So einfach ist das

So einfach ist das
Das Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern bringt die Vitalität des deutschen Parteiensystems zum Ausdruck. Man kann der repräsentativen Demokratie schließlich nicht vorwerfen, wenn sie die Meinungen repräsentiert, die in der Wählerschaft zu finden sind. Das gilt in gleicher Weise für das Mediensystem selbst. Unzulänglichkeiten im etablierten Angebot schaffen Platz für neue Akteure. Dafür erlebte das Publikum am Freitag, wie verwirrend die Meinungsbildung der Bundesregierung für Journalisten sein kann.

Die Funktionsweise einer repräsentativen Demokratie ist einfach zu verstehen. Sie bildet die in der Wählerschaft vorhandenen Überzeugungen und Sichtweisen ab. In unserem politischen System setzt das entsprechende politischer Parteien voraus. Diese müsse sich hinlänglich voneinander unterscheiden, damit Parlamente ein repräsentativer Querschnitt dieser in der Bevölkerung vorhandenen Meinungen sind. Dabei prägt bis heute eine vergleichsweise kurze Epoche das Bild der Medien auf die deutsche Politik. Es ist das bundesdeutsche Drei-Parteiensystem zwischen 1957 und 1983 aus CDU/CSU und SPD (und mit der FDP als potentiellen Juniorpartner einer der beiden früheren Volksparteien). Dafür musste man gestern Abend nur die Reaktionen auf das Landtagswahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern verfolgen. Die Etablierung eines neuen parteipolitischen Akteurs namens AfD löst Erstaunen aus, obwohl die Wahlumfragen der Meinungsforschungsinstitute am späteren Wahlergebnis erstaunlich nah dran waren. Michael Hanfeld beschreibt das heute Nacht so:

„Ein Kunststück bringen alle Beteiligten an diesem Wahlabend gemeinsam fertig: Sie reden ununterbrochen über die Flüchtlingspolitik, obwohl es doch gar keinen Grund gebe, darüber zu sprechen, weil diese in Mecklenburg-Vorpommern, wo kaum Flüchtlinge untergebracht seien, keine Rolle spiele. Aber dummerweise hätten die Wähler ja unbedingt ihren Protest gegen die Politik in Berlin loswerden wollen.“

Aus den Wahlanalysen wird deutlich, warum es dieses Wahlergebnis gab. In dem aktuell wichtigsten Konfliktfeld der deutschen Politik hat die AfD ein Alleinstellungsmerkmal. Wichtige Aussagen dieser Partei werden zudem von den Wählern anderer Parteien geteilt. Diese operieren aber als homogener Block in der Ablehnung der AfD. Damit gerät diese kommunikativ in eine bemerkenswerte Situation. Ihr Thema bestimmt die politische Debatte. Gleichzeitig müssen alle anderen Parteien auf die hohen Zustimmungsraten der eigenen Wähler auf zentrale Aussagen der AfD reagieren. Sich dagegen politisch zu positionieren, hat eine schlichte Konsequenz: Sie stärkt noch das Alleinstellungsmerkmal der AfD. Damit konkurrieren die bisherigen Bundestagsparteien von CDU bis Linke auf diesem Politikfeld um jene 50 Prozent, die folgender Aussage nicht zustimmen:

„Die Art und Weise, wie wir leben, verändert sich hier zu stark.“

Die AfD kann dagegen das andere Lager repräsentieren. Eine für sie höchst komfortable Lage.

+++ Das Wahlergebnis ist somit ein Beleg für eine funktionierende repräsentative Demokratie. Die AfD hätte in dieser Konstellation sogar noch besser abschneiden können. Das bisherige Parteiensystem erwies sich als unzulänglich, um die Meinungsbildung in der Bevölkerung entsprechend zu repräsentieren. Damit wurde Platz geschaffen für einen neuen politischen Akteur. Heribert Prantl hat das in der Süddeutschen Zeitung in einem Nebensatz so zusammengefasst. Als „Aufforderung an die beschnittenen Parteien, klarer, kommunikativer und unterscheidbarer zu werden.“ Das Mediensystem hat dabei seine bekannte Funktion. Es ermöglicht die Meinungsbildung in der Bevölkerung durch das Herstellen von Öffentlichkeit. Dabei haben einzelne Medienakteure zwar ebenfalls Meinungen. Das Mediensystem als Ganzes kann aber nicht darüber entscheiden, welche es gibt oder geben soll. Wenn das die etablierten Akteure im Mediensystem versuchten, machten sie die gleiche Erfahrung wie die im Parteiensystem. In einem digitalisierten Mediensystem mit niedriger Eintrittssschwelle etablieren sich anschließend neue Akteure.

Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit, sieht die Rolle der etablierten Medien im Cicero daher selbstkritisch:

„Wir waren aber zumindest in der Anfangszeit geradezu beseelt von der historischen Aufgabe, die es nun zu bewältigen galt. Von der Bild-Zeitung, die sogar die Parole der Autonomen übernahm („Refugees welcome“), bis – jedenfalls anfänglich – zur Zeit, die noch vor dem 4. September eine Titelgeschichte mit der Zeile „Willkommen“ brachte. Damit einher ging die Missachtung der Ängste in der Bevölkerung. Noch problematischer war die kritiklose Übernahme der Erklärungen einer Bundesregierung, der nun jedes Wort recht war, sich etwas nachträglich schönzureden, was in Wirklichkeit ungeplant passiert war. Dazu gehörte insbesondere der Satz, dass man Grenzen nicht schützen könne, es sei denn, man würde den Schießbefehl wieder einführen, und dass in unserer veralteten Gesellschaft nahezu jeder Flüchtling schon bald eine Bereicherung sein werde.“

Die berühmten „Ängste der Bevölkerung“ dokumentieren allerdings ein paternalistisches Politikverständnis. Natürlich geht es nicht um Ängste, sondern um konkurrierende Sichtweisen zu einem identischen Sachverhalt. Es existieren halt unterschiedliche politische Meinungen. In der NZZ wird das heute Morgen so beschrieben:

„Dieser Rausch, der die Mehrheit der Medien zu Gehilfen einer Politik machte, die sich moralisch überlegen gab, dauerte nicht lange an, hatte aber einen politischen Preis. … . In der politischen Diskussion wurde sie (die AfD. F.L.) dadurch zur Protestpartei. Im Grunde fehlte aber, bis auf die nur in Bayern vertretene CSU unter ihrem Vorsitzenden Horst Seehofer, ein Gegenentwurf der etablierten Parteien. Der AfD gelang es bald, die Berliner Politik vor sich herzutreiben.“

Manche etablierte Medien haben an diesem Montag nach der Wahl wahrscheinlich den gleichen Kater, wie die etablierten Parteien. Dabei müssten sie nur jenen Rat beherzigen, den Ursula Scheer am Samstag vor der Wahl in der FAZ gab:

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Wenn Medien ihrer Aufgabe in der Demokratie gerecht werden wollen, müssen sie zuerst einmal das eine: ihrem Publikum vertrauen. Mediennutzer sind nicht so naiv, jeder Propaganda hinterherzurennen, sie können Recherche und Effekthascherei unterscheiden, und wer daran nicht glaubt, sondern lieber fürsorglich lenkend berichten will, füttert genau das Monster des Misstrauens, das er fürchtet.“

Wenn die Sichtweisen der Wähler im etablierten Parteiensystem nicht mehr stattfinden, suchen sie sich eine Alternative. Wenn sich Leser, Zuschauer und Hörer in den etablierten Medien nicht wiederfinden, suchen sie sich andere Informationsquellen. Sowohl das Parteien- als auch das Mediensystem funktionieren also, wenn sie sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Damit wird über die Qualität der neuen Mitspieler kein Urteil gesprochen. Systeme geben schließlich keine Werturteile ab, sondern das machen die einzelnen Akteure im Rahmen dieses Systems. Es gibt somit weiterhin genug Gründe etwa für eine kritische Kommentierung der AfD. Diese Anpassung an veränderte Umweltbedingungen weist lediglich auf die Defizite des bisherigen Angebots hin. So einfach ist das. Dafür muss man noch nicht einmal Systemtheoretiker sein. 

