Wahrheitssuchmaschinen in der Meinungslandschaft

Wahrheitssuchmaschinen in der Meinungslandschaft
Was hat die "Krimi-Sucht" der Deutschen (bzw. der ARD/ ZDF-Zuschauer) zu bedeuten? Etwas Gutes, zumindest vorm Hintergrund der Nazizeit? Liegt ein neues "Triumphgeheul" überm Land (oder zumindest auf Facebook-Seiten relativ bekannter Anwälte)? Und können eher Linke noch mobilisieren? Außerdem: Kai Diekmann, seine Abschiedsfeier und natürlich die Unschuldsvermutung; der Spiegel noch mal wie früher vorab in aller Munde.

Immerzu passiert so viel großes oder schweres Wichtiges, das mit Medien zusammenhängt (heute auch, hier weiter unten), dass die Mediengattung Fernsehfilm im Einzelnen im Altpapier und in anderen Medienmedien kaum mehr vorkommt. Joachim Huber, der auf seiner Tagesspiegel-Medienseite stets darüber informiert, was im Fernsehen läuft, vor allem im öffentlich-rechtlichen, und wie die Einschaltquoten waren, ist letzte Woche jedoch kurz der Kragen geplatzt. Angesichts der Sonntagskrimi-Verschiebereien an Neujahr und der Einschaltquoten-Erfolge für den "Taunus"-Krimi und dann den "Küstenkrimi" des ZDF konstatierte er

"Überraschung, dass die Fiktion des Fernsehens und die Faktizität der Nachrichten so sehr auseinanderfallen. Und weil so was von so was kommt, ist die Massivität der Krimiunterhaltung ein Fehler. 2017 muss ein Jahr der Information sein."

Über "Ursachen und Wirkungen der Krimi-Sucht", hat Huber sich fürs Wochenende dann mit dem Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen, Joachim von Gottberg, unterhalten. Das ist auf den zweiten Blick weniger sinnvoll als es zunächst scheint. Zwar prüft diese FSF "das Fernsehprogramm insbesondere hinsichtlich des Gehalts an Gewalthandlungen ...", aber nur das der privaten Sender. Für die öffentlich-rechtlichen sind allein deren Gremien zuständig. Das gehört zu den gewachsenen Absurditäten des deutschen Mediensystems.

Gottberg gibt dennoch eine Menge Seherfahrungen zum Besten ("Wenn es um die Verfolgung eines Täters geht, dessen Gefährlichkeit der Zuschauer in eindringlichen Bildern vorher erfahren hat, vergisst selbst derjenige, der sich im realen Leben für mehr Datenschutz einsetzt, die Regeln der Strafprozessordnung ...").  Schließlich zieht er einen zum Glück weit entfernten historischem Hintergrund zum Vergleich heran:

"Wenn Sie an die Filme zurückdenken, die in der Zeit des Nazi-Horrors gedreht wurden, wurden damals viel heile Welt und wenig Tötungen gezeigt. Heute ist Gott sei Dank die Realität zumindest in Deutschland sehr viel friedlicher, insofern kann ich unter diesen Umständen mit den Toten im Fernsehen ganz gut leben."

Schade, dass Huber da nicht bei seinen Fragestellungen bleibt und nach Korrelationen mit der damaligen Nachrichtenlage oder deren Faktizität fragt. Über das irrsinnige Ausmaß, in dem das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen Krimis ausstößt, könnte in ganz anderen Zusammenhängen diskutiert werden. Um rasch einen aufzumachen:

"Die Tagesschau berichtet über gesellschaftlich, national und international relevante Ereignisse. Da zählt ein Mordfall nicht dazu. Das heißt nicht, dass in der Tagesschau Verbrechen niemals thematisiert werden. Natürlich ist die Entwicklung von Verbrechen in Deutschland ein wichtiges Thema. Aber wir können und wir wollen nicht über jeden der circa 300 Mordfälle pro Jahr berichten (wobei interessant ist, dass diese Zahl in den vergangenen 15 Jahren dramatisch abgenommen hat)"

schrieb Kai Gniffke Anfang Dezember auf blog.tagesschau.de (zur damals stark umstrittenen und kurz darauf revidierten Entscheidung, in der "Tagesschau" nicht über die Verhaftung des Tatverdächtigen in einem Freiburger Mord, eines mutmaßlich minderjährigen Flüchtlings, zu berichten).

