Spaghetti im Schuh

Spaghetti im Schuh
Ersetzt ein bis zwei Stunden eine Ausstellung ansehen ein Jahr Zeitschriften-Lesen? Neues von den Visual Leadern. Auch neu: das deutsche oder sogar Deutsche Medienschiedsgericht. Wie geht regulärer Schiedsbetrieb in der "Revolution des Umbruchs"? Wachstum herrscht bei der urheberrechtlichen Reformlücke. Und wer ist denn nun deutsche Medienhauptstadt?

Spaghetti im sportiven Herrenschuh, dieses Cattelan & Ferrari-Motiv aus dem Zeit-Magazin ziert die Webseite, mit der die Deichtorhallen auf der Hamburger Kunstmeile für den Besuch der gerade eröffneten Ausstellung "Visualleader 2016 - Das Beste aus Zeitungen, Zeitschriften und Internet" werben.

Das Zeit-Magazin zählt gewiss zu den ultimativsten Visual Leadern der Gegenwart, es bietet aktuell außer interessanten Inhalten auch Tipps, wie man seiner "Kühlbox ... ein Makeover verpasst". Und Zielgruppen, die solche Lebensart schätzen, ziehen zweifellos die Verbraucherinformationen, die ihnen darin begegnet sind, in Betracht, wenn sie das nächste Mal Schuhe oder Pasta kaufen. Oder Uhren. Das gehört ja dazu zum klassischen Geschäft mit Zeitungen und Zeitschriften.

Wichtig in der Hamburger Ausstellung ist allerdings etwas anderes, sofern man dem Text unterhalb des Cattelan & Ferrari-Bilds vertraut:

"Ein Schwerpunkt liegt in diesem Jahr auf eindrucksvollen, oft in schwarz-weiß gehaltenen Foto-Reportagen aus den vielen Krisengebieten der Welt, ob aus Syrien, dem Irak, der Türkei oder der Ost-Ukraine. Bilder von Flüchtlingen auf der Balkan- oder Mittelmeerroute geben einen hochemotionalen Eindruck von der Völkerwanderung, die Europa und die ganze Welt in Atem hält. Fotos aus den USA berichten vom Wiederaufkeimen des Rassenkonflikts, unter schwierigsten Umständen entstandene Aufnahmen aus Afrika und dem arabischen Raum führen uns soziale Verwerfungen und gewalttätige Auseinandersetzungen vor Augen ...",

steht da erst mal. Vermutlich glauben Markus Peichl und seine Kumpels von der "LeadAcademy" nicht, dass fotografierte soziale Verwerfungen in "unserer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt" (ebd.) große Zielgruppen zum Besuch einer physischen Ausstellung anlocken und vertrauen deshalb auf das ansprechendere, bunte Cattelan & Ferrari-Motiv.

Insgesamt sei der Besuch der "mehr als 1.200 Quadratmeter große Ausstellungsfläche" jedoch "nur (zu) empfehlen", findet Ulrike Simon in ihrer RND-/ Madsack-Medienkolumne: "Für ein oder zwei Stunden ist alles vergessen, was einem im Medienalltag an Einfallslosigkeit begegnet".

Vor allem über diese Einfallslosigkeit sprach sie dann auch mit Peichl, der trotz der sehr vielen Lead-Award-Nominierungen dieses Jahres "keinerlei Anzeichen, in einen seiner mitreißenden Begeisterungsstürme zu verfallen", zeigte. Dank welchen älteren Hutes es der Jury überhaupt gelang, "nicht gänzlich blöd da(zu)stehen" und selbst in diesem Jahr wieder nominierbare Zeitschriftcover aufzutreiben, darunter vom Spiegel und der Barbara, verrät die ausgewiesene Papier-Freundin Simon auch.

Zwischen ihren harten Worten und den vielen großen der Academy liegt eines der Probleme der gedruckten Presse.

[+++] Wo sie Einfälle haben: in Sachsen. Das im Mai angekündigte deutsche Medienschiedsgericht in Leipzig steht nun, auch online. Da schreibt es sich sogar Deutsches Medienschiedsgericht. Ab 2017 nimmt es seinen "regulären Schiedsbetrieb" auf.

Die Sub-Webseite mit den berufenen Richtern wirkt noch nicht Lead-Award-Nominierungs-verdächtig, dafür grundseriös, und zeigt 21 Persönlichkeiten, darunter vier Frauen. Auch interessant ist die Liste der zehn Gründungsmitglieder des Vereins, zu denen außer dem Zeitschriftenverleger-Verband VDZ etwa das ZDF und die VG Media gehören - die vor allem als bislang recht erfolg- und/ oder glücklose Eintreiberin von Verlags-Einnahmen aus dem Leistungsschutzrecht für Verlage bekannt ist.

