Christus braucht kein Kreuz

epd-bild/Andrea Enderlein
Der Altarraum der Marienkirche mit der Christusfigur.
Christus braucht kein Kreuz
Behinderte Künstler gestalten Zisterzienserinnenkirche
Es ist nach Angaben der Beteiligten ein weltweit einzigartiges Projekt: Ein Team von behinderten Künstlern gestaltet eine mittelalterliche Zisterzienserinnenkirche im Rheingau auf neue Weise.
21.01.2016
epd
Jens Bayer-Gimm (epd)

Rüdesheim (epd)Christus steht frei, die Arme waagerecht zur Seite gestreckt. Er braucht kein Kreuz, er ist das Kreuz und wirkt, als ob er die Welt umarmen würde. Die auf einem Holzblock stehende, 2,80 Meter hohe Figur hat Julius Bockelt in zweijähriger Arbeit aus einem Eichenstamm geschält und gehämmert. Bockelt ist einer von sieben Frankfurter Künstlern mit Behinderungen, die die 800 Jahre alte Kirche neu ausgestaltet haben. Die in sieben Jahren sanierte Marienkirche des Sankt Vincenzstifts in Rüdesheim-Aulhausen wird am Sonntag wiedereröffnet.

"Weltweit ist kein Beispiel bekannt, dass allein eine Gruppe behinderter Künstler den Auftrag bekam, eine Kirche zu gestalten", sagt die Leiterin des Ateliers Goldstein der Lebenshilfe Frankfurt am Main, Christiane Cuticchio. Auch die katholische Deutsche Bischofskonferenz bestätigt: "Das Projekt ist einmalig." Es war im Jahr 2009, dass der Sprecher der Geschäftsführung des Sankt Vincenzstifts, Caspar Söling, dem Atelier den Auftrag gab, in dem derzeit 15 Künstler mit Behinderungen arbeiten.

Das Sankt Vincenzstift, in dem rund 500 Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung oder Lernbehinderung leben, zur Schule gehen oder arbeiten, wollte die alte Klosterkirche sanieren lassen. "Die Besucher sollten nicht mit Mitleid herkommen, sondern staunen", nennt Söling die Zielvorgabe. "Wir wollen uns mit echter Kunst messen." Denn das Vincenzstift wolle im Zeichen der Inklusion Besucher auf das Gelände locken. Das Atelier Goldstein nahm die Herausforderung an.

An die christliche Ikonographie gehalten

"Wir haben den leeren Kirchenraum als Atelier genutzt und dort tage- und nächtelang experimentiert", erzählt Cuticchio. Theologen brachten den Künstlern die Welt der Erbauer, der früheren Zisterzienserinnen nahe. Im Lauf der folgenden Sanierung wurde die Kirche entkernt, die Orgelbühne, Hochaltar und Seitenaltäre abgebaut und der ursprüngliche Raumeindruck des 13. Jahrhunderts wiederhergestellt.

"Bei der künstlerischen Gestaltung wollten wir uns an die christliche Ikonographie halten und ganz reduziert nur mit Material arbeiten, das jahrhundertelang in Kirchen benutzt wurde, mit Glas, Stein, Holz, Wachs und Stoff", erklärt Cuticchio. Die Künstler des Ateliers schufen neben der Christusfigur ein Bodenmosaik aus Silberlatten mit dem Motiv eines Engelsflügels, eine Schutzmantelmadonna als Muschelkalk-Intarsie, einen mit einem Zitat von Bernhard von Clairvaux in typographischer Ornamentik geschmückten Vorhang zu einer Seitenkapelle und den Altar aus Gips.

Die Künstler erarbeiteten außerdem die Fenstermotive. Manche sind inspiriert von Ikonen. Die Figuren haben übergroße, runde Köpfe und sitzen ohne Hals auf dem Rumpf, andere erinnern an einen Scherenschnitt, an ein Aquarell, an Grafik oder sind abstrakt mit Zahlen oder Wörtern gestaltet. Zur Umsetzung hätten die Handwerker manche Technik erst erfinden müssen, erläutert Cuticchio. So sei die Metallarbeit im Boden, das Verlegen der Latten aus Silberlegierung und das penible Ausgießen der Formen mit Estrich, erstmals hier angewandt worden. Der "Engelflügel" unter den Füßen veranschauliche das Psalmwort, dass der Gläubige von Engeln getragen werde.

Die Kirche als spirituelle Tankstelle

Die jahrelange intensive Arbeit in und für die Kirche habe auch die Künstler verändert, sagt Cuticchio: "Dass Andreas Skorupa, der acht Fenster entwarf, als Autist bei einem Interview Worte fand, war für mich völlig überraschend." Der Kommentar des filigran arbeitenden Zeichners zu seinen Fensterarbeiten: "gut - und schön". Holzschnitzer Bockelt hatte mit Blick auf seine Christusfigur mehr Auskunft gegeben: "Ein tolles Gefühl - sie ist auch noch da, wenn ich nicht mehr da bin."

Die Kosten für die Sanierung betrugen nach Sölings Angaben 450.000 Euro, für die Kunstwerke 400.000 Euro. Für letztere trugen Spender 100.000 Euro bei, die Aktion Mensch für die pädagogische Begleitung der Künstler 130.000 Euro. Die denkmalgeschützte Marienkirche wird am Sonntag mit 200 geladenen Gästen und einem Gottesdienst wiedereröffnet, den der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus leitet. Künftig wird die Marienkirche für Gottesdienste des Sankt Vincenzstifts und als "postmoderne Wallfahrtskirche" genutzt.

"Die Kirche ist eine spirituelle Tankstelle, die einen zu sich führt, vielleicht bei sich selbst unbekannte Seiten entdecken hilft, auf jeden Fall aber staunen lässt", kommentiert der Initiator des Projekts, Söling. Auch die Kultur interessiert sich schon für den neuen, alten Ort. Das Rheingau-Musik-Festival plane Konzerte, das Rheingau-Literatur-Festival Lesungen in der Marienkirche.