Was muss man wissen? Die Mühsal mit der Bildung

Was muss man wissen? Die Mühsal mit der Bildung
In Zeiten von Google und Wikipedia glauben offenbar immer mehr Menschen, man müsse nichts mehr im Kopf behalten, weil alles im Internet steht. Doch auch der Ruf nach einem verbindlichen Bildungskanon geht ins Leere - die Welt ist dafür zu komplex.
05.01.2012
Von Stephan Cezanne

"Wo entspringen Donau, Wolga, Ganges, Amazonas?", "Wer war Perikles?", "Was ist eine Primzahl?" - Das waren die noch eher einfacheren Fragen für junge US-Amerikaner im Aufnahmeverfahren für die Universität Harvard im Jahr 1869 - dazu kam ein Themenbündel zur antiken und modernen Geografie, Geschichte sowie mathematische Aufgaben aus den Bereichen Arithmetik und Trigonometrie. Vorausgesetzt waren zudem umfassende Kenntnisse in Latein - unter anderem alle Werke des römischen Dichters Vergil - und Griechisch. "Ich wette, kein Harvard-Student würde heute dieses Examen bestehen", lautet eine Reaktion im Internet, als die "New York Times" die Fragenliste im Jahr 2011 veröffentlichte.

"Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss", dichtete in den 1860er Jahren der deutsche Humorist und Zeichner Wilhelm Busch. Aber was? Was zur Allgemeinbildung gehört - was jeder wissen sollte - war schon immer umstritten. Durch Google, Wikipedia und Co. wird es nicht einfacher: Die Internetgeneration wird mit Informationen überfrachtet, denen jeder Sinnzusammenhang fehlt, beobachtet die 1959 geborene US-amerikanische Bestseller-Autorin Meg Wolitzer. Ein solches Angebot an Wissen sei wie "Butter ohne Brot".

Das Wissen insgesamt ist "im Umbruch und unser Bildungssystem in der Krise", warnte bereits vor rund zehn Jahren der Literaturwissenschaftler Dietrich Schwanitz (1940-2004) in seinem viel beachteten Buch "Bildung - Alles, was man wissen muss". Der alte Bildungsstoff scheint fremd geworden "und ist in Formeln erstarrt". Schwanitz: "Weil der alte Bildungskanon verengt und überholt erscheint, hat man Normen überhaupt aufgegeben. Hier liegt der Fehler."

Das Internet ist allerdings tückisch, wenn es um Wissen geht

Nach Ansicht der Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf kann man heute jedoch keinen allgemeingültigen Kanon mehr formulieren. "Unsere Welt ist so plural geworden, dass wir alle nur noch ausschnitthaft Bildung besitzen", räumt die Professorin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in einem epd-Gespräch ein. Man könne nicht mehr allgemeinverbindlich sagen, "was wichtig ist, was alle lesen müssen".

Offenbar gebe es einen Wissensabbruch, bestätigt Wagner-Egelhaaf: "Allerdings ist dies auch nicht weiter verwunderlich. Unsere Welt hat sich so beschleunigt, dass sich natürlich auch die Wissensbestände verändern und niemand kann das ganze alte Wissen präsent halten und zugleich offen sein für das neue Wissen, das sich ständig weiterentwickelt. Junge Menschen leben in ganz anderen Wissenswelten."

Das Internet ist allerdings tückisch, wenn es um Wissen geht, sagt der Quizshow-Moderator Günther Jauch in einem "Spiegel Online"-Interview: "Bildung kann man nicht downloaden". Das Internet verleite zur Fehleinschätzung, man müsse selbst nichts mehr wissen, weil alles im Computer steht. Jauch: "Das halte ich für zu simpel, denn das Netz ist doch eher eine informationelle Müllhalde und sehr chaotisch." Gegen dieses Informationschaos hilft dem Moderator zufolge nur Bildung, "denn wenn ich das Wichtige vom Schrott trennen will, muss ich um grundlegende Zusammenhänge wissen."

Nur wenigen Menschen ist Literatur, Kunst und Musik ein tiefes Anliegen

Dass neben Medienkompetenz vor allem gute Bildung bei der Orientierung im Internet mit seiner Unzahl oft fragwürdiger Quellen helfen kann, meint auch die Literaturprofessorin Wagner-Egelhaaf: "Ich denke, man braucht einen Grundstock an solidem Wissen, um mit den Informationen, die man im Internet findet, umgehen zu können." Die Fülle der Informationen müsse gefiltert, bewertet und weiterverarbeitet werden. Wagner-Egelhaaf: "Dafür ist ein solides Basiswissen - was immer das im Einzelnen sein mag - eine wesentliche Grundlage."

Der Philosoph und Kulturkritiker George Steiner ist jedoch eher pessimistisch, was die klassische kulturelle Bildung angeht: Die Anzahl der Menschen, denen Literatur, Kunst und Musik ein tiefes Anliegen sei, "ist klein". Bei freier Wahl "wird der Großteil der Menschheit dem Fußball, der Fernsehserie, dem Bingospiel den Vorzug geben", schreibt der 1929 in Paris geborene Steiner.

Einen weniger elitären Blick auf die Bildung hat der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse (1877-1962): "Nicht darauf soll es uns ankommen, möglichst viel gelesen zu haben und zu kennen", heißt es in seinem Essay "Eine Bibliothek der Weltliteratur". Wichtig sei vielmehr, eine "Ahnung zu bekommen von der Weite und Fülle des von Menschen Gedachten und Erstrebten". Echte Bildung sei nicht "Bildung zu irgendeinem Zwecke, sondern sie hat, wie jedes Streben nach dem Vollkommenen, ihren Sinn in sich selbst."

epd