Fiktional dagegen haben ARD und ZDF für jeden der circa 300 deutschen Mordfälle pro Jahr eine Entsprechung in Erstausstrahlung, zumal wenn man die Vorabendkrimiserien mitzählt.

Und zwar sauber regional verteilt. Nach dem Erfolg des Küstenkrimis vom Donnerstag (sowie nach "Der Staatsanwalt" am Freitag und "Ein starkes Team" am Samstag) hat das ZDF heute abend im Programm: einen Küstenkrimi, von derselben Küste, bloß nicht auf Sylt, sondern in Wilhelmshaven, das näher an Münster liegt, wo der Hauptdarsteller ebenfalls Kommissar ist. Und die neue "Figur des Kommissar Holzer ist geradezu auf eine Fortsetzung angelegt" (Barbara Sichtermann, Tagesspiegel. Siehe natürlich auch hier nebenan).

[+++] Zum auf Anhieb groß und wichtig Erscheinenden, das mit Medien zusammenhängt:

"Ein Triumphgeheul liegt über dem Land. Schmährufe und Schlachtgesänge, ein dröhnendes Wir-haben-es-ja-immer-gesagt. Die angeblich früher herrschende Political Correctness, Multikulti-Diktatur, linke Meinungsführerschaft wird mit höhnischen Liedern ins Grab begleitet."

Wer da in ungewohntem Sound schreibt, ist Stefan Niggemeier, in der FAS von gestern (45 Cent bei Blendle) unter der Unterüberschrift "Die Meinungslandschaft ändert sich".

Niggemeier hat "den Geist der neuen Zeit" gesehen, und zwar "auf der Facebookseite von Ralf Höcker", also des Anwalts, der früher bei vocer.org kolumnierte und Persönlichkeiten wie Jörg Kachelmann, den türkischen Sultan und auch Frauke Petry vertritt.

Dann zitiert Niggemeier, was der Kölner Höcker über Simone Peters Äußerung zum Kölner Silvester 2016 schrieb ("Personen wie Frau Peter ... muss man mit dem Dampfhammer entgegentreten"), und wie er, weiterhin Höcker, bei SPON-Kolumnisten Änderungen ihrer Meinungen erkannt haben möchte ("Die ersten Medienschaffenden, wie Augstein, Lobo und Berg haben es begriffen"). Vielleicht verdienen solche Facebook-Äußerungen tatsächlich die Aufmerksamkeit, die sie durch solche Zeitungsartikel bekommen (zumindest sobald sie frei online gestellt werden). Aber spätestens Niggemeiers kämpferischer Schlusspunkt

"Die neuen Meinungsherrscher wollen keinen Widerspruch. Höchste Zeit, ihnen zu widersprechen",

irritiert erheblich. Falls diese "Meinungsherrscher" tatsächlich so stark geworden sein sollte, wie es die kleine FAS-Apokalypse ausmalt, dann gewiss nicht durch Mangel an Widerspruch. Und falls sich die "Meinungslandschaft" tatsächlich verändern sollte oder bereits verändert hat – dann was? Sollten dann Meinungsland- und -herrschaft auf einem Stand eingefroren werden, als sie noch in Ordnung waren? Aber welchem genau, und wer sollte dafür sorgen?

Stefan Niggemeier hat eine mindestens hoch dreistellige Zahl überzeugender argumentierender Artikel geschrieben.

[+++] Auch nicht ganz unüberraschend: Die Aussage "Troll- und Mobster-Armeen in einem bedrohlichen Ausmaß mobilisieren können aber - glücklicherweise - nur Presseausweisbesitzer und Presseausweis-Nichtbesitzer aus dem rechten Milieu" im Freitags-Altpapier von René.

Wobei natürlich oft mit dem eigenen Standpunkt zusammenhängt, was genau jemand bedrohlich findet und nennt, und das auch völlig legitim ist. Mobilisieren können eher links stehende Menschen jedenfalls weiterhin ganz gut. Das zeigt tagesaktuell die Boykott-Kampagne gegen Xing, das einzige der sogenannten sozialen Netzwerke, das bislang in Deutschland funktioniert und nicht US-amerikanisch ist (sondern gut zur Hälfte zum Burda-Konzern gehört).

