Datenjournalismus: Mehr als bloße Zahlenspiele

Datenjournalismus: Mehr als bloße Zahlenspiele
Arbeitslosenstatistik, Kindergartenplätze, Gesundheitskosten, Investitionen in den Nahverkehr: Die meisten Daten liegen heute digital vor. Wenn die Ämter sie "freigeben" würden, könnten Journalisten eine Menge damit anfangen.
18.10.2010
Von Corinna Blümel

Anfang Oktober kursiert eine Grafik Im Netz, die auf den ersten Blick wie eine bunte Spielerei wirkt (siehe Grafik unten). "Habe mich mal in der Welt des Datenjournalismus umgesehen und meine erste Visualisierung mit politischem Bezug erstellt. Zu sehen sind alle Parteispenden über 50.000 Euro, die zwischen Juli 2002 und August 2010 an deutsche Parteien geflossen sind, inkl. Informationen zu den Spendern", meldet der Macher der Seite vis4.net trocken.

Dass es mehr ist als Dekoration, erschließt sich auf den zweiten Blick: Wer mit der Maus über die Grafik fährt und an einzelnen Stellen anhält, sieht beispielsweise, welche Parteien von Daimler oder der Allianz in diesem Zeitraum mit Spenden bedacht wurden oder wer die Spender der CDU sind. Rechts daneben gibt es Detailinformationen.

Zu viel an Zahlen?

Die Seite verlinkt auf die Quelle, eine Seite des Bundestags. Hier sind die Details zur Parteienfinanzierung für die Jahrgänge 2002 bis zum laufenden Jahr abzurufen: ein Haufen Daten, die Journalisten nur mit mühevoller Kleinarbeit zu einem Bild verdichten können – und dann noch Gefahr laufen, ihr Publikum mit einem Zuviel an Zahlen abzuschrecken.

Datenjournalismus – die Kombination von Datenbankrecherchen, journalistischer Aufbereitung und Visualisierung – ist in Deutschland noch ein Nischenthema. Dass ihm jetzt vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist unter anderem Wikileaks zu verdanken. Die Whistleblower-Plattform stellte Ende Juli 2010 unter den Stichwort "War logs" umfangreiches Geheimmaterial aus dem Afghanistan-Krieg ins Internet. Zuvor konnten drei Redaktionen in den USA, Großbritannien und Deutschland den Datenberg von mehr als 92.000 Dokumenten auswerten: die "New York Times", der "Guardian" und der Spiegel.

Der Spiegel arbeitete weitgehend klassisch: Er veröffentlichte eine Titelgeschichte zu den Afghanistan-Protokollen, Spiegel Online stellte Texte und Bilder in das bestehende Extra zum Afghanistan-Krieg ein. "New York Times" und "Guardian" richteten dagegen Sonderseiten ein, präsentierten Originaldokumente, interaktive Karten und Erklärvideos. Sie beantworteten Leserfragen und erläuterten, nach welchen Kriterien die Dokumente ausgewählt und wie sie ausgewertet wurden.

Vorbild USA und Großbritannien

Die zeitgleiche Veröffentlichung zeigte, dass Deutschland beim Datenjournalismus im Vergleich zu Großbritannien und den USA hinterherhinkt. In beiden Ländern sind auch Datenjournalismus-Projekte fest bei Medien verankert, etwa das Datablog des "Guardian" oder der Data-Desk bei der "Los Angeles Times". Wie schon der Vorläufer "Computer Assisted Reporting" wird der "Data Driven Journalism" in den angelsächsischen Ländern intensiver betrieben als bei uns.

Immerhin gibt es für deutsche Journalisten inzwischen Fortbildungen zum Thema Datenjournalismus (z.B. bei der Akademie für Publizistik in Hamburg und der Akademie Berufliche Bildung der deutschen Zeitungsverlage ABZV in Bonn). Blogs wie Datenjournalist, recherche-info.de oder Bulldog Blog informieren zum Thema.

