihe "Heilsame Unterbrechung" für Politiker und Beamte gehalten, die er zusammen mit dem Bevollmächtigen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gestaltet. Kaum ein Politiker kennt ihn nicht, den (so sein offizieller Titel) Direktor der Berliner Stadtmission.

"Was machen Sie in zwei Jahren?" Ganz überraschend kommt die Frage für Pfarrer Hans-Georg Filker nicht, denn dann geht der heute 63-jährige Vater von sechs Kindern und Großvater von acht Enkeln in den Ruhestand. Seiner Frau, ebenfalls einer Pfarrerin und Autorin, hat er versprochen, nichts zu machen, womit sie nicht einverstanden ist. Offensichtlich hat sie Angst, dass ihr Mann – der frühere Wuppertaler Jugendpfarrer – etwas macht, was wieder den ganzen Tag ausfüllt. Konkreter will er nicht werden und die vereinbarte Gesprächsstunde ist zu schade, um weiter zu bohren.

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Denn Hans-Georg Filker hat einen prallgefüllten Terminkalender, ohne dies aber seine Gesprächspartner spüren zu lassen. Es sei denn, man kennt sich. Dann schaut er auch schon einmal etwas weniger diskret auf die Uhr. Ist der 63-jährige groß gewachsene Mann mit den weißen Haaren nun in erster Linie Pfarrer oder doch eher Manager? Die 20 Stadtmissionsgemeinden in Berlin haben mit ihren Projekten, Hotels und Gästehäusern und Sozialeinrichtungen für Obdachlose rund 500 haupt- und über 1.200 ehrenamtliche Mitarbeiter. Sie betreiben auch die zwei Kältebusse, die vom 1. November bis 31. März  Tee, Brote, Gespräche und Notunterkünfte anbieten für Menschen, die auf der Straße leben und bei den oft sibirischen Temperaturen im Winter zu erfrieren drohen.

"Hier ist ein Wunder geschehen"

Für Hans-Georg Filker ist das kein Unterschied. Er ist Pfarrer, was sonst, und als solcher fühlt er sich den Menschen verpflichtet, die im Schatten der Gesellschaft leben oder die eine Schwellenangst vor der Kirche haben. Sie versucht er mit Predigten in einfacher, aber packender Sprache zu erreichen – beispielsweise an Heiligabend mit Posaunen im Berliner Hauptbahnhof, in den Sommermonaten auf Ausflugsschiffen, das ganze Jahr über mit der "Frühschicht", zu der auch die "Heilsame Unterbrechung" im Französischen Dom zählt. Durchschnittlich an drei Sonntagen im Monat steht der Direktor der Stadtmission auf der Kanzel. Das sind seine drei wichtigsten Dinge, "die ich gern mache": Glaube, soziale Hilfe und Begegnung.

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Er hat es nicht gern, wenn man immer nur von seiner Sozialarbeit spricht, nicht aber von den Stadtmissionsgemeinden unter dem Dach der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz (EKBO), die auch pro Jahr eine Gottesdienstkollekte für die Stadtmission vorsieht. Dann ist er freilich wieder bei seinem Thema: "Ich brauche zwei Millionen Euro pro Jahr an Spenden." Über den Gesamtumsatz der Stadtmission schweigt er, weil da viele unterschiedliche Gelder zusammenkommen - Unterstützungen des Senats für die Kältebusse und die Sozialeinrichtungen, Pflegesätze und vieles mehr. Und so eine Einrichtung verfügt unter anderem über ein gutes bürgerliches Hotel wie den Albrechtshof in unmittelbarer Nähe zum Berliner Bahnhof Friedrichstraße?