Was also wird das neue DMS im "regulären Schiedsbetrieb" tun?

"Fragen zu Urheberrechten und Lizenzen" nannte der Urheber der Schiedsgerichts-Idee, der sächsische Staatskanzleichef Fritz Jaeckel (CDU), berichtet der EPD (hier nebenan): Es gebe "in der Branche einen großen Bedarf, auch abseits von Gerichtsverfahren über strittige Punkte zu verhandeln. Grund dafür sei, dass sich die gesamte Medienbranche durch das Internet 'in einer Revolution des Umbruchs' befinde".

"Als typisches Beispiel nannte Jaeckel in der Pressekonferenz Probleme von Startups, die Daten von Medienkunden aufbereiten wollen - oftmals herrsche bei solchen Angeboten Unklarheit, wem die Daten gehören und wie die Nutzung rechtlich geregelt werden könnte" (flurfunk-dresden.de, mit "Transparenzhinweis" unten drunter, während sich die Leipziger Volkszeitung mit Agentrumeldung und Justititia-Symbolbild begnügt).

"In der Vergangenheit war im Medienbereich eine zunehmende Diskrepanz zwischen der Geschwindigkeit des technologischen Wandels und der Dauer gerichtlicher Verfahren bis zu ihrem rechtskräftigen Abschluss zu verzeichnen. Oft benötigen Unternehmen aber eine rasche Entscheidung, über das was geht oder eben auch nicht geht. Schließlich geht es nicht selten um Investitionen in Millionenhöhe, die rechtlich abgesichert werden müssen",

sagt Jaeckel in einem ebd. verlinkten, im Juli erschienenen Interview (Promedia/ medienpolitik.net).

Am konkretesten Wolfgang Janisch, der Korrespondent der Süddeutschen (Blendle-Link) in der deutschen Justizhauptstadt Karlsruhe:

"Inhaltlich wird es vor allem um Wettbewerbs- oder Urheberrechtskonflikte gehen. Also etwa um Kabelnetzentgelte oder neue Geschäftsfelder wie die 'Tagesschau'-App. Der jahrelange Prozess um die 'Tagesschau'-App verdeutlicht aus Jaeckels Sicht, warum sich die Medienhäuser ein Schiedsgericht wünschen",

Womit er absolut recht hat. Schließlich wird vor dem Oberlandesgericht Köln immer noch über mögliche "Presseähnlichkeit" dieser App am 15. Juni 2011 verhandelt. Und dass diese mit Apps, wie sie ein halbes Jahrzehnt später bestehen, wenig zu tun hat, wissen auch Laien. Die laangen Wege von einer Instanz zur nächsten, die so gut wie jedes relevante medienjuristische Problem durchmacht (weil die Medienpolitik sich weniger um sinnvolle Gesetze bemüht als mit Mühe Rundfunkänderungsstaatsverträge durch die Landtage bringt) zu verkürzen, wäre sinnvoll.

Janisch weiß aber auch, dass der Begriff Schiedsgericht aktuell kaum jemanden ans Bühnenschiedsgericht (von dem Jaeckel im Promedia-Interview spricht) denken lässt, sondern an so was wie TTIP. Und also nicht gerade positiv besetzt ist, weil:

"Tatsächlich ist – ganz generell – die mangelnde Transparenz ein heikler Punkt der Schiedsgerichte. Staatliche Gerichte beziehen sich in ihren Urteilen aufeinander, und die höchste Instanz sorgt als ordnende Hand für Rechtssicherheit. Bei vertraulichen Schiedssprüchen dagegen funktioniert das nicht. Nach Jaeckels Vorstellung sollten die Schiedsrichter deshalb bei den Beteiligten für die Veröffentlichung der Sprüche werben".

Wie gut so eine Schiedsgerichtsbarkeit bei Fragen gelingt, in denen sich die VG Media engagiert und bei denen die Streitgegner nicht zum Leipziger Verein gehören, sondern sich im Zweifel auf irische Gesetze oder US-amerikanische berufen, ist natürlich eine andere Frage.

[+++] An dieser Front sind neue, womöglich umstürzende Entwicklungen kurz vorm Hervorbrechen. Die Pläne für ein EU-weites Leistungsschutzrecht nach dem bisher überhaupt nicht bewährten deutschen Muster (Altpapierkorb gestern, netzpolitik.org) sorgen für ansteigende Diskussionen in der Nische.

