Der "Shakespeare der Musik" wird wieder entdeckt

Der "Shakespeare der Musik" wird wieder entdeckt
Halle, Göttingen, Karlsruhe: Händel-Festspiele und aktuelle Opernproduktionen des Barockkomponisten faszinieren das Publikum. Der größte Sohn Halles ist heute präsenter und bezwingender denn je. Eine erstaunliche Renaissance, denn zwei Jahrhunderte lang wurden die Werke von Georg Friedrich Händel (1685-1759) so gut wie ignoriert.
08.04.2011
Von Ralf Siepmann

Bei der Uraufführung von Händels Oratorium "Israel in Ägypten" 1739 reagierte das Publikum im Londoner Haymarket Theatre reserviert. Verwöhnt von der populärsten damaligen Operngattung, der opera seria, und einem exquisiten Kastratenkult um die Megastars Senesino und Farinelli tat es sich schwer mit dem ungewohnten Werk. Es lebt von gewaltigen Chorsätzen und reduziert die Arien, die früheren Bravourstücke, auf wenige. Erst später avancierte das Stück, das auf einer Zusammenstellung reiner Bibeltexte beruht, zu einem der populärsten unter den 22 Oratorien des – neben Johann Sebastian Bach – größten Barockmusikers. Mit Kompositionen wie "Semele", "Saul" oder "Jephta" kreierte Händel ein neues Genre des Musikdramas. Er zimmerte so den großen Themen der frühkapitalistischen englischen Gesellschaft - politische und religiöse Gedankenfreiheit, Toleranz und Respekt – eine begierig aufgenommene Bühne.

Wie sehr auch heute noch die Prüfungen des Volkes Israel ein Publikum zu bezwingen verstehen, wird im Juni bei den Händel-Festspielen 2011 in Halle an der Saale einmal mehr zu besichtigen sein. In der Geburtsstadt Händels wird das Oratorium als interreligiöses Projekt realisiert. "Wir erzählen den im Alten Testament wie in der jüdischen Thora beschriebenen Exodus des israelischen Volkes", stellt der Intendant der Festspiele, Clemens Birnbaum, das Konzept vor, "durch die Chöre aus Händels Oratorium, denen jüdische und arabisch-muslimische Musik hinzugefügt wird". Reflexionen und Einschübe werden von israelischen Musikern jüdischen und muslimischen Glaubens in ihrer eigenen Musiksprache erzählt. "Am Ende", betont der Intendant, "wird ein gemeinsames spirituelles Erlebnis gefeiert, jenseits des jeweiligen Glaubensbekenntnisses".

Die Händel-Festspiele in Halle (Foto: dpa), 1929 begründet, können für sich das Prä ins Feld führen, Werke des Meisters "an authentischen Orten" präsentieren zu können. Hierzu gehört mit der Marktkirche die Taufkirche Händels, in der der Urstoff aller Oratorien, der "Messiah", alljährlich aufgeführt wird. Von seiner Heimatstadt aus reiste Händel 1719 nach Dresden, um dort für die Royal Academic of Music, Londons damals jüngste Gründung zur Etablierung der italienischen Oper, erstklassiges Sängerpersonal anzuwerben. Der Abstecher des jungen Impresarios war nicht vergeben. So kam es zum Engagement des Kastraten Senesino (Francesco Bernardi), der die Opernszene für Jahre in seinen Bann ziehen sollte. Halle erinnert in diesem Jahr mit einer szenischen Neuproduktion der Oper "Ottone" an diese Etappe. Händel hatte sich von Antonio Lotti, dem Starkomponisten am Dresdner Hof, zur Vertonung des Stoffes vom Kampf der Ottonen um die Macht in Italien inspirieren lassen.

Der Komponist zahlreicher Psalmenvertonungen und vielfältiger Kirchenmusiken – so des glanzvollen Utrechter Te Deum (1713) – war bis zu seinem Lebensende Lutheraner und seinem Glauben loyal. Für Händel war dies freilich keinerlei Hinderung, Kunst und Geschäft zu verbinden und höchst "säkular" den Erfolg an der Theaterkasse zu suchen. Dafür spürte er mit Vorliebe aktuellen Moden nach, die er in seine Kompositionen zu integrieren suchte – so dem französische Opernstil.

