TV-Tipp: "Stralsund: Tote Träume"

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16. Dezember, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Stralsund: Tote Träume"
Natürlich ist praktisch jeder Krimi auch ein Film über die Polizei, doch das Subgenre "Polizeifilm" weckt bestimmte Erwartungen: weil es meist um Verbrechen in den eigenen Reihen geht.

Wer intern ermittelt, gilt zudem als Nestbeschmutzer, und damit sind die beiden wichtigsten Komponenten für die zweite "Stralsund"-Episode mit Sophie Pfennigstorf benannt: Der Titel bezieht sich zwar auf die bittere Erkenntnis einer polnischen Erntehelferin, aber interessant ist "Tote Träume" vor allem wegen der unverhohlenen Feindseligkeit, die der jungen Kommissarin Jule Zabek entgegenschlägt, als sie nach einem tödlichen Unfall mit Fahrerflucht überzeugt ist, dass ein Kollege von der Bereitschaftspolizist am Steuer saß. 

Petra K. Wagner (Buch und Regie) hat einige inhaltlich ungewöhnliche, in der Umsetzung jedoch mitunter verunglückte Filme für den Hessischen Rundfunk gedreht. Darstellerisch waren die HR-Dramen allerdings oft sehenswert, allen voran "Nie mehr wie immer" (2014) mit Edgar Selge und Franziska Walser. Zwei ihrer besten Arbeiten sind zuletzt nach Fremdvorlagen entstanden: "Martha & Tommy" (2021, ARD, Buch: Holger Karsten Schmidt) ist ein berührendes Drama mit Senta Berger über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einer Ärztin und einem jungen Kickboxer, und in "Du sollst hören" (2022, ZDF, Katrin Bühlig) verkörpert Claudia Michelsen eine Richterin, die darüber entscheiden muss, ob ein zweijähriges Mädchen das Recht auf ein Gehör hat. "Tote Träume" reiht sich gut in dieses seltsam uneinheitliche Gesamtbild ein: Die Geschichte ist fesselnd, doch die Umsetzung unterscheidet sich kaum vom Krimialltag.

Uneingeschränkt das Einschalten wert ist dagegen wie schon bei ihrer "Stralsund"-Premiere die Hauptdarstellerin, die das Spektrum ihrer psychisch angeschlagen Rolle weidlich nutzt und die Mischung aus Unbehagen und Unbeugsamkeit sehr glaubwürdig vermittelt. Die Vorgeschichte wird zwar auch diesmal nicht offenbart, aber immerhin verrät Jule ihrem Partner Karim Uthman (Karim Günes), dass ihr ein Posttraumatisches Belastungssyndrom attestiert worden ist. Um endlich schlafen zu können, hat sie’s mit Cannabis versucht, was sie prompt in die Bredouille bringt, als die Kolleginnen des Polizisten, die sie nach Strich und Faden schikanieren, auf einem Drogentest bestehen. Wie in vielen Polizeifilmen gibt es auch in "Tote Träume" einen Vorgesetzten, der seine Truppe wie ein Familienoberhaupt führt. Meist sind diese Figuren die reizvollsten, zumal Martin Wuttke als väterlicher Leiter der Bereitschaftspolizei neben Güte und Strenge auch eine gewisse Abgründigkeit ausstrahlt: Als Micha Mielke (Maximilian Scheidt) nach einigen Geburtstagsgetränken auf der beschwingten Heimfahrt einen Menschen erfasst, konstruiert sein Chef und Schwiegervater kurzerhand eine Wildschweinkollision. Die nötige Sau ist rasch geschossen, das Auto wird repariert, die ausgetauschten Teile werden entsorgt. Damit wäre die Sache erledigt, wenn Jule nicht jenes untrügliche Gefühl hätte, das die Basis vieler TV-Ermittlungen bildet: Hier stimmt was nicht. 

Dass trotzdem kaum Krimispannung aufkommt, liegt an Wagners allzu ruhiger Inszenierung; das einzig Auffällige an ihrer "Stralsund"-Premiere sind einige unmotiviert wirkende allzu nahe Nahaufnahmen. Fesselnd ist "Tote Träume" vor allem darstellerisch, selbst wenn nicht alle Mitwirkenden überzeugen. Eine besondere Rolle spielt Thomas Niehaus: Arbeitsvermittler Beck entwickelt sich mehr noch als Mielke zum eigentlichen Gegenspieler. Der bei dem Unfall ums Leben gekommene Erntehelfer war im Besitz eines Videos, das Beck in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte. Das verschwundene Smartphone des Toten wird neben Jules Suche nach der Wahrheit zum zweiten Motor der Handlung. Kostüm und Maske haben Niehaus mit sämtlichen Erkennungsmerkmalen versorgt, die im TV-Krimi den Schurken markieren, aber dennoch gelingt es ihm, dem Klischee auch andere Seiten abzutrotzen. Wuttke verkörpert seine Rolle gleichfalls ambivalent. Zwick entspricht dem Stereotyp des Clanchefs, der seinen Schwiegersohn für einen Versager hält, ihn aber dennoch schützt, weil er nun mal zur Familie gehört; deshalb poltert er auch mal los, damit Karl Hidde (Alexander Held), mittlerweile Chef der Stralsunder Mordkommission, seine Mitarbeiterin zurückpfeift. Trotzdem ist der Mann nicht unsympathisch und in gewisser Weise sogar eine tragische Figur. Endgültig zur Tragödie wird "Tote Träume" beim dramatischen Finale; Stralsund bleibt für die Mitglieder der Mordkommission ein gefährliches Pflaster.