+++ Wie Politik im Kontext mit Medien funktioniert, war am vergangenen Freitag zu erleben. Spiegel online hatte am Morgen über die Absicht der Bundesregierung berichtet, sich von der Armenienresolution des Bundestages aus dem Juni zu distanzieren. Diese Meldung löste eine heftige Debatte aus. Politisch ging es um die Frage, ob diese Distanzierung als "Kotau der Kanzlerin" vor dem türkischen Präsidenten Erdogan zu werten ist. Interessanter ist hier die Frage, wie diese Meldung eigentlich entstanden ist. Es gibt zwei konkurrierende Interpretationen. Nach der einen handelte es sich um eine gezielte Indiskretion der Bundesregierung an den Spiegel. Die Welt formuliert das so:

„Der Konflikt mit der Türkei schwelt zwar, in Deutschland aber gab es bis zu diesem Freitag keine richtige Debatte darüber mehr. Hätte es nicht diese "Falschmeldung" gegeben, wäre eine diesbezügliche Einlassung des Regierungssprechers aus heiterem Himmel gekommen und zu Recht als Kotau vor Erdogan verstanden worden. So aber konnte die Regierung reagieren und musste nicht agieren. Das ist alles andere als irrelevant. Schließlich handelt es sich hier um höchst diffizile diplomatische und politische Fragen, wo es auf jedes kleinste Wörtchen und das richtige Timing ankommt.“

Die Bundesregierung instrumentalisiert in dieser Perspektive das Nachrichtenmagazin, um die gewünschte Botschaften zu platzieren. Der Türkei wird vom Regierungssprecher mit Hilfe der Fomulierung namens der "fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit“ dieser Bundestagsresolution das gewünschte Signal der Distanzierung vermittelt. Innenpolitisch geht es aber um die entgegengesetzte Botschaft. Die heftige Kritik auf die Spiegel-Meldung wird für ein klares Dementi genutzt. Die „fehlende rechtliche Verbindlichkeit“ bedeute in diesem Zusammenhang nicht "die politische Distanzierung" von der fast einstimmig beschlossenen Bundestagsresolution. Die andere These geht von einer Indiskretion aus, die den besagten Kotau vor Erdogan gerade ausdrücklich verhindern will. Sie fand in der Bild ihren prominentesten Fürsprecher.

„Im Berliner Regierungsviertel wird nun spekuliert, wer den Deal vorab dem „Spiegel“ steckte – ganz offenbar, um ihn zu sabotieren. Zwei Theorien kursieren: Erste Theorie: Ein Mitarbeiter im Kanzleramt war nicht einverstanden mit der Absprache des Kanzleramts mit der Türkei, stach deswegen die Sprachregelung an den „Spiegel“ durch und zwang Seibert so, sich von einer Distanzierung zu distanzieren. Zweite Theorie: Die Quelle saß im Auswärtigen Amt. Dort sehen viele jedes Eingeständnis gegenüber Erdogan extrem kritisch.“

Tatsächlich ist es nicht nachvollziehbar, warum eine schlichte Frage in der Bundespressekonferenz nicht ausgereicht haben soll. Es findet sich immer ein Kollege, der den Regierungssprecher wie folgt um die gewünschte Auskunft bittet:

Gibt es zu dem Konflikt mit der Türkei um die Armenienresolutuion des Bundestages neue Erkenntnisse?

Der Spiegel hat sich gegen die Kritik aus der Politik gewehrt, er habe eine Falschmeldung publiziert. Dafür gab es stichhaltige Gründe. Schließlich hat der Regierungssprecher nichts anderes gesagt, was schon am Morgen zu lesen war. Aber dieser Kommentar auf Spiegel Online verschafft doch eine gewisse Klarheit.

„Letztlich versuchen Merkel und Steinmeier, Erdogan eine Brücke zu bauen, damit sich das angespannte Verhältnis entkrampfen kann. Das ist kluge Politik. Was wäre die Alternative: Erdogan und die Türkei vollständig zu isolieren und in ein Bündnis mit Wladimir Putin zu treiben? Jetzt muss Erdogan allerdings auch bereit sein, die Brücke zu betreten, die man ihm gebaut hat.“

Diese hat Erdogan mittlerweile betreten. Das kann man politisch für richtig halten – und die Armenienresolution für ausgemachten Unsinn. Allerdings erwies sich damit wohl der Spiegel als hilfreicher Brückenbauer. Aber auf eine Idee muss man erst einmal kommen. Die heftigen politischen Reaktionen erst über den Brückenbauer namens Spiegel zu erzeugen, um damit folgende Botschaft mitzuteilen. Wir distanzieren uns, indem wir uns nicht distanzieren. Wahrscheinlich war das Hantieren mit kommunikativen Metaebenen gut durchdacht, aber deren Wirkung schlecht kalkuliert. Manche Wähler in Mecklenburg-Vorpommern werden es wohl so interpretiert haben, wie es nicht verstanden werden sollte: Als Kotau vor Erdogan. Komplexe Sachverhalte brauchen übrigens nicht zwangsläufig komplexe Botschaften. Ansonsten verheddert man sich sehr schnell in den Strippen, die man zu ziehen meint. Die freitägliche Aufregung gibt einen guten Hinweis darauf, was damit gemeint ist.