Vom französischen Geschmack beeinflusst

Unter dem Motto "Vive le Baroque" öffnen sich, ebenfalls im Juni, die Internationalen Händel-Festspiele in Göttingen diesem bislang kaum durchdrungenen Aspekt im Werk des Komponisten. "Auch wenn Händel nie in Frankreich gelebt hat", sagt Nicholas McGegan, der künstlerische Leiter der Festspiele, "so ließ er sich für seine Kompositionen doch intensiv von französischen Formen und vom französischen Geschmack inspirieren". Zum Beweis präsentiert das Festival mit fünf Aufführungsterminen die 1717 uraufgeführte Oper "Teseo", die sich am Prototyp der fünfaktigen "Tragédie en musique" orientiert.

Göttingen ist stolz auf seine "weltweit ältesten Festspielen für Alte Musik" (McGegan). Zugleich ist es der Ort, von dem nach einer 200 Jahre umfassenden Zeit der Ignoranz gegenüber Händels Musikdramen die Reaktivierung seiner Opern ausging. Der Kunsthistoriker Oskar Hagen hatte 1920 mit einer deutschsprachigen szenischen Fassung von "Rodelinda" am Stadttheater den Versuch einer Wiederbelebung gewagt. Ihm gelang es, den Vollender der Barockoper neu zu erschließen. Seitdem rücken die Göttinger Händel-Macher Jahr für Jahr ein spezielles Thema in den Mittelpunkt. Permanente Neuentdeckungen sind so Programm geworden.

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"Händel war der Shakespeare der Musik". So apostrophierte 1824 der Heidelberger Rechtswissenschaftler Anton Friedrich Justus Thibaut, auch ausgewiesen als ein engagierter Streiter für die "klassische Kirchenmusik", den Meister des Spätbarocks. Um dann fortzufahren: "In allen Stylen, vom Lieblichen und Tändelnden an, bis zur höchsten Erhabenheit hat er mit Begeisterung und Geschmack das Unvergleichlichste geschaffen."

Thibaut hätte sich bei den 34. Händel-Festspielen des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, die vor kurzem zu Ende gingen, voll bestätigt gefühlt. Mit "Ariodante", dem Superlativ in der Trias von Opernvertonungen auf der Basis von Ariosts "Orlando furioso", sowie "Partenope", waren fürwahr allerlei "Style" zu erleben. Das Stück um die Liebeswirren der mythischen Gründerin Neapels war um 1700 nichts weniger als ein Bestseller. Karlsruhe erfüllte höchste Erwartungen an die Aufführung von Barockopern heute. Wie sich der fabelhafte argentinische Countertenor Franco Fagioli als Ariodante in der Arie "Scherza infida" in seinem Schmerz und seiner Verzweiflung über den scheinbaren Verlust der Geliebten verzehrt, ließ beim Publikum einen Sog entstehen, als bliebe gerade die Welt stehen.

Seine Emotionen berühren noch immer

Die Aktualität Händels für uns Heutige sieht der Hallenser Intendant Birnbaum in dessen Fähigkeit, "Menschen und nicht typisierte Figuren auftreten zu lassen. Seine Musik erzählt von Liebe, Hass, Eifersucht, Trauer, Freude. Diese Emotionen sprechen die Menschen auch heute noch an und berühren sie." Den Reiz von Händel-Opern, sagt Jörg Rieker, Pressesprecher des Badischen Staatstheaters, "macht das große, differenzierte Spektrum von Gefühlen aus, die trotz der schematisierten Form von Barockopern unmittelbar berühren". Ob eine solche extrem sinnliche "Tuchfühlung" auch noch eine Steigerung durch Provokation des Publikums benötigt, mag dann jeder für sich befinden. Am Ende des zweiten Aktes symbolisiert Regisseur Peer Boysen das Schicksal der Königstochter Ginevra, die einer Verleumdung zum Opfer fällt, durch die Imagination einer veritablen Kreuzigung.

Dabei sind Händels Figuren ohnehin schon gerade in ihrem Unvermögen unmittelbar und sehr modern. Ariodante ist ein Entwurzelter, der jeglichen Vertrauens in menschliche Beziehungen ermangelt. In "Hercules" (1745), einem "musikalischen Drama" zwischen Oper und Oratorium, mit dem gerade das Aalto Theater Essen Furore gemacht hat und das in der nächsten Spielzeit wieder aufgenommen wird, führen Verrohung und Egoismus in die Katastrophe. In dem Schauerstück "Tamerlano" (1724), aktuell an der Oper Bonn auf die Bühne gebracht, agieren die Protagonisten in völliger Isolation und Entfremdung. Es könnte eine reizvolle Vorstellung sein, Händels Opernwelt im Stil des sich ständig steigernden Ausdrucks als Vorwegnahme von Überdrehungen der heutigen Mediengesellschaft zu begreifen. Gültig dürfte die ewige Suche des Menschen nach sich selbst freilich in jedem Falle sein.