"Die Menschen trauen der Kirche zu, sie im Leben zu begleiten"

Bischof Frank Otfried July auf der Kanzel in der Stuttgarter Stiftskirche
©epd-bild/Gerhard Baeuerle
Der Vorsitzende des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes, der evangelische württembergische Landesbischof Frank Otfried July, bei einer Predigt am Reformationstag 2019 in der Stuttgarter Stiftskirche.
"Die Menschen trauen der Kirche zu, sie im Leben zu begleiten"
Im Interview spricht der Bischof der württembergischen Landeskirche Frank Otfried July über das Verhältnis seiner Kirche zu homosexuellen Segnungen, die Verantwortung für sexualisierte Gewalt und wie er sich die Kirche der Zukunft vorstellt.

Zur Württembergischen Landeskirche gehören Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen theologischen Profilen und Frömmigkeitsstilen. Wie halten Sie diese Vielfalt als Bischof zusammen?

Frank Otfried July: Mir hilft Beten, Humor und Empathie - und dass ich im Lutherischen Weltbund viel Erfahrung mit der Ökumene gesammelt habe, die nochmal vielgestaltiger ist als die württembergische Landeskirche. Ich versuche, in die geistige und geistliche Form der jeweiligen Strömung einzutauchen und sie zu verstehen. Ich teile nicht alles und verleugne meine eigene Position nicht, aber ich bin bereit, sehr weit zu gehen, um die Einheit dieser Landeskirche zu erhalten. Es wäre für mich ein enormer Schmerz, wenn sie sich aufspalten würde.

Warum wäre das ein Schmerz?

July: Dass sich Menschen über ihre unterschiedlichen Meinungen hinweg zu einer Einheit bekennen, das ist ein großes Zeichen der christlichen Berufung. Natürlich stoßen auch wir an Grenzen, aber ich erwarte von einer Kirche, dass sie besonders fähig ist, Pluralität auszuhalten und trotzdem die Mitte nicht verliert.

Über welche Themen hat Ihre Landeskirche am heftigsten gestritten?

July: Über die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Auch beim Thema Frieden gab es Auseinandersetzungen; und beim Verständnis des Kreuzes und der Auferstehung gibt es unterschiedliche Akzente. Als es darum ging, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen sollen, war die Landeskirche sehr einig, da erlebe ich Beglückendes.

"So findet jedes gleichgeschlechtliche Paar eine Gemeinde, die die Segnung ermöglicht"

Der Konflikt über die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare dauert seit 20 Jahren an.

July: Wir haben einen Kompromiss gefunden: Gleichgeschlechtliche Paare können in Gottesdiensten gesegnet werden. Zugleich steht in der Präambel des Gesetzestextes, dass man den jeweiligen Weg der anderen akzeptiert. Praktisch sieht es so aus: Die Gemeinden können mit einer Dreiviertelmehrheit ihrer Kirchenvorstände beim Oberkirchenrat anmelden, dass sie gleichgeschlechtliche Paare segnen wollen. Das dürfen bis zu 25 Prozent aller Gemeinden machen, derzeit sind etwa 13 Prozent der Gemeinden dabei oder auf dem Weg dahin.

Bis die 25 Prozent erreicht sind, müssen sich also noch sehr viele Gemeinden dafür entscheiden. Werden es mehr als 25 Prozent, muss die Landessynode einen neuen Weg finden. Dieser Kompromiss ist eben ein Kompromiss. Aber ich wollte, dass wir zu einer Lösung kommen. So findet jedes gleichgeschlechtliche Paar eine Gemeinde, die die Segnung ermöglicht.

In der pietistischen Brüdergemeinde Korntal haben Kinder früher furchtbare Gewalt, auch sexuelle Gewalt erlebt. Die Landeskirche und auch Sie haben dafür nie Verantwortung übernommen. Ist das ein Kompromiss, um das pietistische Lager in der Landeskirche nicht zu verärgern?

