Unicef: Gewalt gegen Kinder im Alltag oft unbemerkt

Unicef: Gewalt gegen Kinder im Alltag oft unbemerkt
Experte fordert Anerkennung von Kindern als Träger von Grundrechten
Gewalt gegen Kinder ist im Alltag weiter verbreitet als angenommen, sagt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Zum 20. Jahrestag des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung in Deutschland hat Unicef seinen Jahresbericht vorgestellt.

Berlin (epd). Gewalt gegen Kinder wird laut Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) weltweit unterschätzt. Abgesehen von schockierenden Verbrechen, die punktuell große Beachtung finden, blieben viele alltägliche Gewalterfahrungen in Familien, der Kita, der Schule oder im Internet weitgehend unsichtbar, erklärte der Vorsitzende von Unicef Deutschland, Georg Graf Waldersee, am Donnerstag in Berlin.

Weltweit seien jedes Jahr schätzungsweise eine Milliarde Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 17 Jahren - und damit jedes zweite Kind - von physischer, sexueller oder psychischer Gewalt betroffen. Bis heute werde diese häufig stillschweigend akzeptiert, heruntergespielt oder sogar gerechtfertigt. Auch in Deutschland gehöre Gewalt nach Einschätzung führender Kinder- und Jugendpsychiater weiter zu den häufigsten frühen Kindheitsbelastungen, so Unicef anlässlich des 20. Jahrestages der Verabschiedung des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung in Deutschland.

Häufig werde Gewalt gerade durch die Menschen ausgeübt, die für den Schutz der Kinder verantwortlich sind, hieß es weiter. Erhebungen aus 30 Ländern zufolge sei fast die Hälfte aller Kinder zwischen zwölf und 23 Monaten zu Hause körperlichen Bestrafungen ausgesetzt. Eine ähnlich große Zahl erlebe verbale Gewalt etwa durch Anschreien oder Beschimpfen.

Unicef zufolge hat die Covid-19-Pandemie die Risiken für Kinder erhöht, zu Hause Opfer von Gewalt zu werden. Bundesregierung und Behörden forderte das Kinderhilfswerk auf, Unterstützungsangebote in der Krise auszubauen. Die online aus New York zugeschaltete UN-Sonderbeauftragte zu Gewalt gegen Kinder, Najat Maalla M’jid, sagte auf der Pressekonferenz, "insbesondere für Kinder, die bereits zuvor gefährdet waren, haben sich die Risiken verschärft". Grundlegende Unterstützungsangebote, um Gewalt zu verhindern, seien genau zu dem Zeitpunkt eingeschränkt worden, an dem Kinder sie am dringendsten benötigten.

Der Präsident der Deutschen Traumastiftung, der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, warf den deutschen Behörden vor, den gesetzlich verankerten Kinderschutz nicht umzusetzen: "Die großen Alltagsprobleme im Kinderschutz liegen in der Praxis." Fegert kritisierte unter anderem mangelnde Personalausstattung "in vielen Bereichen", schlechte Ausbildung und vor allem "mangelnde Berücksichtigung von Kindern als Menschen mit Grundrechten".

Dennoch sei die Einführung der gewaltfreien Erziehung in das Bürgerliche Gesetzbuch ein wichtiger Schritt gewesen. Seitdem habe sich das gesellschaftliche Bewusstsein in Deutschland geändert: "Das ist ein wichtiger Fortschritt." Besorgniserregend sei, dass Vernachlässigung und psychische Misshandlung häufig noch immer nicht als Gewalt wahrgenommen werden, sagte Fegert weiter.

Schätzungsweise 1,1 Milliarden Eltern und Erziehungsberechtigte weltweit halten laut Unicef Schläge und Körperstrafen für ein notwendiges Disziplinierungsmittel. Bis heute lebe nur etwa eins von zehn Kindern unter fünf Jahren in einem Land, in dem körperliche Bestrafung vollständig verboten ist. In Deutschland berichten laut Unicef in einer Untersuchung von 2017 etwa 31 Prozent der Befragten von Misshandlungen "mit mindestens moderatem Schweregrad".