Historiker: Überfall auf Sowjetunion muss neu bewertet werden

Ostfeldzug der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg
Foto: dpa/Buss
Das Archivfoto vom 24.06.1941 zeigt deutsche Infanteristen, die während des Ostfeldzugs der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die schweren Gefechtsfahrzeuge ihrer Züge in der litauischen Ortschaft Vilkija bergauf ziehen.
Historiker: Überfall auf Sowjetunion muss neu bewertet werden
Der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch, hat eine Neubewertung des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion gefordert.
22.06.2016
epd
epd-Gespräch: Lukas Philippi

Berlin (epd). Das historische Ereignis mit Millionen von Toten sei bis heute eine große Leerstelle im öffentlichen Gedenken der Bundesrepublik, sagte Morsch dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin anlässlich des 75. Jahrestages des Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.

Keine zentrale Gedenkveranstaltung

Deshalb sei es enttäuschend, dass es zum 75. Jahrestag keine "herausgehobene Veranstaltung" etwa der Bundesregierung gebe, kritisierte Morsch. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) wird allerdings am Dienstag zusammen mit dem russischen Botschafter Wladimir Grinin eine Open-Air-Ausstellung über den "Vernichtungskrieg 1941-1945" am Potsdamer Platz eröffnen.

Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt der Ständigen Konferenz der Leiter der NS-Gedenkorte im Berliner Raum, deren Vorsitzender Morsch ist. Dazu gehört das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die Topographie des Terrors, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, das Haus der Wannsee-Konferenz sowie die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen. Zum 75. Jahrestag sind in Berlin und Brandenburg zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen geplant.

Gedenkort in Berlin gefordert

Der Chef der Gedenkstätte Sachsenhausen plädierte für einen Gedenkort "oder zumindest ein Gedenkzeichen" in der Mitte Berlins, um an die Opfer des Vernichtungskrieges zu erinnern. Ziel der Nationalsozialisten sei es gewesen, "viele Millionen Menschen zu töten, auszurotten, die Übrigen zu versklaven und viele weitere zu vertreiben". So hätten die Strategen des "Generalplan Ost" vor Ausbruch des Feldzuges mit 30 Millionen Toten gerechnet. Zwischen 1941 und 1945 seien dann in der Sowjetunion "hundertfach ganze Dörfer dem Boden gleichgemacht und deren Einwohner, Kinder, Frauen und Männer, auf grausamste Weise getötet oder in den Tod getrieben worden", sagte Morsch: "Die Brutalität, mit der Wehrmacht, SS, Polizei, staatliche Verwaltung und Wirtschaft gegen die Menschen vorgingen, ist kaum vorstellbar."

Der Krieg gegen die Sowjetunion sei viel zu lange in der deutschen Öffentlichkeit als ein normaler Krieg angesehen worden, auch wenn er besonders viele Opfer forderte, sagte der Historiker. "Dabei war es ein rassistisch und antisemitisch motivierter Vernichtungsfeldzug zur Eroberung neuen Lebensraums, den man sich gar nicht schlimmer vorstellen kann", betonte Morsch. "Es war ein riesiger geplanter und beabsichtigter Massenmord, der in seiner Dimension im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit noch nicht verankert ist."

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann ein beispielloser Eroberungsfeldzug, bei dem Schätzungen zufolge mindestens 27 Millionen Sowjetbürger getötet wurden. Es handelte sich überwiegend um Zivilisten, die bei Kriegshandlungen, durch Terror, Massenerschießungen und Aushungern starben.