Es geht um Tichys Einblick, das oft und oft auch zurecht kritisierte, recht weit rechts stehenden Autorenblog. Roland Tichy ist bislang bis Xing auch "Herausgeber für das Newsformat 'Klartext'". Und aus Kritik an einem Tichys Einblick-Beitrag unter der Überschrift "Warum Sie mit psychopathologisch gestörten Gutmenschen nicht diskutieren sollten" entstand eine Kampagne, Xing-Mitgliedschaften zu beenden. Die ganze Geschichte mit Twitter- sowie Xing-Äußerungen erzählt meedia.de.

Den inzwischen gelöschten tichyseinblick.de-Beitrag zu lesen, gibt es gewiss keinen Grund. Es war ist aber möglich (via blogrebellen.de). Und vielleicht gibt es Gründe, Roland Tichys "Bedauern ... und Bitte um Entschuldigung" auf Anhieb überhaupt nicht ernst zu nehmen. In alle Zwischenbilanzen zur tagesaktuellen Meinungslandschaft sollte diese Sache aber einfließen.

"Von dem Business-Netzwerk gab es am Montagmorgen noch keine Stellungnahme. Eine Anfrage der futurezone bei Xing läuft" (futurezone.at).

[+++] Kai Diekmann war in seiner jahrzehntelangen, noch ein paar Tage laufenden Tätigkeit für die Bild-Zeitung ein Pionier des Umgangs mit der Unschuldsvermutung und ist daher immer noch der Inbegriff des Umgangs mit der Unschuldsvermutung – allerdings nicht eines zurückhaltenden, sinnvollen, respektablen oder vorbildlichen Umgangs, sondern jeweils im Gegenteil.

Dennoch – und das spricht für die Medienlandschaft – machte die am Freitag vom Spiegel leicht vorab verbreitete Nachricht "Springer-Mitarbeiterin wirft Diekmann Belästigung vor" relativ wenig Wind.

Dass Diekmann "wie vorgesehen bis Ende Januar für das Unternehmen arbeiten werde. Es werde eine Abschiedsfeier geben, das Datum sei noch offen. Die Mitarbeiterin, die den Vorwurf des sexuellen Übergriffs erhoben hat, arbeite unverändert für das Medienhaus", bekam der Tagesspiegel von Springer-Sprecherin Edda Fels gesagt. Diekmanns Ankündigung, Springer zu verlassen (Altpapier) sei schon älter; "wie man hört, soll der Vorgang den Abschied aber beschleunigt haben", berichtete die SZ. Wobei um das zu hören auch ausreichte, die Spiegel-Originalmeldung zu lesen. Selbst focus.de, wohl am ehesten die Entsprechung zu bild.de, berichtet zurückhaltend.

Insofern stammt der sowohl nachrichtlich umfassendste als auch schönste Beitrag zur Sache (unter dem bei bildblog.de aber sicherheitshalber aber drunter steht, dass er weitestgehend "erfunden" ist – die Zeiten sind so ...) vom neuen Altpapier-Autor Ralf Heimann:

"... Kai Diekmann selbst hatte sich gleich nach Bekanntwerden der Vorwürfe öffentlich geäußert. Bei einer Pressekonferenz in der 19. Etage des 'Springer'-Hochhauses bezeichnete er die Berichte als 'Kampagnen-Journalismus der übelsten Art' und beteuerte seine Unschuld. 'Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort — ich wiederhole: mein Ehrenwort, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe haltlos sind', sagte er. Nachfragen ließ er nicht zu. Nach der Pressekonferenz verschwand Diekmann wortlos. Mit einer 'Bild'-Zeitung in der Hand fuhr er nach unten — im gleichen Fahrstuhl, in dem er gekommen war."

Es ließe sich nun noch erwähnen, dass zu denen, die die Unschuldsvermutung für Diekmann offen einfordern, die erwähnten Ralf Höcker sowie Jörg Kachelmann gehören. Aber das muss auch nicht. Bzw. [leichter Nachtrag]  verdiente diese Aufmerksamkeit dann sehr viel eher das große Kachelmann-Interview der TAZ  ("Fühlen Sie so etwas wie Schadenfreude oder Genugtuung? ..." - "Nein. Ich bin auch charakterlich nicht so, wie ich 2010 durch die Diekmänner dieser Welt verzeichnet wurde ...").