Altpapierkorb

+++ Was gestern Abend bisweilen auf Twitter diskutiert worden ist. Wie sollen ARD und ZDF die „Berliner Runde“ nach Landtagswahlen besetzen? Bisher gilt ein eherner Grundsatz. Über die bundespolitischen Auswirkungen solcher Wahlen diskutieren allein die im Bundestag vertretenen Parteien. Dazu gehört auch die CSU, obwohl sie nur in Bayern antritt. Diese Regel kann natürlich geändert werden. Es ist allein die journalistische Entscheidung von ARD und ZDF, wie sie dieses Diskussionsforum besetzen. Aber sie hat sich als sinnvoll erwiesen. Der Bundestag repräsentiert den Wählerwillen in der laufenden Legislaturperiode. Wenn es ein einziges solches (öffentlich-rechtliches) journalistisches Format gibt, ist das nicht als Privilegierung der Bundestagsparteien zu werten. Zudem haben die nicht im Bundestag vertretenen Parteien genügend andere Möglichkeiten, um zu Wort zu kommen. Anders sind Diskussionssendungen in der Wahlkampfberichterstattung zu beurteilen. Dort führte der Ausschluß der Konkurrenz zur Privilegierung von Platzhirschen.

+++ Unter anderem die Welt berichtet über ein Interview von Richard Gutjahr mit dem Medium Magazin: „Der Journalist äußerte sich erstmals in einem Interview mit der Fachzeitschrift "Medium Magazin" über seine Erfahrungen nach Nizza und München. Gegen seinen Heimatsender, den Bayerischen Rundfunk (BR), erhebt er schwere Vorwürfe. Gutjahr hatte den Lastwagen in Nizza mit seinem Smartphone gefilmt, von einem Haus gegenüber der Promenade, bevor dessen Fahrer ihn in die Menschentrauben lenkte.“ Dabei äußert Gutjahr nicht nur besagte Kritik. Es wird zudem deutlich, welche Schwierigkeiten der Einsatz heutigen medialer Möglichkeiten mit sich bringt. Ebenfalls ein Signum dieses Mediensystems. Die persönlichen Angriffe auf Gutjahr und seine Familie.

+++ Dazu passt auch der heutige Gastkommentar von Bundestagspräsident Norbert Lammert in der FAZ.

+++ Echtzeit ist von der Vermittlungsgeschwindigkeit abhängig. Wie diese im 19. Jahrhundert ausgesehen hat, berichtet Altpapier-Autor Christian Bartels in epd-Medien. Dagegen werden die US-Zeitungsverleger das Wort Zeitung aus ihrem Verbandsnamen streichen, so turi. Die eingehende Begründung liest man in der New York Times.

+++ Einen Überblick über die Reaktion der Medien auf die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern gibt Meedia. Sie zitieren unter anderen Lamya Kaddor über die Rolle der Medien: „Es muss nicht jede geschlagene Volte einer Partei debattiert werden, die bei allen Landtagswahlen bislang von gerade einmal rund zwei der gut 62 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme bekommen hat – weswegen auch immer. Man muss sich nicht über jede Provokation lautstark empören, nur um den Urhebern der Provokation nachher wieder Raum zum Relativieren zu geben. Es sollte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass diese Masche eine Masche ist. Den Aufschwung der AfD durch überbordende Aufmerksamkeit zu befördern, ist gefährlich, denn es macht ihre kruden Thesen weiter salonfähig. Wir konnten diesen Mechanismus beim Hype um Thilo Sarrazin gut beobachten. Stillschweigen oder hypen? Ich denke, die goldene Mitte wäre nicht schlecht. Das Wichtige besprechen, das Unwichtige verschweigen. Wenn wir alle nicht jeden Beitrag über die AfD in sozialen Medien teilen, nicht jede Aussage kommentieren würden, wäre schon vieles gewonnen.“ Dazu passt übrigens dieses Interview mit dem Bundesinnenminister in der Welt. Dort versucht er zu erklären, warum das passiert ist, was sich aber auf keinen Fall wiederholen darf. Die These, erst dieser kommunikative gordische Knoten habe der AfD die bekannte Aufmerksamkeit gesichert, sollte sich herumgesprochen haben.

+++ Dafür wächst zusammen, was zusammengehört. Pro 7 übernimmt Parship.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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