Eng verbunden mit dem "datengetriebenen Journalismus" ist der "Open-Data"-Gedanke – Regierungen sollen ihre Daten "befreien", sie der Öffentlichkeit in einer leicht zu verarbeitenden Form zur Verfügung stellen. Dabei geht es nicht um sensibles personenbezogenes Material, sondern um Informationen wie Listen von Schulen, Ausgaben für Verkehr oder Gesundheitswesen, Verbrechensraten oder die Arbeit der Kommunen.

Fehlende Informationsfreiheit

Mit solchen Formen der Transparenz tut man sich in Deutschland noch schwer – trotz des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG), das auf Bundesebene seit Anfang 2006 in Kraft ist. Medienverbände bemängeln die zahlreichen Ausnahmen darin und die bisher eher restriktive Handhabung. Immerhin gehört zu den Aufträgen der aktuellen Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft", sich neben vielen anderen Gesichtpunkten auch mit "Open-Data-Strategien für einen freien Zugang zu staatlichen Informationen" zu befassen.

Wie so etwas in der Umsetzung aussehen kann, zeigt der Blick in die USA, wo die Datenbankseite www.data.gov das Regierungshandeln transparenter macht, und nach Großbritannien, wo im Januar 2010 die Seite data.gov.uk startete. Letztere ermuntert die Nutzer, der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, was mithilfe der Daten programmiert und herausgefunden wurde.

Wer dem Zahlenmaterial interessante Aspekte und neue Zusammenhänge entlocken will, braucht die Zusammenarbeit mit Entwicklern und Programmieren – und manchmal auch die Unterstützung der Massen. So werden in Großbritannien nach dem großen britischen Spesenskandal von 2009 derzeit die Ausgaben aller Abgeordneten untersucht. Weil die Datenmenge schier unermesslich ist, rief die Tageszeitung "The Guardian" Bürgerinnen und Bürger zur Mitarbeit auf. Mehr als 27.000 folgten dem Aufruf bisher: Von 458.832 Seiten Dokumente hatten sie bis Mitte Oktober rund die Hälfte ausgewertet. Auch hier verbunden mit der Bitte, mit den Daten zu arbeiten, die Ergebnisse zu visualisieren und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Visualisierung

Bis der deutsche Staat bereit ist, Informationen im größeren Umfang mit seinen Bürgern zu teilen, wird es wohl noch etwas dauern. Vorerst arbeiten einzelne Wegbereiter mit den Daten, die verfügbar sind (zum Beispiel Offener Haushalt). Vielfach haben sie damit zu kämpfen, dass Behörden Informationen auch heute noch am liebsten in Papierform herausgeben. Und selbst wenn Daten digital vorliegen, fehlt ihnen oft die strukturierte Form, die eine Weiterverarbeitung und Verknüpfung mit anderen Datensätzen erlaubt – und eben auch die Visualisierung, für die es mittlerweile zahlreiche Online-Tools gibt.

Diese Arbeitsschritte – die Daten in geeigneter Form finden oder sie entsprechend transformieren, sie verknüpfen, interpretieren und visualisieren – sind die wesentlichen Arbeitsschritte, wie der Journalist und Datenjournalismus-Trainer Paul Bradshaw im Data-Blog des Guardian schreibt ("How to be a data journalist"). Dabei gibt es zwei Ausgangspunkte: Wenn Daten vorliegen, können Journalisten schauen, was sich aus ihnen ablesen lässt. Umgekehrt kann auch eine journalistische Fragestellung am Anfang stehen, für die man die entsprechenden Daten sucht.

Bradshaw empfiehlt Anfängern in Sachen Datenjournalismus, durchaus im Kleinen anzufangen – und vor lauter Daten nicht die Geschichte aus den Augen zu verlieren. Denn auch wenn die Zahlen ein wichtige Rolle spielen: Es geht immer noch um Journalismus.


Corinna Blümel ist freie Journalistin und arbeitet in Köln