Lieber ein Blick auf den Spiegel selbst, der bekanntlich (Altpapier) gerade groß Geburtstag feiert und mit dieser Meldung noch mal so wie früher vorab in aller Munde war. Das jedoch im ...


Altpapierkorb

+++ Vom Spiegel-Geburtstags-Empfang im Hamburger Rathaus, der "nicht ganz zur Geburtstagskampagne des Magazins" gepasst habe, berichtete Thomas Hahn in der Süddeutschen (und umriss dann auch noch mal die Probleme des Spiegel im Umgang mit der eigenen Rolle). +++ Die Ansprache Olaf Scholz' mit fein hanseatisch differenzierten Begrüßungen steht auch auf olafscholz.hamburg. In der Menge der Politiker-Reden zu Medien-Themen gibt es eine sehr viele deutlich weniger lesenswerte. U.a. sagte der SPD-Mann: "Manche halten ja den Verzicht auf sogenannte „Mainstream“-Medien für einen Akt informationeller Souveränität. Sie merken nicht, dass sie sich dabei zugleich von jener durch Tatsachen begründeten Weltsicht emanzipieren, die unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft im Kern ausmacht. Ihnen gilt es zu beweisen, dass redaktionelle Arbeit einen Mehrwert hat. Dafür müssen wir alle im besten Sinne Stimmung machen. Redaktionen sind doch vor allem so etwas wie Wahrheitssuchmaschinen ... " +++

+++ Falls Sie sich für deutsche Krimis interessieren: Ein bisschen könnte die ARD doch sparen, und zwar sich eine Fortsetzung der vergleichsweise oft gelobten "Schmunzelkrimi"-Serie "Mord mit Aussicht". Das glaubt quotenmeter.de einem Interview mit Hauptdarstellerin Caroline Peters entnehmen zu können. +++

+++ "Über die Verfasstheit der Redaktion" von Charlie Hebdo "zwei Jahre nach dem Anschlag" berichtet Harriet Wolf in der TAZ ("Rund 200.000 Abonnenten hat die Wochenzeitung momentan, im Gegensatz zu 8.000 vor dem Anschlag. Etwa zwölf Millionen Euro Überschuss kamen durch die weltweit verkaufte Nummer nach dem Attentat zusammen, dazu noch etwa 4,3 Millionen Euro, die 36.000 Menschen aus 84 Ländern für die Hinterbliebenen spendeten. Nicht wenige der früheren MitarbeiterInnen haben das Blatt mittlerweile verlassen – und meist dabei an Kritik nicht gespart") +++

+++ Im großen Tagesspiegel-Interview (Blendle) äußert sich Berlins Regierungschef Michael Müller u.a. skeptisch über Twitter, und zwar ungefähr so (Lorenz Maroldt auf Twitter).  

+++ Kurt Sagatz hat für den Tsp. schon mal die neue Antennendigitalfernseh-Technik ausprobiert, auf die Ende März hart umgeschaltet wird: "Die Ersteinrichtung der Box dauert weniger als eine Viertelstunde", doch sollten Kunden noch mit der Entscheidung warten ... +++

+++ Auf der SZ-Medienseite: ein Nachruf Willi Winklers auf den "vorbildlich unzuverlässigen Journalisten Nat Hentoff", der mit 91 Jahren starb. +++ Ignatz Bubis wäre in Kürze 90 geworden, ist aber früher gestorben. Eine 23.30-Uhr-ARD-Doku über ihn stellt die SZ unter der Überschrift "Der Verbitterte" vor. +++ Ferner schaut Jürgen Schmieder auf den aktuellen "Heiligen Gral der Unterhaltungsindustrie", die Virtual Reality. +++

+++ Und (via Heiko Hilker/ DIMBB): "Der Westdeutsche Rundfunk galt einst als die dichteste Ansammlung von Anonymen Alkoholikern", schreibt Günter Wallraff in der Berliner Zeitung, freilich in ziemlich anderen Zusammenhängen (Lob der AA und des Benjamin-von-Stuckrad-Barre-Buchs "Panikherz" ...) als solchen der ARD-Kritik. . +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

 

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