Ergötzliches und Gruseliges im deutschen Märchenwald

Ergötzliches und Gruseliges im deutschen Märchenwald
Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" ist die Weihnachtsoper in der Welt schlechthin. Auch in diesem Jahr wird das beliebte Stück in vielen Häusern gezeigt.
14.12.2010
Von Ralf Siepmann

Es war einmal … eine Inszenierung. An dieses Muster halten sich viele Opernhäuser in der Welt, wenn sie alljährlich zur Weihnachtszeit Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" auf den Spielplan zaubern. Es scheint ja auch nicht schwer, die Erwartungen insbesondere von Kindern in den Märchenstoff zu erfüllen. Sind sie doch selig, erleben zu können, wie die Geschwister durch das Besenbinderhäuschen toben oder das Sandmännchen den beiden im Wald den Schlaf bringt. Sie springen von ihren Sitzen, wenn schlussendlich die Knusperhexe Rosina Leckermaul im offenen Backofen verschwindet und sich die gruselige Geschichte zum Guten wendet.

An der New Yorker "Met" verzückte ein und dieselbe Produktion 40 Jahre ihr Publikum. Nathaniel Merrills kitschaffine Fassung von 1967 war für Tausende "Met"-Besucher das erste Opernerlebnis, häufig ein bleibendes. 1971 hatte die Inszenierung des Peter Beauvais Premiere, die auch heute noch, über 20 Jahre nach dem Tod des Film- und Theaterregisseurs, in der Hamburger Staatsoper zu sehen ist. Auch hier lebt die Familie des Besenbinders in einer idyllischen Märchenwelt, agiert das Taumännchen auf grüner Au. Aus dem Jahr 1995 stammt die Bilderbuch-Inszenierung von Franziska Severin, die die Oper Bonn stets im Dezember aus ihrem Fundus räumt.

Uraufführung 1893

Am 23. Dezember 1893 wurde "Hänsel und Gretel" im Hoftheater zu Weimar uraufgeführt. Der Aufstieg der Märchenvertonung zu einem Bestandteil des Weltkulturerbes ist wohl selbst ein Märchen. Adelheid Wette, Schwester des Komponisten, schrieb den Text nach den Gebrüdern Grimm ursprünglich für den Hausgebrauch. Schon mehrfach hatten sich die Geschwister Märchenfassungen mit Gesang für die beiden Töchter Adelheids einfallen lassen. Diese wurden im heimischen Wohnzimmer mit Klavierbegleitung aufgeführt. Das kleine Werk fand Anklang und erwuchs zu einer Singspielfassung. Humperdinck, seit 1880 im Banne und im Vorfeld der "Parsifal"-Uraufführung zwei Jahre im Dienste Richard Wagners, weitete sie zu einer durchkomponierten Oper aus. "Hänsel und Gretel" bringt schlichte Kinderlieder ("Suse, liebe Suse"), innige Melodik, ausdrucksstarke Polyphonie und Leitmotivik im Stile Wagners auf einen durchaus eigenen musikalischen Nenner. Eine Emanzipationsgeschichte? Vielleicht.

Humperdinck, äußert der Musikschriftsteller Helmut Schmidt-Garre, brachte als erster Komponist nach Wagner das Kunststück einer Oper zuwege, der ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Dabei sei ihm ein gewisser Überdruss des Publikums an Wagner entgegengekommen: "Das Publikum entwich voll Behagen aus der taghellen naturalistischen Welt in den geheimnisvollen deutschen Märchenwald, freute sich, momentan übersättigt vom Götter- und Heldengeschehen, über das Diminuitiv des großen Dramas, floh aus der pathetischen musikalischen Geste in die naive Kinderlieder-Musik Humperdincks."

"Ein großer Meister"

Die berauschende wie betörende Klangwelt zwischen den Polen des Pompösen und des Inniglichen wurde weltweit verstanden, mit den Jahren geradezu verehrt. "Das Wagner-Orchester", schreibt der Musikexperte Kurt Honolka, "bettete die eingestreuten Kinderweisen in ein etwas prätentiöses Prunkgewand, bot jedoch auch den Resonanzboden für jene Gefühlswärme, die alle Welt als ‚deutsche Romantik" liebt." Richard Strauss, der Dirigent der Uraufführung, schrieb an den Komponisten: "Du bist ein großer Meister, der den lieben Deutschen ein Werk beschert, das sie kaum verdienen, trotzdem aber in seiner ganzen Bedeutung hoffentlich recht bald zu würdigen wissen."

Die Hoffnung sollte sich mehr als erfüllen. Humperdincks Werks avancierte in einem beispiellosen Siegeszug zur Weihnachtsoper auf den Bühnen der Welt schlechthin. Ob Berlin oder Bern, London oder Lissabon – überall entfalten das weinselige Auftrittslied des Besenbinders wie Gretels Abendgebet oder auch das finale Spottlied auf die besiegte Hexe ("Juchhei, nun ist die Hexe tot") pures Opernglück. Ein Ranking vor einigen Jahren auf der Datenbasis des Deutschen Bühnenvereins sah "Hänsel und Gretel" nach "Mozarts "Zauberflöte" und vor Bizets "Carmen" auf Rang zwei der meistbesuchten Opernproduktionen eines ganzen Jahres.

