Was im Kanzler wirklich vorging, wissen wir nicht. Aber dass es in der Presse mit "Demut" beschrieben wurde, zeigt, dass Demut eine Haltung ist, die heute häufig gering geschätzt wird. Eine Tugend, die eben meist der Unterlegene übt und um deren Befleißigung man sich nicht reißt.
Die Abneigung gegen die Demut ist verständlich, denn der Begriff ist zwiespältig. Im Namen der Demut wurden jahrhundertelang wie selbstverständlich Unterordnung und Unterwerfung gefordert. Diese negative Bedeutung liegt im germanischen Wortursprung begründet: "Diemüete" bezeichnet noch im Mittelhochdeutschen die Gesinnung von Gefolgsleuten gegenüber ihrem Lehnsherrn, den Vorgang, dass man vor einem Herrn niederzuknien und auf Befehle zu warten hatte.
Unterwürfigkeit gegenüber dem Lehnsherrn
Die irischen Missionare, die das Christentum zu den Germanen brachten, übersetzten den lateinischen Begriff "humilitas" aus der Bibel genau mit diesem Wort, das die Unterwürfigkeit gegenüber dem Lehnsherrn zum Ausdruck brachte. Die Wortwahl hatte weitreichende Folgen: Im Namen der Demut wurden Menschen bedrängt, unterdrückt, eben im abwertenden Sinne ge-demütigt. Viele, besonders Frauen, hatten unter Männern zu leiden, die sich zu Sachwaltern ihrer Demut aufschwangen.
Damit aber wurde der eigentliche Sinn der biblischen Demut verfehlt, denn der liegt in der Freiwilligkeit. Demut im biblischen Sinne kann niemals eine erzwungene Unterwerfung sein, sondern sie ist eine persönlich entwickelte und gewollte Lebenshaltung. Zu wahrer Demut gehört unverzichtbar die autonome Entscheidung des Einzelnen.
Keine Selbsterniedrigung um ihrer selbst willen
Die Verknüpfung von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe ist der Schlüssel für eine recht verstandene christliche Demut, die nicht zur Selbsterniedrigung um der Selbsterniedrigung willen führt. Sie findet ihren Kern in dem Satz Jesu: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen ... und deinen Nächsten wie dich selbst" (Markus 12, 30 f.).
Immer wieder haben die Menschen versucht, Demut aktiv herbeizuführen, zum Beispiel in Form von mechanisch vollzogenen Bußübungen oder strengster Askese. Ein Weg, der häufig in Orden und anderen engen religiösen Gemeinschaften gesucht wird. Auch Martin Luther hatte sich in seiner Zeit als Augustinermönch jahrelang gegeißelt. Aber er erkannte schließlich, dass sein Fasten und seine Selbstgeißelung selbstgerechte "Werke" waren, die niemandem nutzten - auch nicht Gott, dessen Zorn der junge Luther fürchtete.
Später prägte Luther den Satz: "Rechte Demut weiß nimmer, dass sie demütig ist." Das heißt: Demut kann man sich nicht immer wieder von neuem vornehmen, sondern man muss sie als Lebenshaltung annehmen und kultivieren.
In diesem Sinne schrieb der Königsberger Dichter Valentin Thilo im 17. Jahrhundert in einem Adventslied: "Ein Herz, das Demut liebet, / bei Gott am höchsten steht; / ein Herz, das Hochmut übet, / mit Angst zugrunde geht; / ein Herz, das richtig ist / und folget Gottes Leiten, / das kann sich recht bereiten, / zu dem kommt Jesus Christ."
Kontrastprogramm zur „Ich-AG"
Schon der Apostel Paulus hat das im Ersten Korintherbrief so formuliert: "Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht ... " (9,19). Demut bedeutet für Paulus ein gehöriges Maß an Zurücknahme des eigenen Willens und der eigenen Interessen, aber diese Zurücknahme erfolgt aus eigenem Willen und eigener Erkenntnis. Zur Demut kann niemand gezwungen werden, sondern zur Demut gelangt der Mensch in einem persönlichen Entwicklungsprozess.
Vielleicht könnte man Demut heute am besten mit der Formel „Respekt vor dem anderen" übersetzen. Dann stellt sich die Frage, ob es nicht längst an der Zeit wäre, die Demut zu rehabilitieren. Macht nicht Demut das Leben menschlicher, weil sie den Blick vom Selbst auf die anderen lenkt? So besehen wäre Demut ein Kontrastprogramm zu dem populären Leitbild "Ich-AG". Demut könnte sogar in der Politik manches zurechtrücken: Sie könnte Politikern helfen zu verinnerlichen, dass sie nicht in erster Linie sich, ihrer Partei und deren Zwecken zu dienen haben, sondern dem Volk, das ihnen ein Mandat übertragen hat.
Demut, das lehrt die jüdisch-christliche Tradition, ist keinesfalls die peinliche Übung des Verlierers, sondern die würdige Geste dessen, der weiß, dass die Welt nicht nur um ihn selbst kreist.