Janusz Korczak: "Die Kinder sollen selbst regieren"

Foto: epd-bild/Dieter Sell
Der Klassenrat der Klasse 1a tagt in der Findorff-Grundschule in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen: Die Kinder, die sich in der Vorwoche vorbildlich verhalten haben, dürfen sich ein kleines Präsent aussuchen.
Janusz Korczak: "Die Kinder sollen selbst regieren"
Vor 70 Jahren starb der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak
Er war bereit, für andere zu sterben. Mit den ihm anvertrauten Waisenkindern ging der jüdische polnische Humanist Janusz Korczak in die Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka. Der Arzt und Pädagoge war radikal - in seinem Denken und Handeln.
06.08.2012
epd
Dieter Sell

Max ruckelt sich kurz auf seinem Stuhl zurecht und macht den Rücken gerade. "Hat jemand ein Lob?", fragt der Siebenjährige in die Runde. Heute leitet er in der 1a der Findorffschule in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen den wöchentlichen Klassenrat. Lehrerin Imke Komesker sitzt zwar dabei, ihre Stimme wiegt aber nicht mehr und nicht weniger als die jedes Kindes im Stuhlkreis. Der Rat beginnt positiv, doch bald geht es ans Eingemachte. Der Pole Janusz Korczak (1878-1942) hätte seine Freude daran.

###mehr-links###

Der jüdische Arzt, Schriftsteller und Pädagoge, als Henryk Goldszmit geboren, gründete 1912 unter seinem literarischen Pseudonym in Warschau ein Waisenhaus für arme und verwahrloste Kinder. Überzeugt davon, dass sie selbstbestimmt leben können, ermutigte er seine Schützlinge dazu, ein Parlament zu wählen, ein Gericht einzusetzen und eine Wochenzeitung herauszugeben. Ein radikaler pädagogischer Ansatz, der bis heute wirkt, auch wenn Korczak vor 70 Jahren von den Nationalsozialisten getötet wurde. Einrichtungen wie der Klassenrat in der Findorffschule gehen auf seine Ideen zurück.

In der Geschwisterbücherei in Worphausen bei Bremen schmökern zwei Jungen. Die Bücherei wurde nach Janusz Korczak benannt. Foto: epd-bild/Dieter Sell

"Die Kinder sollen selbst regieren", schreibt Korczak in der Heimzeitung seines Waisenhauses. "Wenn sie das gut besorgen, dann wird es ihnen gut gehen; wenn sie schlecht regieren, wird es ihnen schlecht gehen. So werden sie lernen, gut zu regieren, sie werden vorsichtig sein, weil sie wollen, dass es ihnen gut geht." Kinder dürfen nicht Objekt der Erziehung sein, sondern sind handelnde Subjekte, verdeutlicht der Bielefelder Arzt, Erziehungswissenschaftler und Korczak-Experte Michael Kirchner die Überzeugung des Polen.

Trotz Fluchtmöglichkeit: Korczak blieb im Ghetto

Korczak ist international vor allem bekannt, weil er seine jüdischen Waisenkinder während der deutschen Besatzung nicht im Stich ließ. Auch nicht, als das Heim ins Warschauer Ghetto verlegt werden musste. Als ihm Helfer eine Möglichkeit zur Flucht anboten, blieb er. Korczak entschied sich für ein Leben im Schatten des Todes. Am 6. August 1942 deportierten die Nazis ihn und etwa 200 seiner Waisen in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie wie die meisten der Warschauer Juden ermordet wurden. Korczak wich die ganze Zeit nicht von der Seite seiner Kinder.

###mehr-info###

Heute sind Schulen, Kindergärten, Straßen und Häuser nach ihm benannt. Das polnische Parlament erklärte 2012 zum Korczak-Jahr, zahlreiche Veranstaltungen erinnern an Leben, Werk und Erziehungsideale des Humanisten. "Achtung und Anerkennung - das sind seine Leitbegriffe, auch im Zusammenleben mit seinen Waisenhauskindern", sagt Kirchner und zitiert einen zentralen Satz von Korczak: "Das Kind wird nicht erst Mensch, sondern ist bereits Mensch."

Danach hat Imke Komesker ihre Arbeit als Klassenlehrerin ausgerichtet. Und mit ihr die ganze Schule. Die 1a hat sich selbst Regeln gegeben, die den Unterricht ordnen. Beim Klassenrat geht es zur Sache, als Maria sich beschwert, Selina habe sie nach einem Kuss von ihr angeschrien: "Ich möchte nicht, dass Du mich anschreist - Du kannst mir doch auch normal sagen, dass Du nicht geküsst werden willst." Wenig später bittet Selina um Entschuldigung und reicht Maria die Hand. "Angenommen", sagt Maria und schlägt ein.

"Das ist nicht angenehm, auf etwas angesprochen zu werden, was ich getan habe", sagt Imke Komesker. "Aber darüber zu reden, damit sich nichts hochschaukelt, das ist schon die halbe Miete". Die wichtigste Regel dabei heiße "Verzeihen", betont Komesker.

Im Klassenrat lernen Kinder Demokratie

"Korczak ging es um das Verstehen und nicht darum, einen Rat zu geben", sagt auch die Bremer Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide. Sie richtet ihre Arbeit mit Geschwistern behinderter Kinder seit Jahrzehnten nach den Prinzipien Korczaks aus.

Sein wohl bekanntestes Kinderbuch "König Hänschen der Erste" lässt sein Lebensthema aufscheinen. Es ist die Geschichte des Königsohns Hänschen, der als Zehnjähriger Waise wird und ein Kinderparlament einrichtet. Demokratie gibt es für das ganze Volk, eben auch für die Kinder, die gleichberechtigt mitentscheiden. Dabei merkt Hänschen schnell, dass das Regieren verzwickt ist. "Diese Erfahrung auch im Klassenrat darf man den Kindern nicht nehmen", ist Lehrerin Imke Komesker überzeugt.

###mehr-artikel###

Die Vereinten Nationen würdigten Korczaks Lebenswerk, indem sie 1979 zum Internationalen Jahr des Kindes erklärten. Die 1989 beschlossene UN-Kinderrechtskonvention ist stark von Korczaks Ideen beeinflusst. Wie kaum ein anderer Pädagoge verstand er es, seine Theorie mit der Praxis zu verknüpfen. Dabei sei es ihm nie darum gegangen, ein pädagogisches System zu formen, sagt der Bielefelder Experte Kirchner. "Er wollte keine besseren Menschen aus ihnen machen", urteilt auch Imke Komesker. "Er wollte einfach jedem Kind persönlich gerecht werden."