"Märchen vom Nichtessen"

Märchenwelt, heile Welt, reines Opernglück? Wohl doch nicht ganz, wie auch Märchen nie frei sind von all den Grausamkeiten und Boshaftigkeiten dieser Welt. Für den im Oktober verstorbenen Märchenforscher Walter Scherf ist "Hänsel und Gretel" das "Märchen vom Nichtessen, Essen und gegessen werden". Hunger, meint Scherf, werde zum vorherrschenden Handlungsmotiv. Als "Hungerwahnsinnstraum" hat der Medienwissenschaftler Helmut Schanze den Stoff gedeutet. Als hätte das Musiktheater im Revier dieser Auffassung Raum und Bühne geben wollen, zeigt das Gelsenkirchener Haus in diesen vorweihnachtlichen Tagen eine stark sozialkritisch geprägte Sicht des guten alten Stoffes: "Hänsel und Gretel" als Märchen von der sozialen Kälte. In der Inszenierung des niederländischen Regisseurs und Bühnenbildners Michiel Dijkema entwickeln Bilder einen starken Eindruck, die das aktuell Böse aufrufen, auf ein Milieu verweisen, das sich in Hartz IV-Verhältnissen zu bilden pflegt.

Peter der Besenbinder wankt mit der leeren Schnapsflasche auf die Bühne. Gertrud, sein Weib, agiert mit ihren Lockenwicklern im Haar wie eine Karikatur auf die Zuschauer des Unterschichtenfernsehens. Die Kinder präsentieren sich mit Rasta-Locken und Punk-Frisur. Wenn sie sich dann verirren, geraten sie nicht in einen Märchen-, sondern einen Schrecken erregenden Messerwald aus überdimensionierten Gabeln und Steakmessern. Diese hängen – einem Damoklesschwert gleich – über ihnen. Zum guten Schluss gibt Gretel mit dem Bannfluch der Hexe all den Kindern die Freiheit zurück, die bereits zuvor in Lebkuchen verwandelt worden sind. Dijkemas Bilder setzen dabei Assoziationen an Josef Fritzl frei, den Kinderschänder von Amstetten. Der Triumph über das Böse ist ohnehin eine Illusion. Aus dem Gelsenkirchener Bühnenboden schlängelt sich schon der Hexen-Jahrgang 2011 nach oben.

Symbol der Urängste

Dijkemas Bühnenausflug in die soziale Kälte ist keineswegs ein singulärer Ausreißer. 1992, in der Umbruchphase nach der Wende, provoziert am Staatstheater Cottbus eine "Hänsel und Gretel"-Inszenierung ihren Abbruch, die eben nicht das Klischee der heilen Märchenwelt bediente. Der Regisseur Maurice Sendak schickt Ende der 90er Jahre in Zürich die Geschwister in tiefschwarzes Gehölz. Dort greifen die Äste der Bäume Fangarmen gleich nach den Kindern, bilden sie Höhlen und Hindernisse – ein Symbol für Urängste und Unterdrückungen aller Provenienz.

Für den Musikwissenschaftler Christian Ubber, Leiter der Musikwerkstatt Engelbert Humperdinck in Siegburg, der Geburtsstadt des Komponisten, haben solche sozialkritischen Interpretationen nichts mit den ursprünglichen Intentionen des Komponisten und seiner Textdichterin Wette zu tun. Die Herausarbeitung solcher Bezüge, meint Ubber, erscheine eher an ein heutiges Publikum gerichtet zu sein. Schließlich sei der gegenwärtige Ansatz zur Bühnenregie auch ein ganz anderer als zur Zeit Humperdincks: "mehr Interpretation als Bebilderung".

Humperdincks Geniestreich aus dem Industriezeitalter trägt übrigens auch die Rückbesinnung auf Menschliches in Zeiten sozialer Kälte in sich. Seit 2009 vergibt das Musiktheater im Revier jeweils zehn Karten pro Vorstellung aus allen Preiskategorien für einen Euro an Bedürftige, die sich zum Beispiel als Ein-Euro-Jobber ausweisen. Eine Geste, ein Zeichen, nicht mehr, nicht weniger. Der Rheinländer Humperdinck, 1921 im mecklenburgischen Neustrelitz aus dem Leben gerissen, hätte hieran gewiss stille Freude gehabt.

Aufführungen

"Hänsel und Gretel" wird in der Weihnachtszeit u. a. an diesen deutschen Opernhäusern aufgeführt: Berlin (23.12.), Bonn (2.1.), Dortmund (21., 25.12.), Duisburg (19., 23., 30.12.), Gelsenkirchen (26., 30.12., 7., 9.1.), Hamburg ( 20.12., 4., 20.1.), Leipzig (19., 22.12., 2.1.) München (19., 23., 27.12., 2.1.), Wiesbaden (19., 23., 25.12., 1.1.)


Ralf Siepmann ist freier Journalist und lebt in Bonn.