Prozess: Vormund bedauert Tod des kleinen Kevin

Prozess: Vormund bedauert Tod des kleinen Kevin
Der frühere Amtsvormund des kleinen Kevin hat den Tod des Zweijährigen vor dem Bremer Landgericht zutiefst bedauert. "Seither ist kein Tag vergangenen, an dem ich nicht an den Jungen gedacht habe", sagte der 67-Jährige zum Beginn des zweiten Prozesses.

Ein wenig nervös, aber gefasst schaut der pensionierte Sozialarbeiter von der Anklagebank in den Gerichtssaal. Dann wird mehr als zwei Stunden lang ein Katalog des Grauens aufgeblättert. Die Qualen, die Schmerzen von fast zwei Dutzend Knochenbrüchen, der mit blauen Flecken übersäte kleine Körper Kevins stehen wieder im Mittelpunkt eines Verfahrens vor dem Landgericht Bremen. Mehr als dreieinhalb Jahre nachdem die Leiche des Zweijährigen eingewickelt in Müllbeutel im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde, muss sich seit Dienstag der Vormund wegen fahrlässiger Tötung verantworten.

"Seither ist kein Tag vergangenen, an dem ich nicht an den Jungen gedacht habe", sagt der 67 Jahre alte Angeklagte zum Beginn des Prozesses. "Ich trauere um den Tod des Jungen Kevin - damals wie heute." Er habe seinen Beruf als Sozialarbeiter geliebt. Und an die Vorsitzende Richterin gewandt sagt er, er hoffe, dass das Gericht sehe, dass er nur einer der Beteiligten war. "Die Anklage kann ich nicht akzeptieren. Sie beurteilt nur rückwirkend und ist nicht fair", sagt der Angeklagte und kündigt eine umfassende Stellungnahme für den nächsten Verhandlungstag an. An die Sozialbehörde stellt er die Frage, warum die Amtsvormunde "im Stich gelassen wurden".

Grauenvolles Bild

Vor zwei Jahren verurteilt das Landgericht den Ziehvater des kleinen Jungen wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Misshandlungen von Schutzbefohlenen zu zehn Jahren Haft und der Einweisung in eine Entziehungsanstalt. Das Schicksal Kevins in den Tagen und Wochen vor seinem Tod lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, alle damals ermittelten Fakten kommen jetzt wieder auf den Tisch.

In der Anklageschrift wie auch bei der Verlesung des Urteils gegen den Ziehvater werden am Dienstag die Drogenexzesse, "massive Gewalt", die "anhaltenden Schmerzen", Tricks des Ziehvaters und die Versäumnisse der Behörden beschrieben. Innerhalb von zwei Stunden ergibt sich ein grauenvolles Bild von dem Schicksal eines Kindes, das "zwischenzeitlich nur Haut und Knochen" war, das durch Misshandlungen nicht mehr sitzen, mehr robben als laufen konnte und Drogen gegen die Schmerzen der unbehandelten Wunden bekam.

Dem früheren staatlichen Vormund wirft die Anklage vor, Kevin nicht rechtzeitig aus der Wohnung des Ziehvaters geholt und auch die nötigen Akten nicht früh genug gelesen zu haben. Als die Polizei am 10. Oktober 2006 den Jungen abholen will, soll der Ziehvater nur gesagt haben: "Er ist in der Küche." Für Kevin kommt jede Hilfe zu spät.

Trauma für die Hansestadt

Die meisten Vorwürfe richtet die Anklage gegen den damals verantwortlichen Betreuer des Zweijährigen. Er soll Informationen vorenthalten und wider besseren Wissens und entgegen Warnungen den Jungen beim Ziehvater gelassen haben. Der Mann ist schwer krank, das Verfahren gegen ihn wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.

Mit Blick auf den Betreuer sagt denn auch der Anwalt des 67-Jährigen, die Anklageschrift richte sich zu 70 Prozent gegen ihn. "Jetzt kann der Eindruck entstehen, er sitzt hier für das Versagen der Behörden", sagt Verteidiger Eckart Behm über seinen Mandanten. Es müsse nun endlich einmal dargestellt werden, wie sich der Fall für ihn dargestellt habe. Ein Vormund habe in Bremen damals etwa 250 Kinder zu betreuen gehabt. Ein persönlicher Kontakt sei da nicht immer möglich gewesen, heißt es seitens der Verteidigung.

In der Hansestadt ist der Fall Kevin angesichts des Versagens des Staates ein Trauma. Viel hat sich seither für die Kinderfürsorge getan. So wurden neue Vormunde eingestellt, ein Jugendschutztelefon sowie Nacht- und Wochenenddienste eingerichtet. Und auch beim Bundesjustizministerium ist klar, dass es ein dichteres Netz geben muss. "«Wir müssen den persönlichen Kontakt zwischen Vormund und Kind stärken, damit sich schreckliche Schicksale wie die von Kevin nicht wiederholen", sagt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) nach Angaben eines Sprechers. Ein Gesetz soll regeln, dass ein Vormund regelmäßig seine Schützlinge trifft.

Kevins tragisches Schicksal - Eine Chronologie:

Januar 2004: Kevin kommt als Kind einer drogensüchtigen Mutter zur Welt.

Juli 2005: Polizisten treffen die Eltern betrunken an, der Vater ist aggressiv. Der Junge ist nicht versorgt. Bei einem Hausbesuch stellt das Sozialzentrum jedoch keine Mängel bei der Versorgung fest.

November 2005: Die Mutter stirbt. Kevin kommt für drei Wochen in ein Kinderheim. Das Jugendamt wird zum ersten Vormund des Kindes. Eine Woche später kann Kevin wieder zum Vater.

Ende April/Mai 2006: Vermutlicher Todeszeitpunkt von Kevin.

September 2006: Das Sozialzentrum übermittelt dem Amtsvormund, dass der Vater sich der angebotenen Hilfe entzieht. Es wird entschieden, den Jungen aus der Familie zu nehmen.

2. Oktober 2006: Das Gericht beschließt, Kevin aus der Wohnung des Vaters abzuholen.

10. Oktober 2006: Polizisten finden Kevin tot im Kühlschrank.

31. Oktober 2006: Eine Dokumentation zu Fehlern der Behörden wird vorgestellt. Dabei wird erstmals bekannt, dass der festgenommene Drogensüchtige nicht Kevins leiblicher Vater ist.

2. November 2006: Das Parlament der Hansestadt setzt einen Untersuchungsausschuss ein. Das Gremium kommt zu dem Schluss, dass die Sozialbehörden drastische Fehler gemacht haben.

13. November 2006: Kevin wird in Bremen beigesetzt.

18. April 2007: Gegen den Ziehvater wird Anklage wegen Mordes und Missbrauchs Schutzbefohlener erhoben.

24. Oktober 2007: Der Prozess gegen den Ziehvater Kevins beginnt. Vor dem Landgericht muss er sich wegen Totschlags und Misshandlung Schutzbefohlener verantworten.

05. Juni 2008: Das Gericht verurteilt den Ziehvater wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen. Außerdem wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.

dpa