Jean-Jacques Rousseau: Eine Preisfrage veränderte sein Leben

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Jean-Jacques Rousseau auf einem Gemälde von Maurice Quentin de Latour (ca. 1753).
Jean-Jacques Rousseau: Eine Preisfrage veränderte sein Leben
Der französische Philosoph wurde vor 300 Jahren geboren - am 28. Juni 1712
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war ein Mensch voller Widersprüche. Er schrieb einen Erziehungsroman, aber seine eigenen fünf Kinder gab er ins Findelhaus. Der Philosoph wurde angefeindet, verfolgt, per Haftbefehl gesucht. Mit seinen Ideen vom Urbild des freien menschlichen Lebens und einem Gesellschaftsvertrag war er dem Denken seiner Zeit voraus.
28.06.2012
epd
Claudia Schülke

Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche hat seinen französischen Kollegen als "Idealist und Kanaille in einer Person" bezeichnet und als "Missgeburt" beschimpft, "welche sich an der Schwelle der neuen Zeit gelagert hat." Rousseau, geistiger Wegbereiter der Französischen Revolution und Vordenker des Sozialismus, wurde vor 300 Jahren, am 28. Juni 1712, in Genf geboren.

Kein Wunder, dass er sich als Vater überfordert fühlte: Seine Mutter starb neun Tage nach seiner Geburt, sein Vater, ein Uhrmacher, gab seinen zehnjährigen Sohn in die Obhut seines Schwagers, als er Genf wegen einer Rauferei fluchtartig verlassen musste. Auch später kümmerte er sich nicht um seinen Sohn. Für Rousseau begann ein unstetes Leben zwischen Erziehern, die ihn misshandelten, und Behörden, die ihn verfolgten.

Als Vagabund und Flüchtling machte er ungeahnte Karriere im Frankreich des absolutistischen Ancien régime. Nach einer Lehre als Graveur geriet er unter die Fittiche einer Gönnerin: Obwohl Madame de Warens ihn zu ihrem Liebhaber machte, nannte er sie zärtlich "Maman". Sie ließ ihn an der Dom-Musikschule von Annecy in Flöte und Chorgesang ausbilden. Hier erwarb Rousseau seine musikalischen Grundkenntnisse, mit denen er später als Opernkomponist und Verfasser eines Musiklexikons in Paris reüssierte.

Kein Fortschritt durch Wissenschaft und Kunst

Immer wieder verloren sich Mäzenin und Günstling aus den Augen, immer wieder musste sich Rousseau auf Wanderschaft als Sekretär, Diener oder Musiklehrer verdingen. Sein "Ideal eines glücklichen Lebens" fand er 1735 auf dem ländlichen Anwesen Les Charmettes, das seine Gönnerin vor den Toren Chambérys gepachtet hatte. Hier konnte er nach Herzenslust lesen, musizieren und schreiben.

Dennoch zog er 1742 nach Paris, um sich ein Notationssystem patentieren zu lassen. Dort ließ er seine erste Oper aufführen und knüpfte in den literarischen Salons Kontakte zu den führenden Intellektuellen seiner Zeit, darunter die Enzyklopädisten Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d'Alembert. Im selben Jahr lernte er auch die spätere Mutter seiner Kinder kennen: die Wäscherin Thérèse Levasseur.

Die alles entscheidende Wende erfuhr sein Leben, als Rousseau auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon stieß: In seiner "Abhandlung über die Wissenschaften und Künste" verneinte er den sittlichen Fortschritt der Menschheit durch Wissenschaft und Kunst. Er lehnte die konventionelle Gesellschaft ab, weil sie den Menschen versklave. Die Geschichte der Zivilisation wird bei ihm zu einer Geschichte der Dekadenz. Dass er den Menschen in seinem Naturzustand vorzog ("zurück zur Natur"), nahm ihm später der Anthropologe Arnold Gehlen übel: "Es muss heißen: Zurück zur Kultur!"

Die "natürliche Religion" und "Émile": Das Buch wurde verboten

Immerhin: 1750 erhielt er den ersten Preis und wurde in ganz Europa bekannt. Doch er handelte sich auch Widerspruch ein. Seine "Abhandlung über Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen" schrieb er 1755 lieber in Amsterdam. Lange vor Karl Marx lehnte Rousseau die Aneignung des Arbeitsertrags durch einige wenige ab und wurde damit zum Vordenker des europäischen Sozialismus. Von einer Abschaffung des Privateigentums ist bei ihm aber nicht die Rede.

Immer wieder zerstritt er sich mit seinen Förderern. 1758 mietete er ein Haus in Montmorency. Hier verfasste er die Werke, die ihm Weltruhm bescherten: den Briefroman "Julie oder Die neue Heloise" (1761), den Erziehungsroman "Émile" (1762), mit dem er den Zorn der Kirche auf sich zog, und die staatstheoretische Schrift "Vom Gesellschaftsvertrag" (1762), die die Begriffe der Volkssouveränität und des Staatsbürgers einführte.

Mit seiner Ablehnung aller Offenbarungsreligionen zugunsten einer "natürlichen Religion" im "Émile" stellte er die Macht der Kirchen infrage. Das Buch wurde verboten. Rousseau musste vor einem Haftbefehl fliehen. Er ließ sich im damals preußischen Neuchatel nieder, botanisierte auf der Petersinsel im Bieler See, suchte in England Zuflucht und lebte auf einem Bergbauernhof in Südfrankreich, wo er Thérèse heiratete.

Seine Nerven hielten der Verfolgung nicht stand. Seine autobiografischen Alterswerke, darunter die berühmten "Bekenntnisse" belegen paranoide Episoden. Zuletzt lebte Rousseau, von den Behörden geduldet, wieder in Paris. Im Frühling 1778 starb er an einem Schlaganfall im Schlösschen Ermenonville. Auf der "Insel der Pappeln" im Schlosspark wurde er begraben. Sein Bewunderer Maximilien de Robespierre ließ ihn 1794 ins Pariser "Panthéon" überführen.