Toni Morrison und die Suche nach der schwarzen Identität

Toni Morrison und die Suche nach der schwarzen Identität
Leicht macht sie es ihren Lesern nicht. Wer einen Roman von Toni Morrison zur Hand nimmt, muss sich auf einen komplizierten Aufbau der Handlung und auf eine Vielfalt von Stimmen und Perspektiven gefasst machen. Dennoch hat die afroamerikanische Schriftstellerin nicht nur 1993 das Nobelpreiskomitee mit ihrem Roman "Jazz" überzeugt, sondern auch das breite Publikum. Heute wird die US-Autorin 80 Jahre alt.
16.02.2011
Von Claudia Schülke

Auf neun Romane ist ihr Gesamtwerk mittlerweile angewachsen. Hinzu kommen Kinderbücher, ein Theaterstück, ein Opernlibretto und Vorlesungen zur US-amerikanischen Literatur unter dem Titel "Im Dunkeln spielen". In diesen Essays entfaltet die Schriftstellerin mit dem Lehrstuhl an der Eliteuniversität Princeton eine Theorie fremdbestimmter schwarzer Identität in der US-amerikanischen Literaturgeschichte, die auch ihre Romane grundiert.

Afroamerikanische Erzählkunst

Als zweites von vier Kindern einer Arbeiterfamilie in Lorain in Ohio geboren, las Toni Morrison, die damals noch Chloe Anthony Wofford hieß, schon als Kind die Bücher von Jane Austen und Lew Tolstoi. Ihr Vater machte sie mit der mündlichen Tradition afroamerikanischen Erzählens vertraut. 1949 begann sie an einer "schwarzen Universität" in Washington Anglistik zu studieren. Damals nannte sie sich nach ihrem zweiten Vornamen "Toni".

Mitte der 1950er Jahre lehrte sie dann englische Literatur an der Texas Southern University in Houston, heiratete den Architekten Howard Morrison aus Jamaika und bekam zwei Söhne. Nach der Scheidung 1964 wurde sie Verlagslektorin und förderte 16 Jahre lang die afroamerikanische Literatur bei Random House. Ihr erster eigener Roman erschien 1970: "The Bluest Eye", die Geschichte eines missbrauchten schwarzen Mädchens, das sich nach den Augen der Weißen sehnt. Es überzeugte aber vorerst nur die Kritik.

Auszeichnung mit dem Pulitzer-Preis

Auch "Sula" stieß 1973 auf Zurückhaltung beim breiten Publikum. Doch mit "Salomons Lied", einer afroamerikanischen Familiensaga, gelang Morrison 1977 der Durchbruch bei den Lesern. Nach "Teerbaby" (1981) folgte mit "Menschenkind" 1987 der erste Teil einer Trilogie über Formen weiblicher Liebe. "Menschenkind" ist die Geschichte einer Mutter, die nicht damit fertig wird, dass sie ihre eigene Tochter getötet hat, um dieser die Sklaverei zu ersparen. Hierfür erhielt Morrison 1988 den Pulitzer-Preis.

Die Themen unterdrückte Erinnerung und deren Wiederkehr als psychologische Folgen der Sklaverei hat sie auch in "Jazz" verarbeitet. Nur dass es hier im New Yorker Milieu nach dem Ersten Weltkrieg um die Liebe zwischen Mann und Frau geht: um die Eheleute Joe und Violet und um Joes junge Geliebte Dorcas, die von ihm erschossen wird, als sie sich einen anderen Lover nimmt. "Literatur", sagt Morrison, "hat in der schwarzen Kultur die Funktion des Jazz übernommen." Vielstimmig spielt denn auch ihre Diktion zwischen traurigem Blues, heiterem Swing und brüchigem Bebop.

"Paradies" schloss Trilogie ab

Mit dem Roman "Paradies" schloss sie die Trilogie 1998 ab. Von der Liebe unter Menschen ist hier kaum noch etwas zu spüren: Tiefschwarze Patriarchen eines afroamerikanischen Dorfes massakrieren dunkelhäutige Frauen jenseits der Dorfgrenze, die nicht in ihr rassistisches Weltbild passen. Doch die Autorin pocht auf die Liebe zum Göttlichen, sei es Gott oder ein anderes religiöses Geheimnis. Der Roman, der mörderisch beginnt, klingt spirituell aus. "Paradies" gilt manchen als ihr Meisterwerk. Seitdem hat Toni Morrison zwei weitere Romane verfasst: "Liebe" und "Gnade" beschäftigen sich ebenfalls mit den Identitätsproblemen der schwarzen Amerikaner.

Erinnern ist für die Autorin ein kreativer Akt: Ohne Erinnern, und sei es noch so fragmentarisch, gibt es ihrer Ansicht nach keine Identität. Aber auch die Fixierung auf die Vergangenheit birgt Gefahren, wie "Paradies" belegt. Ihre Werke seien voller "visionärer Kraft", hieß es in der Begründung des Nobelpreiskomitees, in ihnen werde "ein grundlegender Teil der amerikanischen Realität lebendig". 

epd