"Ich bin am Ende jedesmal völlig fertig!"

Foto: Elmar Rasch
"Ich bin am Ende jedesmal völlig fertig!"
Was es bedeutet, Jesus Christus zu spielen
Verletzungen riskieren - dem anderen als Kind Gottes begegnen: Das tut Jesse Krauß buchstäblich, in doppelter Hinsicht. Er ist der Darsteller des Jesus Christus bei den Passionsspielen in Gelsenkirchen. Nicht nur, dass auf dem Porträtfoto noch ein Kratzer auf der Stirn von der Dornenkrone zu sehen ist - im Interview beschreibt Jesse Krauß, dass diese Rolle ein ziemliches Maß an Öffnung und Hingabe verlangt. Dabei ist er noch nicht einmal getauft.
28.03.2013
evangelisch.de

Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, sich ausgerechnet für die Rolle des Jesus Christus zu bewerben?

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Jesse Krauß: Ich bin eigentlich von Hause aus kein religiöser Mensch, ich bin auch weder getauft, noch religiös erzogen worden. Das alles war lange Zeit überhaupt kein Thema in meinem Leben. Im Grunde ist das erst im vergangenen Jahr in mein Leben getreten. Meine Partnerin hat mich dazu animiert, die Bibel zu lesen, vor allem das Neue Testament. Vieles davon hatte ich im Originaltext noch nie gelesen, ich kannte nur die biblischen Geschichten. Dann war ich im vergangenen Sommer eine Woche lang in einem Kloster im Sauerland zu einer Auszeit und habe dort an Angeboten der Ordensschwestern teilgenommen, z. B. an einer Wanderung auf einem Pilgerweg, der dort verläuft. Das war eine sehr schöne stille und besinnliche Zeit. Dann kam ich wieder nach Gelsenkirchen und las direkt in der Zeitung: "Jesus gesucht!" Und das war interessanterweise genau in der Kirchengemeinde, der ich schon eine ganze Weile durch meinen Beruf als Grafiker verbunden war. Und dann sagte meine Partnerin: "Also, das musst du jetzt machen." Für mich kamen da einfach ein paar Sachen zusammen: Ich heiße ja mit Vornamen Jesse, ich bin in der Schule auch schon immer ein bisschen mit "Jesus, Jesus"-Rufen aufgezogen worden, ich hatte auch früher schon lange Haare, bis heute - irgendwie hat alles zusammen gepasst.

War Ihnen klar, dass Sie da eine sehr herausgehobene Rolle spielen würden?

Krauß: Natürlich, mir war klar, dass das etwas Herausgehobenes ist. Damals, im letzten Jahr, war das erstmal so ein bisschen auch eine verrückte Idee, sich für diese Rolle zu bewerben. Als ich dann aber aus dem Casting kam - und angenommen war - da habe ich dann doch gemerkt: Das ist wirklich etwas Besonderes. Und das ist auch eine große Verantwortung. Das ist definitiv nichts, worüber man jetzt Scherze machen würde - obwohl natürlich viele Menschen in meinem Umfeld erstmal mit einem lustigen Spruch reagiert haben, als sie davon gehört haben. Aber für mich war das in dem Moment schon eine ganz wichtige, eine ganz ernsthafte Sache. Und ich habe ab diesem Tag dann auch ein ums andere mal in einer Kirche gesessen und Zwiesprache gesucht. Und auch mit der Tatsache, überhaupt auf einer Bühne zu stehen und Theater zu spielen, musste ich mich auseinandersetzen - denn ich hatte das zuvor ja noch nie gemacht. Ich bin eigentlich schon immer ein sehr ruhiger, stiller Typ gewesen, alles andere als extrovertiert. Ich denke, das passt eigentlich auch ganz gut zu Jesus: Für mich ist das ein Typ, der eher Ruhe und Sicherheit ausstrahlt.

