Bildungsforscher: Corona-Krise eröffnet Schülern neue Lernerfahrungen

Bildungsforscher: Corona-Krise eröffnet Schülern neue Lernerfahrungen
17.04.2020
epd
epd-Gespräch: Cristina Marina

Göttingen (epd). Die fortdauernde Schließung der Schulen während der Corona-Krise birgt aus Sicht des Göttinger Hirnforschers Gerald Hüther für Kinder und Jugendliche mehr Chancen als Nachteile. "Möglicherweise lernen sie im Augenblick mehr für ihr späteres Leben, als wenn sie nur zur Schule gingen", sagte der Neurobiologe und Bildungsforscher am Freitag dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Sich als Entdecker und Gestalter auf den Weg machen, schwierige Situationen meistern, Verantwortung für sich selbst und für andere übernehmen: Darauf kommt es für ein gelingendes Leben viel mehr an, als auf gute Schulnoten und Abschlusszeugnisse.”

Zugleich räumte Hüther ein, dass ein Teil der Kinder und Jugendlichen ohne schulische Anleitung nur schwer zurechtkomme. Das Fehlen vertrauter Strukturen und Anforderungen sowie die räumlichen und sozialen Begrenzungen im Zuge der Corona-Krise führten dazu, dass einige Heranwachsende "den ganzen Tag herumhängen" und sich langweilten. Zudem litten viele Kinder darunter, dass sie ihre Freunde derzeit nicht treffen könnten. Die Schwierigkeit der Kinder, sich allein zu beschäftigten, könne wiederum zu einer Überforderung für die Eltern werden.

Hüther appellierte an Familien, diese Spannung auszuhalten, denn Langeweile könne nach Erkenntnissen der Hirnforschung produktiv für Kinder sein: "Sie ist eine Voraussetzung dafür, dass im Gehirn ein Impuls für Neues entsteht." Dieser Impuls könne die Freude an selbstbestimmtem Lernen wecken, sagte der Wissenschaftler: "Und dieses Lernen ist das nachhaltigste Lernen überhaupt."

Den Eltern empfahl Hüther geduldig abzuwarten, bis die Kinder von selbst Fragen stellten, anstatt sie voreilig zu belehren. "Kinder sind keine Zahnpastatuben: Durch stärkeres Drücken kommt nicht mehr raus", sagte Hüther. Dennoch könnten Eltern gute Rahmenbedingungen für selbstbestimmtes Lernen schaffen, etwa indem sie ihre Kinder zum Entdecken ihrer Umwelt anregten: "Selbst ein alter, mechanischer Wecker, dessen Funktionsweise sich durch Auseinanderbauen erforschen lässt, kann so zum Anlass einer Entdeckungsreise werden."

Freiräume eröffnet die Corona-Krise laut Hüther auch in Hinblick auf die Leistungsorientierung junger Menschen. Viele der zurzeit als systemrelevant eingestuften Berufe, etwa in der Kranken- und Altenpflege, in der Lebensmittelversorgung oder bei der Polizei, erführen jetzt hohe Anerkennung. "Das sind durchweg Berufe, für die anderes wichtiger ist, als eine besonders gute Abiturnote", betonte Hüther. So sei die Zeit der Schulschließung auch eine Chance für Jugendliche, "lebensnah und ohne Druck zu herauszufinden, was einen wirklich interessiert und Spaß macht".