Expertin: Fast jeder hat Kontakt zu einem missbrauchten Kind

Sabine Andresen, Vorsitzende der Unabhaägigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
© epd-bild/Aufarbeitungskommission/Barbara Dietl
Sabine Andresen, Vorsitzende der Unabhägigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, fordert Lehrer und Eltern zu mehr Wachsamkeit auf, da Erwachsene sehr oft die Signale und Hilferufe der betroffenen Kinder nicht wahrnehmen.
Expertin: Fast jeder hat Kontakt zu einem missbrauchten Kind
29.06.2020
epd
epd-Gespräch: Markus Jantzer

Frankfurt a.M. (epd). Jede Lehrerin und jeder Lehrer hat nach Expertenansicht Kontakt zu sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen. "Auch Eltern haben vermutlich im Laufe des Aufwachsens ihres Kindes in dessen sozialen Umfeld unwissentlich oder wissentlich mit Kindern zu tun, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind oder waren", sagte die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Sabine Andresen, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Leider nähmen Erwachsene sehr oft die Signale und Hilferufe der betroffenen Kinder nicht wahr, erklärte die Hochschullehrerin für Familienforschung und Sozialpädagogik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Studien zufolge hat jede siebte bis achte erwachsene Person in Deutschland in der Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch erlitten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht für Deutschland von einer Million Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Auf dieser Basis wurde errechnet, dass etwa ein bis zwei Schülerinnen und Schüler in jeder Klasse von sexueller Gewalt betroffenen sind.

Warum Erwachsene trotzdem sexualisierte Gewalt häufig nicht wahrnehmen, erklärte Andresen so: "Sexueller Missbrauch steht keinem Kind oder Jugendlichen auf der Stirn geschrieben, und es gibt auch keine eindeutigen Anzeichen nach außen." Kinder könnten darauf sehr unterschiedlich reagieren: mit sozialem Rückzug, mit Aggression, Schlafstörungen, nachlassenden Leistungen. Das seien aber keine eindeutigen Indikatoren, denn "für Verhaltensänderungen dieser Art kann es auch andere Gründe geben", sagte die Pädagogin.

Andresen forderte von Erwachsenen eine "verantwortungsvolle Haltung: Das bedeutet, hinzuschauen und nachzufragen, wenn man einen Verdacht hat oder einem etwas seltsam vorkommt." In der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die bei der Bundesregierung angesiedelt ist, hätten Betroffene berichtet, dass sie sich "so sehr gewünscht hätten, dass einmal jemand nachfragt".

Ein Problem sei auch, dass betroffenen Kindern oft nicht geglaubt werde. "Wenn sich Kinder anvertrauen, wird das zu oft abgetan, weil es nicht vorstellbar ist, dass beispielsweise der nette Lehrer oder der engagierte Trainer so etwas tun würden", sagte Andresen. Aus diesem Grund verstummten betroffene Kinder schließlich.

Wer einen Verdacht habe, solle bei Beratungsstellen in der Nähe Hilfe holen, empfahl Andresen. Eine Möglichkeit sei auch, beim "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" (0 800-22 55 535) anonym und kostenfrei anzurufen. Dort gebe es Rat für mögliche nächste Schritte.