July: Nein, an dieser Stelle gibt es keine Kompromisse. Wo die Württembergische Landeskirche für solch furchtbares Geschehen Verantwortung hatte, hat sie diese auch übernommen. Wir haben seit 2010/11 Runde Tische und dann eine Unabhängige Kommission für die Gewährung von Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids eingerichtet - und schon viel früher Disziplinarverfahren eingeleitet. Über hundertfünfzig Menschen haben Anerkennungsleistungen bekommen. Die Brüdergemeinde Korntal ist eigenständig und gehört nicht in unsere Jurisdiktion. Sie ist eine Art Freikirche mit vertraglichen Verbindungen zur Landeskirche.

Korntal: "Ich kann der Brüdergemeinde nichts anweisen. Auch Beschlüsse der Landessynode gelten nicht in der Brüdergemeinde"

Wie sehen diese vertraglichen Verbindungen aus?

July: In Korntal gab es bis 1955 gar keine landeskirchliche Gemeinde. Als diese dann gegründet wurde, stellte sich die Frage, ob es eine Zusammenarbeit zwischen der landeskirchlichen Gemeinde in Korntal und der Evangelischen Brüdergemeinde geben sollte - und wie die aussehen könnte. Damals gab es leitende Personen in der Landeskirche, die sich eine recht enge Verbindung vorstellen konnten. Das hat jedoch die Brüdergemeinde abgelehnt.

Nach wie vor finanziert sich die Brüdergemeinde selber und bestimmt auch ihre Pfarrer selber. Manchmal hat sie dabei auch Pfarrer der Landeskirche ausgewählt, die die Landeskirche für diese externe Arbeit freigestellt hat. So z. B. Fritz Grünzweig, der in den 1970er Jahren auch Mitglied der Landessynode war. Heute ist vertraglich geregelt, dass es Ersatzzahlungen dafür gibt, dass sich auch Korntaler Bürger, die Mitglieder der landeskirchlichen Christusgemeinde sind, vom Pfarrer der Brüdergemeinde betreuen lassen.

Die Korntaler Brüdergemeinde hat immer hohen Wert auf ihre Unabhängigkeit, ihre eigene Liturgie gelegt. Und zur „Verantwortung“ der Landeskirche: Für landeskirchliche Gemeinden gelten das kirchliche Disziplinarrecht und die von der Landessynode verabschiedeten Gesetze. Beides gilt in Korntal nicht. Ich kann der Brüdergemeinde nichts anweisen. Auch Beschlüsse der Landessynode gelten nicht in der Brüdergemeinde. Ich habe mir gewünscht und gefordert, dass die Missbrauchsfälle von Korntal schnell und gründlich aufgearbeitet werden und habe die Brüdergemeinde gebeten, unserer unabhängigen Aufarbeitungskommission beizutreten. Das wollte sie nicht.

Sie sagen, Sie haben keine juristische Verantwortung. Haben Sie eine politische?

July: Ich habe sehr viel Empathie für die Opfer. Deshalb gehen mir alle Missbrauchsfälle in der Kirche und der Gesellschaft nah. Dies habe ich auch in der Begegnung mit Missbrauchsopfern deutlich gemacht. Aber ich habe ein Amt in dieser Landeskirche und darf meinen Verantwortungsbereich nicht überschreiten. Ich kann mir keine Verantwortung zusprechen lassen, wo wir keine Verantwortung haben. Ich kann ja auch nicht etwa für die methodistische Kirche Verantwortung übernehmen. Korntal hat den Missbrauch selbständig aufgearbeitet und selbst Entschädigungen gezahlt.

Die Landeskirche und auch Sie äußern sich zu vielen Themen, die auf dem Gebiet der Landeskirche geschehen. Aber nicht zu Missbrauchsfällen in Korntal. Warum nicht?

July: ​​​​​​​Das stimmt nicht. Ich habe mich mehrfach zugunsten einer zügigen und gründlichen Aufklärung in Korntal geäußert.