"Ich helfe praktisch der Figur Jesus Christus, sich noch einmal auf der Bühne auszudrücken"

Wie versetzt man sich denn jetzt in so eine Rolle hinein, wie funktioniert das "Erarbeiten" von Jesus Christus?

Krauß: Am Tag des Castings, nachdem ich diese Rolle bekommen hatte, war mir klar: Das ist jetzt meine Aufgabe, das und nichts anderes. Ich wusste natürlich: Ich BIN nicht Jesus Christus, niemals - ich bin ein Darsteller. Und als solcher helfe ich praktisch der Figur, sich noch einmal auf der Bühne auszudrücken. Und wenn man das so angeht, ist das schon zu bewältigen. Alles andere würde, glaube ich, zwangsläufig überdreht.

Hatten Sie das Gefühl, eher eine historische Figur zu spielen? Oder einen Menschen? Oder etwas Größeres? Oder irgendetwas dazwischen?

Krauß: Mein persönlicher Zugang als "Heidenkind" zu Jesus ist ja letztendlich, dass er, neben allem anderen, was er natürlich darstellt - Sohn Gottes, Prophet, Erlöser - auch ein Philosoph ist. Und das war für mich eine Ebene, auf der ich mich gut auch dieser Rolle nähern konnte.

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Können Sie sich an das Gefühl in der ersten Probe erinnern, als Sie das erste Mal als Jesus "aufgetreten" sind?

Krauß: Da war schon alles noch ganz neu und auch ein bisschen fremd, vor allem auch das Schaupielern an sich - wir sind ja auch eine Gruppe, die fast ausschließlich aus Laiendarstellern besteht. Aber von Probe zu Probe wurde das immer sicherer und immer klarer und - das ist für mich eigentlich das größte Wunder - es ist mir alles sehr leicht gefallen. Das hat sich so entwickelt - und ich habe auch eine große Freude daran bekommen.

Und wie war es, das dann alles das erste Mal vor einem großen Publikum zu zeigen, bei der Premiere?

Krauß: Natürlich hatte ich ein bisschen Angst vor der Situation. Aber da ich ja wusste, ich bin nicht Jesus Christus, sondern nur sein Darsteller, hatte ich auch keine Angst mehr, der Rolle nicht gerecht werden zu können. Und da ich außerdem wusste, dass wir gut geprobt und uns gut vorbereitet hatten, und dass wir lauter gute Leute in unseren Reihen haben, habe ich schon geglaubt, dass das Ganze gut wird. Und das war es ja dann auch. Aber es hat schon gekribbelt im Bauch, zumal mich auch noch ein Kamerateam des WDR begleitet hat. Aber das wichtigste Element in dieser Situation war trotz allem letzten Endes die Freude, das jetzt machen zu können.

"Dass man sich auch als Jesus-Darsteller bis zu einem gewissen Grad hingibt, stand für mich außer Frage"

Fühlt man sich in so einem Moment nicht auch sehr verletzlich? Man spielt eine ganz besondere Rolle, an die hohe Erwartungen geknüpft sind, als Laie. Viele Menschen und eine Kamera schauen auf einen, während man Angst, Wut, Verzweiflung und Zuversicht versucht, zu zeigen. Man entblößt sich in seinem Spiel - und später auch noch buchstäblich, wenn man ans Kreuz gehängt wird. Wie sehr öffnet man sich da und riskiert gewissermaßen auch Verletzungen?

Krauß: Das hat in dem Moment für mich gar nicht mehr so eine große Rolle gespielt. Das kam daher, dass ich mich ja im Vorfeld viel mit Jesus beschäftigt hatte und wusste, dass er sich aus Liebe für die Menschen hingibt. Dass man das als Darsteller des Jesus bis zu einem gewissen Grad in diesem Moment dann auch tut, das stand für mich deshalb eigentlich außer Frage. Das war eigentlich seit der ersten Probe klar. Dafür habe ich persönlich auch einen langen Weg gemacht, an dessen Ende ich gelernt habe, quasi "aus mir heraus zu gehen" und mich auch zu öffnen, also ein Stück weit "hinzugeben".