U.a. gibt's einen Kommentar Leonhard Dobuschs bei netzpolitik.org ("Die Reformlücke ... wird kontinuierlich wachsen. Das Ausmaß dieser Reformlücke zu quantifizieren ist schwer ... Bleibt als halbwegs verlässlicher Indikator für die Reformlücke die eingangs erwähnte Alltags(un)tauglichkeit des Urheberrechts. Dieser Indikator ist aber schon längst im roten Bereich") und einen deutlich alarmistischeren bei zeit.de.

Falls tatsächlich nicht nur das untaugliche LSR auf die gesamte EU, sondern auch noch die fragliche Schutzfrist von schon stolzen fünf bis zehn (Stefan Krempl bei heise.de) auf 20 Jahre ausgeweitet werden sollte, würde jeder relative Gewinn an Medien-Rechtssicherheit durch ein Vielfaches an neuer Unsicherheit aufgehoben.

[+++] Da es eben schon um die ziemlich unstrittige Justizhauptstadt ging: Joachim Huber vom Tagesspiegel hat die gestern hier (wegen seiner Formulierung von Hamburg als "der früheren Medienhauptstadt") gestellte Nachfrage, welche denn heute die deutsche Medienhauptstadt beantwortet. Salomonisch:

###extern|twitter|HuberJoachim/status/771443314809790464###


Altpapierkorb

+++ "Die zerstörerische Taktik, die gegen Journalisten angewendet wird", schildert die "Türkische Chronik"im SZ-Feuilleton nahezu täglich. Dass sich nichts ändert (und das die EU kaum stört), ist die News. "Die türkische Regierung will unbedingt gegen, wie sie sie nennt, Staatsfeinde vorgehen. So kann die Gesellschaft in Alarmbereitschaft gehalten werden, abhängig von den Oberen. Die verlassen sich auf den dauerhaften Ausnahmezustand, der jeden Tag neu ausgerufen wird. Kritische Medien gelten als Gülen-Anhänger und werden gebrandmarkt, ebenso die kurdischen Medien, weil sie angeblich die PKK unterstützen. Jegliche journalistische Integrität soll getilgt werden ...", schreibt Yavuz Baydar heute dort. +++

+++ Ressortübergreifendes Querschnittsthema der Woche zurzeit: ein Jahr "Wir schaffen das" und die Folgen. Während Stefan Niggemeier bei uebermedien.de "ein bisschen ... das Bedürfnis" hat, Die Zeit "gegen die Kritik ihres Chefredakteurs in Schutz zu nehmen" (und erfolgreich stillt), greifen auf der FAZ-Medienseite unter der Überschrift "Hinterher sind nicht alle schlauer" Michael Hanfeld und Ursula Scheer als Autorenteam ein und erwartungsgemäß diverse Akteure an: Giovanni di Lorenzo "grüßt aus dem Glashaus", und "Alles wohlfeil, alles wohl wahr – aber für wen gilt das denn, wenn nicht für diejenigen, die uns mit Spekulationen in Endlosschleife in Atem gehalten haben?", schreiben sie zum Georg Mascolo/ Peter Neumann-Artikel "Warum sich die Berichterstattung über Terror ändern muss" in der Süddeutschen. Vilelleicht ihre Kernthese: "Ohne die monatelange wohlwollende Berichterstattung, die ein Sorgen, Kritik und Ängste weglächelndes Willkommensklima medial verstärkte, sind die Wegduckreflexe nach der Silvesternacht von Köln kaum zu erklären. Aber auch nicht ohne die fremdenfeindlichen Ausschreitungen, die sich im sächsischen Heidenau schon im August 2015 gegen ein Asylbewerberheim gerichtet hatten."  +++

+++ Außerdem dreht Adrian Lobe ebd. die Frage "Wer haftet für Lügen, die Algorithmen verbreiten?" (siehe Altpapier vom Mittwoch) weiter. Facebook könne "auf eine Rechtsvorschrift verweisen: Section 230 des Communications Decency Act von 1996. Sie besagt, dass kein 'Provider oder Nutzer eines interaktiven Computers' für Informationen haftet, die von einem anderen stammt." Doch die Logik "Wer Nachrichten produziert, muss für deren Wahrheitsgehalt einstehen, wer sie weltweit verbreitet, nicht, erst recht nicht, wenn das automatisiert erfolgt" werde auch in den USA angezweifelt. +++

+++ Die SZ-Medienseite wagt die These, dass "die People-Zeitschrift Bunte, die seit Juli einen neuen Chef hat ...  möglicherweise mit einem Genrewechsel flirtet" und "Märchenheft" werden möchte. Seien Sie gespannt auf das Altpapier des Gastautors Dorin Popa nächste Woche ...  +++ Und befasst sich nun auch mit der lange unterbliebenen ("Keine Regierung wagte es zuvor, es sich mit den Medienbaronen anzulegen"), jetzt umstrittenen Auktion von Fernsehsenderlizenzen in Griechenland. +++

