Jeder Wasserspeier hat ein anderes Gesicht

Foto: flickr/Oliver
Jeder Wasserspeier hat ein anderes Gesicht
Der Blick auf die Welt von oben - vom Ulmer Münster
Das Ulmer Münster hat den höchsten Kirchturm der Welt. Tausende Touristen erklimmen jedes Jahr die 768 Stufen bis zur Kirchturmspitze. Dieter Bitschenauer tut das fast jeden Tag - er arbeitet seit 22 Jahren als Turmwart auf dem Münster. Die traumhafte Aussicht aus luftiger Höhe ist für ihn Alltag, langweilig wird sie ihm nie.
14.08.2012
evangelisch.de

Mit dem Wetter kennt sich Dieter Bitschenauer mittlerweile bestens aus. Wenn er vom Hauptturm des Ulmer Münsters aus die Alpen sehen kann, dann hat die traumhafte Aussicht einen unguten Beigeschmack: "Ein paar Tage später kommt dann immer schlechtes Wetter", sagt Bitschenauer. Der 63-Jährige ist Turmwart auf dem höchsten Kirchturm der Welt.

###mehr-links###

Die Wetterbeobachtung gehört zu seinen wichtigsten Aufgaben, denn er muss einschätzen, ob es sicher ist, die Besucher bis auf die oberste Aussichtsplattform steigen zu lassen. Der Hauptturm misst 161,53 Meter, 768 Stufen führen nach oben. Die letzten Meter zur Spitze des Turms müssen die Besucher über eine enge Wendeltreppe erklimmen, die gleichzeitig zum Auf- und Abstieg dient. Frost auf den Steinstufen oder starker Wind können gefährlich sein.

Das Ulmer Münster liegt im Herzen der Stadt und zieht jedes Jahr Tausende Touristen an. Das verraten schon die Wände des Treppengangs, der zur Turmspitze führt. Unzählige Namen sind in den Sandstein geritzt oder mit Stiften darauf geschrieben, meistens mit Datum, manchmal mit einem Spruch. "Mount Everest geschafft!" hat jemand auf der ersten Aussichtsplattform auf 70 Metern Höhe auf die Wand geschrieben. Dabei hat man hier gerade mal die Hälfte des Weges hinter sich.

Das Bild von oben verändert sich ständig

Dieter Bitschenauer legt die gesamten 768 Stufen bis zur Turmspitze fast jeden Tag zurück - und das seit knapp 22 Jahren. Als Turmwart hat er ein Auge auf die Besucher, ist Ersthelfer in Notfällen, achtet auf eventuelle Schäden am Bauwerk und schließt abends die Kirche ab. Der Blick von oben auf Ulm und die Umgebung ist für Bitschenauer seit Jahren Arbeitsalltag, wird ihm aber nie langweilig. Das Bild verändere sich schließlich ständig, sagt er – durch neugebaute Häuser und auch durch die Jahreszeiten. "Das ist so schön zu sehen, wie die Natur nach dem Winter wiederkommt", sagt Bitschenauer und deutet auf die vielen grünen Bäume, die zwischen den Häuserdächern der Innenstadt hervorschauen.

Dieter Bitschenauer ist seit 22 Jahren Turmwart auf dem Ulmer Münster. Foto: Jasmin Maxwell

Bitschenauer kennt fast alle Gebäude rund um das Münster, weiß ihre Namen und oft auch kleine Geschichten dazu. Er erzählt gerne und lacht viel dabei. Wenn er einem Touristen eine Frage beantwortet, kann es passieren, dass sich eine Traube von Menschen um ihn bildet, ohne dass er es bemerkt. "Der rote Turm auf der anderen Seite der Donau, der ein bisschen schräg steht, das ist der Metzgerturm", berichtet er.

Der Legende nach flüchteten einst die Metzger der Stadt vor den Ulmer Bürgern in diesen Turm. Die Ulmer waren erbost darüber, dass die Metzger die Wurst mit Sägespänen gestreckt hatten. Als der wütende Bürgermeister das Turmzimmer betrat, in dem die Metzger sich versteckten, drängten die sich in einer Ecke des Raums zusammen. Wegen der Leibesfülle der Metzger gab der Turm unter ihrem Gewicht nach und neigte sich ein Stück in Richtung Boden.