Wo sind in Ihrer Landeskirche die Grenzen des Kompromisses beim Thema Rechtspopulismus und Sympathien mit der AfD?

July: ​​​​​​​Auch da gibt es keinen Kompromiss. Wir halten das Thema für so wichtig, dass wir einen eigenen Referenten für Extremismus und Populismus in der Landeskirche haben. Gemeinsam mit der badischen Landeskirche haben wir eine klare Brandmauer gegen Rassismus, Antisemitismus, Ausgrenzung und Hassrede gezogen, auch betrachten wir die AfD nicht als Partei wie jede andere. Auch in meinen Predigten stelle ich das klar.

"Wenn jemand ein traditionelles Familienbild vertritt und sich für den Lebensschutz engagiert, ist er noch lange nicht rechtsradikal"

Bei der Haltung zu Abtreibung, gleichgeschlechtlichen Ehen, Familienbild, gibt es durchaus Überschneidungen mit der Haltung mancher evangelikaler und pietistischer Strömungen.

July: ​​​​​​​Da haben Sie Recht. Aus den Wahlanalysen hat sich aber auch ergeben, dass die AfD in den pietistisch geprägten Regionen nicht mehr Stimmen bekommen hat als anderswo. In Baden-Württemberg hat die AfD in Mannheim und Pforzheim Direktmandate gewonnen – in Mannheim in einer klassischen Arbeitergegend und in Pforzheim vor allem unter Russlanddeutschen. Wir diskutieren natürlich auch, wie wir diese Gruppe noch stärker integrieren können. Aber auch dies möchte ich klarstellen: Wenn jemand ein traditionelles Familienbild vertritt und sich für den Lebensschutz engagiert, ist er noch lange nicht rechtsradikal!

Wie sieht es bei der Flüchtlingsarbeit aus?

July: ​​​​​​​Wir sind eine „flüchtlingsbereite“ Kirche und haben seit 2015 durch das eigene Engagement auch das im Bundesland unterstützt: wir haben ein Netzwerk von Flüchtlingsdiakonen-Stellen in jedem Kirchenbezirk aufgebaut, diese unterstützen und schulen ehrenamtliche Mitarbeiter. Dieses gesellschaftspolitische Engagement unserer Landeskirche wurde von der Synode stark unterstützt. So wurden rund 25 Millionen Euro ermöglicht, davon 18 Millionen für Maßnahmen hier und sieben Millionen für Hilfe in den Herkunftsländern. Als Landeskirche sind wir Mitglied im Verein United4Rescue, wie auch viele einzelne Kirchengemeinden unserer Landeskirche.

​​​​​​​Haben Sie den Eindruck, die Kirche kommt mit ihren Botschaften überhaupt noch an bei den Menschen? Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 entschieden, dass zur Selbstbestimmung eines jeden Menschen das Recht auf Sterbehilfe durch Dritte gehört.  Dagegen haben die Kirchen seit vielen Jahren angekämpft.

July: ​​​​​​​Ich war früher Direktor eines großen Diakoniewerks und habe Sterbende begleitet. Ich weiß, dass es schwierige Grenzsituationen gibt. Aber es hat mich doch überrascht, dass das Gericht die Grenze so deutlich verschoben hat von einer Regelung für Ausnahmefälle hin zu einem einklagbaren Recht. Ich bedauere dieses Urteil sehr.

Was wird sich durch das Urteil ändern?

July: ​​​​​​​Ich mache mir Sorgen, dass wir niederländische Verhältnisse bekommen. In den Niederlanden haben Sterbewillige ja schon länger das Recht, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Freunde dort berichten, dass sich Menschen in den Seniorenheimen zum Teil stark unter Druck gesetzt fühlen und meinen, es wird von ihnen erwartet, dass sie sich beim Sterben helfen lassen. Unsere Antwort als Kirche muss sein, dass wir die Palliativarbeit und die Suizidprävention stärken, damit Menschen gar nicht erst in diese Situation geraten. Wir Theologen sagen ja, dass die wahre Freiheit in der Bindung an Gott liegt und in der Gewissensbildung durch Gott. Aber ist das für Menschen noch relevant? Das verständlich zu vermitteln halte ich für eine große Herausforderung der kommenden Jahre.