Und wie sehr können oder müssen Sie sich als Jesus-Darsteller dann in diesem Passionsspiel auch ins Leiden hinein begeben?

Krauß: Na ja, ich weiß natürlich, ich werde bei diesem Stück nicht sterben - es ist ja nur Theater. Aber ich lasse mich schon ein auf diese starke Berührung, die da stattfindet. Die steigert sich im Verlauf der Handlung bei mir. Und es steigert sich auch die Anstrengung. Ich bin am Ende des Stückes jedesmal völlig fertig, auch körperlich!

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Was war denn für Sie die härteste Erfahrung bei diesem Projekt?

Krauß: Das Härteste oder Anstregendste ist sicherlich, dass man eben doch "so mitschwingt". Beim Kreuzweg zum Beispiel: Ich trage das Kreuz  - das wiegt übrigens auch schon ein bisschen was - durch den Mittelgang der Kirche, mitten durch das Publikum hindurch und falle dabei auch mehrmals schmerzhaft auf die Knie - und dann höre ich von links und rechts die Reaktionen, wie dann doch auch schon in Taschentücher geschnieft wird. Und dann muss ich teilweise auch schon wirklich schniefen, obwohl ich eigentlich nicht schnell weine normalerweise. Dann höre ich zum Teil auf, Schauspieler zu sein und werde wirklich zu dem Geschundenen, der da das Kreuz durch die Menge trägt. Undwenn ich dann oben auf der Empore am Kreuz hänge und den Kopf nach links drehe, sehe ich dort im Kirchenfenster einen Engel. Dann kommt immer nochmal ein ganzer Schwall von Gefühlen, dann denke ich an diese sanfte Hand und an das "Lass' diesen Kelch an mir vorüber gehen!" Das nimmt einen unheimlich mit. Und wenn ich dann beim Schlussapplaus auf der Bühne stehe, dann bin ich schon vollkommen erschöpft.

Und was macht Ihnen am meisten Spaß bei dem Ganzen?

Krauß: Die größte Freude habe ich am Sprechen: Zu lernen, mit Sprache zu gestalten, zu formen und sich auszudrücken. Ich habe regelrecht eine neue Stimme bekommen, ein neues Sprechen gelernt.

"Den Jesus Christus spielen - das macht man nur einmal im Leben"

Würden Sie, wenn es in den nächsten Jahren wieder Passionsspiele in Gelsenkirchen geben sollte, noch einmal den Jesus spielen?

Krauß: Nein. Zum einen wäre ich dann nicht mehr im klassischen Jesus-Alter. Und zum anderen finde ich, sollte das dann auch wieder etwas Neues, ganz anderes sein. Außerdem finde ich ganz persönlich: Den Jesus Christus spielen - das macht man nur einmal im Leben. Aber weiter Theater spielen, das möchte ich schon, da ist eine Tür für mich aufgegangen.

Was ist, wenn Sie zurück schauen, für Sie das Wichtigste an dem Projekt "Passion"?

Krauß: Von einem ungetauften "Heiden" ausgesprochen: Ganz klar Verkündigung! Jesu' Botschaft - das ist der Kern der Geschichte.

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Wie werden Sie in diesem Jahr Ostern feiern?

Krauß: Für mich als Ungetauften, in kirchenfernen Verhältnissen Aufgewachsenen war Ostern früher immer das mit dem Eier suchen. Dann hat man mir im Religionsunterricht ein bisschen mehr erzählt. Aber ich denke mal, dieses Osterfest wird sicherlich für mich jetzt eine ganz neue Qualität haben. Vielleicht könnte man sagen: Es ist mein erstes Ostern! Außerdem werde ich natürlich auf der Bühne stehen: Unsere letzten beiden Aufführungen sind am Ostersonntag und am Ostermontag.