Unterwegs mit dem Gottesdienst-Shuttle

Foto: Wikimedia/Ralf Gruner
Landschaft bei Lubań (ehemals Lauban) in Niederschlesien.
Unterwegs mit dem Gottesdienst-Shuttle
In Polen holt der Pastor der einzigen deutschsprachigen evangelischen Gemeinde seine Mitglieder zum Kirchbesuch höchstpersönlich an der Haustür ab – mit dem Gottesdienstshuttle.

Früher, das war, als Pastor Meißler noch den Gottesdienst hielt. Eine schöne Zeit. "Rübezahl" nannte er sein altes Auto, mit dem er anreiste. Manchmal brachte er Hula-Hoop-Reifen mit, wenn er in Sulików (Schönberg) übernachtete. Pastor Meißler war immer so menschennah. Am Schluss wollte man ihn zwingen, die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Das wollte er nicht und wurde ausgewiesen. Das war Ende der 1950er Jahre.

Sabine Hermann lädt in der Küche ihres kleinen Fachwerkhaus in Sulików zum Tee. Es riecht nach Pflanzen und Wasserschäden. "Ich gebe keine Interviews", stellt sie gleich zu Anfang klar, erzählt dann aber doch von der Vergangenheit.

20 Kilometer zur Kirche

Jeden zweiten Samstag im Monat kommen Pastor Dawid Mendrok und Kantor Maciej Skrzypczyk bei Sabine Hermann vorbei, um sie mit dem Kleinbus zum Gottesdienst abzuholen.

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Es geht ins 20 Kilometer entfernte Lubań (Lauban). Sabine Hermann, pensionierte Lehrerin, ist Mitglied der Christophorigemeinde. Deren Pfarrhaus steht im 150 Kilometer entfernten Breslau und gehört zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche, zu den polnischen Lutheranern. Es ist die einzige deutschsprachige Gemeinde des Landes. Die betagten Mitglieder leben verstreut im ehemals evangelischen Niederschlesien.

Pastor Mendrok, ein lang gewachsener Mann, stellt einen Schemel vor den Bus, über den Sabine Hermann in den Bus klettert. Mendrok fährt an der graubraunen Sulikówer Stadtkirche vorbei, einst evangelisch. Dort nahmen die Polen einige Wochen nach Kriegsende den Hahn vom Kirchturm, setzten ein Kreuz darauf und weihten die Kirche. Sabine Hermann erinnert sich: Den evangelischen Bewohnern habe der katholische Priester, sie könnten die Kirche nun nicht mehr betreten. "Wir müssten sonst die Kirche jedes mal neu weihen", habe er gesagt.

Gesangbuch in der Erstausgabe von 1908

Die Fahrt geht durch Kastanien-Alleen, vorbei an Höfen, Vorwerken und Feldern. Schönberg oder Sulików, Heidersorf oder Włosień, Lauban oder Lubań, Sabine Hermann nutzt beide Namen.

Sie will sich nicht beklagen. Ihr Vater wurde nicht vertrieben, er musste bleiben, die Sowjets brauchten den Ingenieur als Fachkraft. Als junger Mann sei er in Polen herumgereist, um die Demontage elektrischer Anlagen anzuleiten, die dann in die Sowjetunion gebracht worden seien, erzählt Sabine Hermann. Im Zug sei er auf Menschen getroffen, die durch die Hand deutscher Besatzer alle Angehörigen verloren hätten. Doch nie sei er angegriffen worden. Zudem: Die Polen, die 1945 die Häuser der Deutschen bezogen hätten, die hätten ja auch ihre Heimat verlassen müssen. Als vor zwei Jahren das Hochwasser bis einen Meter hoch im Haus von Sabine Hermann stand, habe ihr das halbe Städtchen geholfen.

Sabine Hermann vor ihrem Haus in Sulików. Foto: Jens Mattern

In der schmalen gotischen Frauenkirche in Lubań warten die Gemeindeglieder auf den Pastor. Eine gebeugte ältere Dame lugt schelmisch unter ihrem hellblauen Filzhut hervor. "Sie wollen über unsere überfüllte Kirche schreiben," sagt sie. Gertraut Böhme, die ehemalige Gemeindevorsitzende, spricht immer noch hervorragend Hochdeutsch. Polnisch hat sie nie lernen müssen oder wollen. "Ich verstehe nichts, rufen Sie später wieder an." So lautet einer der wenigen Sätze, die sie auf Polnisch äußert.

Die Orgel, die ihr Schwiegervater einst gebaut hat, ertönt. "Ich steh’ mit einem Fuß im Grab" singen die Menschen gegen die kraftvollen Pfeifentöne an, aus ihren Mündern flieht der sichtbare Atem. Gesungen wird Lied 484 aus dem "Schlesischen Provinzial Gesangbuch". Es ist die Erstausgabe von 1908, in Frakturschrift gedruckt. Pastor Mendrok predigt über Hiob, der leiden muss und auf die Frage nach dem Warum keine Antwort bekommt. Das müsse man als Christ aushalten, sagt er.

Nach dem Gottesdienst bleibt kaum Zeit für Gespräche, der Pastor muss weiter in die Erlöserkirche im 70 Kilometer entfernten Jelenia Góra (Hirschberg). Dawid Mendrok braust mit seinem VW-Bus über die Landstraße, im Hintergrund das Riesengebirge, ein Wolkenkranz leuchtet auf der weißen Schneekoppe.