Mit welchen Themen erreicht die Kirche heute noch die Menschen?

July: Das macht gerade die Corona-Zeit deutlich: wenn es um Krisen und Existenzielles geht. Auch bei wichtigen Stationen im Leben wie Taufe, Hochzeit, Sterbebegleitung, Tod. Aber unser Auftrag heißt nicht nur Verkündigen und Helfen, sondern auch gegen den Trend für beispielsweise die Schwachen eintreten. Da müssen wir mutiger sein und klar sagen: Das entspricht nicht unseren Überzeugungen – und das einfach und elementar erklären können, dass es die Menschen verstehen.

Was heißt „elementar“?

July: Ich habe gerade für einen Radiobeitrag Kinderfragen zum Thema Glauben beantwortet. So leicht und verständlich von unserem Glauben zu sprechen und welche Bedeutung er für das eigene Leben, für das Miteinander, auch für die Gesellschaft hat, dass auch die junge Generation nachdenklich wird und unsere Positionen nicht als normatives Korsett empfindet.

Umfragen ergeben, dass viele Menschen gar nicht mehr wollen als ein selbstbestimmtes Leben hier auf der Erde. Sie vermissen nichts und sind damit glücklich.

Das müssen wir aushalten. Und zugleich deutlich machen, was uns als Christen ermutigt und tröstet, was uns wichtig ist, welche Erfahrungen wir machen. Die Zeit der großen religionsphilosophischen Diskussionen ist zwar nicht vorbei, aber sie spielen eine geringere Rolle als früher.

Welche Erfahrungen machen Christen, die sie anderen gegenüber deutlich machen können?

July: ​​​​​​​Zum Beispiel, wenn Menschen Enttäuschungen, Vertrauensbrüche erleben. Oder wenn wie jetzt in Corona-Zeiten die Selbstbestimmtheit und Selbstverfügbarkeit Risse bekommt und erschüttert wird. Mit diesen Erfahrungen können wir an biblische Geschichten anknüpfen. Die Fragen Hiobs und die Diskussion mit seinen Freunden bekommt da plötzlich Aktualität.

Wie können die Menschen in der Kirchen bei der Bewältigung der Corona-Krise helfen?

July: ​​​​​​​Indem sie für die Menschen da sind. In der Kirchengemeinde vor Ort, manchmal dann auch nur vor der Kirche statt drinnen; in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Und wenn nicht physisch, wie in der Zeit, als die Schutzausrüstung so knapp war, dass sie kaum für das medizinische Personal gereicht hat, dann eben per Telefon oder durchs offene Fenster. Nicht überall, aber an sehr vielen Orten hat das in dieser außergewöhnlichen Zeit geklappt. Jetzt beschäftigen wir uns beispielsweise gerade damit, wie wir unter Corona-Bedingungen Weihnachten feiern können.

Welche Schwerpunkte sollte die Kirche jetzt setzen?

July: ​​​​​​​Der Zusammenhalt in der weltweiten Ökumene ist sehr wichtig, gerade in Zeiten, in denen der Nationalismus erstarkt; auch die konfessionelle Ökumene muss weiter vorangetrieben werden. Die Verkündigung des Evangeliums, die das Leben in neue Perspektiven stellt. Natürlich die diakonische Arbeit. ‚Bildung‘ gehört zur DNA der evangelischen Kirche. Für mich gehört dazu, in der Lebensbegleitung Trost und Zuversicht zu vermitteln. Da trauen Menschen der Kirche Kompetenz zu.