Das Hotel, so Filker, sei ein Geschenk ehemaliger preußischer Adliger, die die 1877 gegründete Stadtmission unterstützen wollten. Es sollte so gut wie das legendäre Hotel Adlon sein, "aber nicht so teuer."  Zu DDR-Zeiten blieb das Hotel seitens der SED unangetastet, musste aber nach der Wende umfassend saniert werden. Doch das größte Projekt der Berliner Stadtmission sei ein anderes: 2002 bot ihr der Senat ein 20.000 Quadratmeter großes bebautes Gelände zwischen dem Gefängnis Moabit und dem Kanzleramt an. Zehn Millionen Euro sollte es kosten. Nach langem Ringen, so Filker, entschloss man sich, zuzugreifen. Heute bildet es mit vielen unterschiedlichen Einrichtungen das Zentrum der Berliner Stadtmission: "Hier ist ein Wunder geschehen. Dafür sind wir sehr dankbar."

Die Stadtmission "bleibt eine missionarische Gemeinde"

Dankbar war Filker auch, als Bundespräsident Horst Köhler 2004 in seiner Antrittsrede sagte: "Auch im sozialen Bereich brauchen wir noch mehr Ideen wie die der Berliner Stadtmission". Sein Vorgänger Johannes Rau teilte zwei Jahre zuvor sogar selbst in der Notübernachtung Essen an Obdachlose aus und freute sich köstlich, dass ihm ein Obdachloser die Hand drückte: "Mensch, Weizsäcker - dat wir uns mal treffen." Altbundespräsident Richard von Weizsäcker zählte selbstverständlich auch zu den regelmäßigen Unterstützern der Stadtmission und ihres Zentrums Lehrter Straße (benannt nach der Straße, an der es liegt).

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Als Filker 1989  zum Leiter der (noch Westberliner) Stadtmission berufen wurde, konnte er nicht ahnen, was an Arbeit auf ihn zukommen würde. Doch er hat seinen Entschluss nie bereut, an die Spree zu gehen. Und nach der staatlichen Einheit wurde auch die Ostberliner Stadtmission wieder mit der Westberliner zusammengeführt. 1878 wollte sie über die Sonntagschule für Kinder an deren Eltern in der schnell wachsenden Industriemetropole Berlin herankommen. Und weil die soziale Not zum Himmel schrie, wurde man bald zur Schrippenkirche. So der Volksmund. Weil den Besuchern der Gottesdienste der Stadtmission vorher eine Schrippe (Berliner Bezeichnung für Brötchen) geschenkt wurde.

Großen Wert legt Hans-Georg Filker darauf, dass die Stadtmission eine "missionarische Gemeinde" bleibt. Besonders freut sich Filker über einige "junge, wachsende Gemeinden". Und wichtig ist ihm, dass man "unter dem Dach der Landeskirche" bleibt - auch wenn die Stadtmission ein eigenständiger Verein ist, der auch seinen Direktor bezahlt. Für Filker ist das Besondere der Gemeinden der Stadtmission, dass sie "eine ausgeprägte Geh- und keine Komm-Struktur" haben.

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Großen Wert legt der Missions-Direktor auf diese Feststellung: "Wir betreiben keine Abwerbung." Er sieht auch keine Konkurrenz zur Ortsgemeinde der evangelischen Kirche: "Wir haben eine andere Tradition und wenden uns an Menschen, die sich mit der Kirche aus unterschiedlichen Gründen schwer tun."

Und im Blick auf die diakonische Arbeit hält er fest: "Wir machen nur das, wo Not ist, und nicht das, wo es um Geld geht." Deshalb hat man ein Heim für Asylbewerber mit 70 Plätzen, ein Wohnprojekt für schwerstkranke Alkoholabhängige, Notübernachtungen im Winter: "Wir nehmen jeden auf - mit oder ohne Tier." Und noch eines ist Direktor Filker wichtig, bevor er auf die Uhr schaut und meint: "Jetzt aber muss ich wirklich weg": "Wir sollten nicht immer nur klagen, uns nicht immer nur beschweren." Sondern? "Als Christen die Hand anlegen und etwas tun für die, die im Schatten leben."