Über 500 Jahre Bauzeit

Solche Geschichten will man eigentlich lieber nicht hören, wenn man auf dem höchsten Kirchturm der Welt steht. 1377 begann der Bau des Münsters, erst 1890 wurde das evangelische Gotteshaus fertiggestellt. Wer heute vor dem Münster steht, sieht, was die lange Bauzeit bedeutet: Die Fassade des Gebäudes besteht aus unterschiedlichen Materialien – im Kirchenschiff sind Ziegelsteine verbaut, am Hauptturm wechseln sich dunkle und helle Steine ab. Der Kalkstein aus der Region reichte für den Bau der großen Kirche nicht aus. "Die Steine wurden dann in der Reihenfolge verbaut, wie sie auf der Baustelle ankamen", berichtet Ingrid Helm-Rommel. Sie ist als Münsterbaumeisterin zuständig für die Erhaltung des Bauwerks - eine nie endende Aufgabe.

Der Hauptturm des Ulmer Münsters ist der höchste Kirchturm der Welt. Foto: Jasmin Maxwell

1996 trat Helm-Rommel ihre Stelle an, eigentlich sollte damals die Chorfassade an der Rückseite des Münsters restauriert werden. Doch es kam anders: Im südlichen Chorturm wurde ein schwerer Schaden festgestellt, der dringend zuerst behoben werden musste. Die Arbeiten dauerten bis 2010. Aktuell läuft die lange geplante Restaurierung der Chorfassade. "Leider reagiert man bei so einem großen, alten Gebäude meistens eher auf Schäden, anstatt Schäden vorzubeugen", sagt Helm-Rommel. "Aber das Münster wurde nicht in einer Generation erbaut. Wir können es auch nicht in einer Generation komplett restaurieren."

Momentan werden Instandhaltungsarbeiten am Hauptturm vorbereitet, die 2015 starten sollen. Vorher wird eine Übersicht erstellt, welche Materialien verbaut sind und was für Schäden an den unterschiedlichen Steinen bestehen. Denn die unterschiedlichen Baumaterialien weisen verschiedene Schäden auf und reagieren anders auf Hitze und Kälte, dehnen sich unterschiedlich stark aus. "In einem solchen Gebäude ist immer Bewegung", sagt Helm-Rommel.

"Große Baukunst"

Das erinnert wieder an die Geschichte über den schiefen Metzgerturm von Turmwart Bitschenauer. Die Bewegungen in den Steinen des Münsters, die sich bei Frost zusammenziehen und bei Hitze ausdehnen, sind allerdings so minimal, dass sie keine Auswirkungen auf die Neigung des Turms haben. Bitschenauer lehnt sich gegen die Brüstung der Aussichtsplattform. "Es fasziniert mich, wie Menschen so etwas erbaut haben", sagt er. Viele der technischen Hilfsmittel, die Architekten und Ingenieure heutzutage nutzen, gab es zur Bauzeit des Ulmer Münsters noch nicht, dennoch steht die Kirche fest und sicher.

###mehr-artikel###

Bitschenauers Begeisterung für das alte Bauwerk war ein Grund, warum er 1990 seinen gelernten Beruf – Gas- und Wasserinstallateur – gegen den des Turmwarts tauschte. Er deutet auf ein meterhohes Steinornament direkt vor der Aussichtsplattform. "Das ist doch eine große Baukunst, Steine so zu formen, dass solche Kreuzblumen daraus werden", sagt er. Dann zeigt er auf die Wasserspeier, die die Fassade der Kirche schmücken. "Ist es nicht wunderschön, was man aus Stein machen kann?" Jeder Wasserspeier sieht ein bisschen anders aus – der eine mehr wie ein Hund, ein anderer wie ein Drache, ein dritter wie ein Widder. Man glaubt Dieter Bitschenauer, dass der Ausblick vom Ulmer Münster auch nach 22 Jahren nicht langweilig wird.