+++ René Martens stellt in der neuen epd medien-Ausgabe Beispiele dafür vor, was deutschsprachige Medien so mit Geld anstellen, das ihnen Googles "Digital News Initiative"-Rahmen spendiert. Zur von der Deutschen Welle mit dem Kooperationspartner Athens Technology Center entwickelten Plattform "Verify.Media" schreibt er: "Man kann davon ausgehen, dass Google in den Richtlinien seiner Digital News Initiative die Förderung öffentlich finanzierter Unternehmen bewusst nicht ausgeschlossen hat. Aber sollte ein Sender, der jährlich 300 Millionen Euro aus Steuergeldern bekommt, nicht in der Lage sein, Innovatives auch ohne die Unterstützung mächtiger privatwirtschaftlicher Konzerne zu entwickeln?" +++

+++ Der im September neu anlaufende, frei empfangbare Sender mit dem seltsamen Namen "Kabel eins Doku" bekommt eine werktägliche Magazinsendung von "Spiegel TV" produziert und "von Annika de Buhr moderiert ..., die vor einigen Jahren im ZDF die Nachrichtensendung 'heute nacht' präsentierte und aktuell für den NDR tätig ist" (dwdl.de). +++

+++ Eine fulminante Analyse des US-amerikanischen Wahlkampfs stellt Franz Everschor in der Medienkorrespondenz ganz am Rande an, bevor er auf ABC-Serie gespannt macht, in der der "24"-Rambo Kiefer Sutherland einen Überraschungs-US-Präsidenten spielen wird: "Wer im November die Wahl zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewinnt, wird seinen Erfolg vornehmlich der Tatsache zu verdanken haben, dass die Wähler nicht wirklich für ihn oder sie gestimmt haben, sondern gegen die konkurrierende Person." +++

+++ "Das gesamte Ranking der 750 reichsten Deutschen" stellt Springers Welt-Supplement Bilanz nicht frei online. Da würde Durchklicken auch geduldigste Interessenten überfordern. "Die Liste der 10 reichsten deutschen Medienunternehmer" hat schon mal der Standard heraus kuratiert, und auch da ist Springer ganz vorn dabei. +++

+++ Wie und warum angeblich Österreichs Bundeskanzler Christian Kern das "Pressefoyer, bei dem Kanzler und Vizekanzler nach dem Ministerrat am Dienstag der Presse für Fragen jeder Art zur Verfügung standen" abschaffte, "unbeholfen" gestikulierend per Facebook-Videoauftritt, schildert die TAZ. +++

+++ "Carsten Fiedler ist ein erfahrener Journalist, der Digital und Print auf Augenhöhe denkt" (der KSTA über seinen neuen Chefredakteur ab Januar, der vom Boulevard-Express kommen wird). +++

+++ Neues zur Lage beim Mitgliederheft der Journalistengewerkschaft DJV, dem journalist, weiß meedia.de zu berichten. +++

+++ Geradzu Leo-Kirch-artig die Lage beim Online-Sender (oder so was) namens Joiz: "Neuer Mehrheitsgesellschafter der Joiz Germany GmbH sei die Small World Investments, eine Venture Capital-Firma aus San Francisco. Das berichteten zumindest zahlreiche Fachdienste und das tagelang unwidersprochen - aber lagen nach Recherchen des Medienmagazins dwdl.de damit falsch. Richtig ist: Die Small World Apartment Services Ltd. hat die Anteile erworben. Die in London ansässige Immobilienfirma wird geführt von Holger Jackisch, Geschäftspartner des Berliner Immobilien-Unternehmers Uwe Fabich. Hin und wieder wird dieser von Berliner Medien auch gerne als 'Phantom' beschrieben ..." (dwdl.de). +++

+++ "Der ganze Kerl vibriert vor Mitteilungsdrang. Der Ring im Ohr blitzt kämpferisch, die Hände rudern mit, doch die Sätze sind wohlüberlegt. Das Telefon blinkt anhaltend, doch kein Klingeln stört, keine Mails fordern lautstark Aufmerksamkeit. Der Facebook-Aficionado ist offline? 'Passt schon', sagt Würz ..." Richtig schönes Journalisten-Porträt des "leidenschaftlichen Online-Redakteurs" Michael Würz vom Zollern-Alb-Kurier aus Balingen in der Kontext-Wochenzeitung. Und das Foto dazu könnte eine Lead-Award-Nominierung vertragen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.

 

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