Akzeptiert "als Pfarrer wie als Enkel"

"Zuhören, das ist wichtig, die Frauen erzählen immer die gleichen Geschichten", meint der 34-Jährige, dessen schlesische Großeltern ebenfalls Deutsche waren. Es seien vor allem Frauen übrig geblieben, deren Väter nicht vertrieben wurden und die später Polen heirateten.

Zwei Gottesdienste pro Tag hält der Pastor am Wochenende. Für den Sonntag stehen Wrocław (Breslau) und Walbrzych (Waldenburg) auf der Liste. Hinzu kommen gelegentlich Bibelstunden und Seelsorge. Als er vor sechs Jahren die Stelle antrat, sei er gleich akzeptiert worden – "als Pfarrer wie als Enkel", sagt Mendrok mit einem Lächeln.

Eine Stunde später sitzen Elisabeth Matusz und Charlotte Najmrocka.in der spätbarocken Hirschberger Kirche. Sie haben ihre Lesebrillen neben die Gesangbücher auf die weiße Bank gelegt und lauschen der Predigt, dann der Verlesung der Verstorbenen. Die Liste ist lang: Erst vor zwei Wochen war eine Beerdigung. Sie sind die Letzten. Elisabeth Matusz ist katholisch, doch sie kommt um der Sprache willen. Wie bei Frau Hermann hört ist kein polnischer Akzent zu hören. Charlotte Najmrocka dagegen löst Kreuzworträtsel am liebsten auf Polnisch, in den heutigen deutschen Heften seienso viele unbekannte Wörter dabei, sagt sie. Doch wenn es um den Glauben geht, ist der alten Dame die deutsche Sprache weiterhin wichtig.

Minderheitenrechte brachten die Wende

Deutsche Protestanten in Polen – für die kommunistische Führung in Warschau war das ein Übergangsproblem. Direkt nach dem Krieg betreuten verbliebene deutsche Pfarrer die schrumpfenden Gemeinden. Nach den letzten Ausweisungen, Ende der 1950er Jahre, predigten polnische Lutheraner, mal auf Polnisch, mal auf Deutsch. Eine eigene Gemeinde durften die Deutschen nicht haben, zu stark waren die Spannungen zwischen Westdeutschland und der Volksrepublik Polen.

Pastor Dawid Mendrok fühlt sich akzeptiert. Foto: Jens Mattern.

Im demokratischen Polen brachte die Einführung von Minderheitenrechten die Wende. Der Vikar Ryszard Borski, damals zuständig für die betagten Muttersprachler in Niederschlesien, konnte 1993 eine Gemeinde innerhalb der evangelisch-augsburgischen Kirche gründen, mit vollen Rechten.

Saßen in den 1990ern noch ausschließlich alte Menschen in den Bänken der Breslauer Christopherikirche, so sind heute bereits 30 Kinder dabei. Sie gehören deutsch-polnischen Paaren, Expatriierten, Selbstständigen. Denn heute ist Breslau ein Zentrum für IT-Firmen, ein überregionaler Wachstumsmotor.

Die meisten Nachkommen sind katholisch

Walbrzych ist die letzte Station der Bustour des Pastors. In der ehemaligen Bergarbeiterstadt dominiert im Gegensatz zur Boomtown an der Oder weiterhin das Grau.
Viele der deutschen Kumpel mussten dort nach Kriegsende weiter unter Tage. Ihre Töchter chauffiert Mendrok heute zum Gottesdienst. Der Bus ist voll. Frau Roszak zeigt stolz Tauf-Fotos ihrer Urenkelin im Bus herum, wie bei den meisten sind die Nachkommen katholisch.

Neben dem Aufschwung hat auch die deutsch-polnische Annäherung in Walbrzych noch Schwierigkeiten. Wenn sie auf der Straße Deutsch sprächen, würden sie ab und zu noch angefeindet, erzählen Charlotte Lamek und Waltraut Wyszynska. Die heute 84 Jahre alte Wyszynska kehrte als Vertriebene illegal wieder zurück, da es in Berlin im Sommer 1945 für Flüchtlinge nichts zu essen gab.

Propst Andrzej Fober leitet die Gemeinde seit 1999. "Ganz unumstritten ist unser Projekt nicht", sagt er. Die Leitung der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Warschau frage sich manchmal, weshalb für so wenige Menschen so viel Benzin verbraucht werde. Und noch eine Tatsache macht es nicht gerade leichter: Die 70.000 polnischen Lutheraner in dem katholischen Land standen lange unter Verdacht, "verkappte Deutsche" zu sein.

Der 54-jährige Fober, der österreichische Vorfahren hat, sieht sich als Verfechter der deutschen Sprache in Schlesien, der Sprache Luthers und Bachs. Aus politischen Fragen will er sich heraus halten. Mit dem Bund der Vertriebenen gebe es keine Kontakte. Zwei Handymasten auf dem Breslauer Kirchturm sorgen für die weitgehende finanzielle Unabhängigkeit der Gemeinde.

Der Bus kann weiterrollen. Bis zur letzten Kirchgängerin.