"Es ist nicht klar, welche Spielregeln in Russland gelten"

"Es ist nicht klar, welche Spielregeln in Russland gelten"
Wladimir Putin will sich erneut zum Präsidenten von Russland wählen lassen. Dmitri Medwedew war offenbar nur ein Platzhalter. In Russland sind die Meinungen geteilt: Manche finden Putin gut, weil er Stabilität garantiere. Andere sagen, das Land habe nun keine Hoffnung mehr - alles breche zusammen.
04.10.2011
Von Jenia Wagner

"Wladimir Wladimirowitsch Putin ist ein starker Führer, unter dem Russland nach den turbulenten 90er Jahren wie ein Phönix aus der Asche wiederauferstand. Er hat dem Land Respekt, Größe und Würde zurückgebracht. Putin sorgt mit seiner harten Politik für Stabilität und Wohlstand. Der Westen fürchtet sich vor ihm. Putin ist also der perfekte Kandidat für das höchste russische Amt bei der kommenden Wahl im März 2012."

Mit dieser einfachen Gleichung erklären mir meine russischen Verwandten ihre Meinung zur geplanten Rückkehr von Putin in die große Politik. Meine Familie ist vor zehn Jahren nach Deutschland ausgewandert. Wir kommen aus einer kleinen Stadt in der tiefen russischen Provinz, 240 Kilometer südlich von Moskau. Dort blieben viele Verwandte und Freunde zurück, und wenn man sich heute mit ihnen über die neuen Machtansprüche Putins unterhält, bekommt man ein buntes Puzzle an Meinungen, das so vielfältig ist wie Russland selbst.

Meinen paternalistisch gesinnten Tanten und Onkeln aus der Heimatstadt gilt Putin als Retter der Nation. Seine Figur hat für sie etwas Beruhigendes, denn Putin inszeniert sich selbst als Garant für Stabilität – ein Zauberwort für die Bürger eines Landes, dessen Geschichte vielen als eine anstrengende Abfolge von Revolutionen, Kriegen und Krisen erscheint. Gleichzeitig ist Politik für russische Normal-Bürger etwas Abstraktes, womit sie nicht viel zu tun haben (wollen).

Frauen schätzen Putin als "attraktiven Mann"

Für Tamara, eine gute Freundin meiner Eltern, ist Politik "weit, weit weg". Wählen geht sie schon lange nicht mehr, auch wenn sie Putin als Präsidentenkandidaten grundsätzlich unterstützt. Es gebe ja ohnehin keine Alternative, und Putin habe für "Ordnung" im Land gesorgt. Auch meine Cousine Natalia sagt, dass sie sich für Politik überhaupt nicht interessiere und daher auch die Präsidentenwahl im März ignorieren werde. Putin schätzt sie jedoch für seine Führungsqualitäten, außerdem sei er "ein attraktiver Mann".

Dass man sich im Westen über das allzu maskuline Gebahren des amtierenden Ministerpräsidenten lustig macht, findet sie unverständlich. Sie ist auf den sportlichen, agilen, gesundheitsbewussten Putin jedenfalls sehr stolz. Doch aller Loyalität zum Trotz war Natalia "geschockt" über Putins Entscheidung, erneut zu kandidieren. Die Vorstellung, dass Wladimir Wladimirowitsch, wie Putin respektvoll genannt wird, gemäß der russischen Verfassung bis 2024 im Amt des Präsidenten bleiben könnte, findet sie etwas befremdlich – viel zu deutlich seien die Parallelen zu sowjetischen Herrschern, die bis zu ihrem Tod über das größte Land der Erde verfügen durften.

Sergej, mein ehemaliger Kommilitone, mit dem ich ein paar Semester in Moskau studiert habe, versucht die neue politische Situation im Land mit Humor zu bewerten. Die letzten vier Jahre habe der aktuelle Präsident Medwedew lediglich die Wache für seinen Freund Wladimir gehalten. Sergej kommt sich daher veräppelt vor. Das ganze wirkt auf ihn wie eine schlecht inszenierte Komödie, da Putins Machtansprüche ohnehin allen bewusst gewesen seien. Gleichzeitig fühlt sich Sergej "hilflos" und "ausgeliefert".

Sergej muss sich verstecken und hat Angst

"Das alles existiert unabhängig davon, was wir von diesen Leuten halten, und wir haben keine Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen", sagt Sergej. Er fühlt sich in Russland, das sich unter Putin deutlich von Europa und demokratischen Werten distanziert hat, zunehmend fremd. Als Journalist könne er nur noch über aus ideologischer Sicht "unbedenkliche" Unterhaltungsthemen schreiben. Als Mann, der in einen anderen Mann verliebt ist, muss er seine wahre Identität vor der Außenwelt verbergen. "Ich habe Angst, dass die neue Präsidentschaft von Putin noch mehr Xenophobie und Hass mit sich bringen wird", sagt Sergej.

Auch Ekaterina, meine andere Freundin aus Moskau, ist desillusioniert. "Die neue Präsidentschaft von Putin bedeutet nur Stagnation und keine Stabilität", ist sie sich sicher. Putins Nominierung als neuer alter Präsident bezeichnet sie als "Demütigung" für die russischen Bürger. Es sei unmöglich geworden, Pläne für die Zukunft zu machen. Ekaterina ist sich sicher, dass die Stagnation in einer neuen Staatskrise ein böses Ende finden wird: "Es wird wieder alles zusammenbrechen". Im Fernsehen sehe man nur Lügen und Propaganda. Dabei hätte die Bürger schon längst kein Gefühl mehr, Bürger eines Landes zu sein.

"Es ist nicht klar, welche Spielregeln in Russland gelten", erklärt Ekaterina. Unter Putin wurde der Staat zu einer feindlichen, paranoiden Struktur, die ihre Bürger auf friedlichen Demos verprügelt und sie bei Bedarf unter falschen Anschuldigungen ins Gefängnis stecken. Auch Ekaterina denkt oft darüber nach, Russland den Rücken zuzukehren und auszuwandern: "Es ist schwer, in einem Land zu leben, das jetzt keine Hoffnungen mehr hat".


Jenia Wagner hat in Dortmund und Moskau Journalistik und Politikwissenschaften und in Bochum Slawistik studiert. Sie arbeitet als Online-Redakteurin für die Homepage der Fakultät Kulturwissenschaften der TU Dortmund und als Koordinatorin für Hochschulkooperationen mit zwei russischen Universitäten (Rostow am Don und Sankt Petersburg). Ihre Familie kommt aus Kireewsk (Gebiet Tula / Russische Föderation).