Eine Zeit, in der es aufwärts gehen kann und sollte

Eine Zeit, in der es aufwärts gehen kann und sollte
Jan Böhmermanns Reflexionsstufen-Überdrehungs-Fulminanz. Das Erfolgsrezept des Entertainers. Die Intendantin-Begrüßungs-Fulminanz beim RBB. Außerdem: ein Weg, die Untergangsstimmung im Journalismus zu stoppen (sowie ein Hauch fernsehdokumentarisches Journalismus-Pathos). Und mal eine Buch-Kritik.

Was für ein spannender Medienmedienabend gestern! Nicht nur, dass wieder Echos abgeräumt und -sahnt wurden (was sich über diese selbst für den dichten deutschen Medienpreise-Dschungel besonders gaga konzipierten Preise an Wissen bündeln lässt, steht bei uebermedien.de). Zugleich lief auch noch die erste spannende Rundfunkanstaltenintendanten-Wahl seit beinahe Menschengedenken (und lief und lief). Überdies sendete #Böhmi, dem bekanntlich "eine mehrjährige Haftstrafe droht" (tagesspiegel.de), seine erste Show seit einer Woche.

[+++] Schalten wir als seriöse Medienkolumne erst mal zur Rundfunkanstalt Berlin Brandenburg. Dort dauerte es geschlagene sechs Wahlgänge, bis der Vordergrund der improvisierten Fototapete vor den Klos im RBB-Flur sich füllen konnte. Erst kamen "weit mehr Rundfunkratsmitglieder zusammen als für eine gültige Wahl mindestens benötigt worden wären" (tagesspiegel.de) - sage und schreibe 29, Rundfunkgremien zählen schließlich zu den eher wenigen Was-mit-Medien-Milieus, in denen von Stellenstreichungen keine Rede ist -, dann gab es das "befürchtete Patt zwischen den beiden Journalisten", die für Dagmar Reims Nachfolge zur Wahl standen. "In den Wahlgängen verschoben sich zwar die Gewichte in eine Richtung", aber zunächst nicht genug für die nötige Zweidrittelmehrheit.

Es hat sich aber gelohnt, am Ende bezauberndes Patricia-Schlesinger-Lächeln allenthalben. "Herzlichen Dank für diesen fulminanten Empfang", ließ die neue Chefin der Anstalt, die (die Anstalt) im Alltag bisher mit Fulminanz selten etwas am Hut hatte, offiziell ausrichten, nachdem sie den wartenden Journalisten gestanden hatte, "gebibbert" zu haben (Torsten Wahl, BLZ). Und sprach dann, als ob sie schon mehr wüsste, von einer "Zeit, in der es aufwärts gehen kann und aufwärts gehen sollte" (RBB-Pressemitteilung wiederum).

Einstweilen können alle zufrieden sein, Joachim Huber vom Tagesspiegel ist es im Begrüßungs-Kommentar sowieso ("Ermöglicherin, Ermutigerin und Erneuerin", "Hauptstadt hat sich noch nie auf Hörgerät gereimt"). Der unterlegene Bewerber Theo Koll kann es auch. Wer fünf Wahlgänge durchgestanden hat, hat sich für andere Wahlen vielleicht sogar in wichtigeren Anstalten als dem unscheinbaren RBB interessant gemacht. Gewiss sind Gremiengremlins anderswo auf den Geschmack gekommen, Wahlen in der eigenen Anstalt bei nächster Gelegenheit auch mal spannend zu gestalten.

Falls Sie mehr über die siegreiche "Frau mit den leuchtend roten Haaren" wissen wollen ("Politisch ist die 54-Jährige links von der Mitte zu verorten"), steht Ulrike Simons Porträt beider Kandidaten weiter zur Verfügung.

[+++] Jetzt aber zu Jan Böhmermann. Falls Sie seit dem zweiten Link oben befürchten, der junge Entertainer müsse womöglich wirklich ins Gefängnis: Nö. Das "juristische Nachspiel", also dass Staatsanwaltschaften ermitteln, wenn bei ihnen Anzeigen eingegangen sind, "ist auch das einzig Normale an der Affäre", schreiben Jürn Kruse (der schon früh eine sinnvolle Haltung zur Böhmermann-Erdogan-Sache eingenommen hatte) und Parlamentskorrespondent Tobias Schulze nun in der TAZ. Und Online-Leser, die oft ja zufällig vorbeikommen, mit dem theoretisch möglichen Strafmaß, also drohenden Gefängnisstrafen zu triggern, ist ganz normaler weiterer Bestandteil der "Aufregungsspirale" (SZ), die Böhmermann so gerne und gut dreht.

Wie drehte er gestern? Hier stellt die ZDF-Mediathek das "Neo Magazin Royale" vom Donnerstagabend zur Verfügung, 42 Minuten und 13 Sekunden lang.

Das ist vermutlich ungekürzt und wird zweifellos ungekürzt bleiben, solange die Verweildauer reicht. Schmähkritik war auf keinerlei Reflexionsstufe enthalten. Ansonsten ist Böhmermann seinem Erfolgsrezept treu geblieben. Das heißt, die einen können's so, andere so finden und sich, wenn sie Zeit haben, sogar darüber streiten.

Zunächst verlief die gestrige Show angekündigtermaßen bemerkenswert #witzefrei, am Ende entwickelte sie dann eine noch bemerkenswertere Reflexionsstufen-Überdrehungs-Fulminanz. Heißt: Böhmermann hat gegen Erdogan "nicht nachgelegt", hat sich "Witze über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verkniffen" (SPON bzw. BLZ mit leicht kuratierter DPA-Besprechung; "Ohrenbetäubendes Schweigen" heißt's un der Tsp.-Überschrift ürbigens). Oder: Böhmermann ist "nach dem Erdogan-Wirbel ein genialer Konter mit Anne Will" (meedia.de) gelungen - alle Sichtweisen sind möglich. Sogar Formulierungen wie "akzelerationistisch durchgeknallter Loriot von Wolke 17 via Snapchat" (Hans Hütt, faz.net), bei denen Feuilletonlesern das Herz im Leib hüpfen dürfte, sind es. Wenn das nicht Entertainment ist und 2017 den dritten Grimmepreis (oder einen Crossover-Echo) verdient!

Heute bekommt Böhmermann in Marl seinen zweiten (Grimmepreis) überreicht. Dazu wünscht Michael Hanfeld ihm heute auf der FAZ-Medienseite den allgemeinen "Moment des Innehaltens" aus der offiziellen Jurybegründung auch für sich selbst. Erst mal und vor allem verteidigt Hanfeld aber das auch wegen Böhmermann geführte, oft kritisierte (Altpapier) Bundeskanzlerin-Merkel/ Ministerpräsident-Davutoglu-Telefonat:

"Im Kotau gegenüber Erdogan mag die Bundesregierung geübt sein, sie ist auf ihn in der Flüchtlingskrise angewiesen und lässt ihm die Niederschlagung der Opposition und den Krieg gegen die Kurden im eigenen Land durchgehen. Doch in diesem Fall galt es zu verhindern, dass Erdogan den Gesichtsverlust in Berlin bis zum Äußersten treibt. Wobei man nicht vergessen darf: Das ist kein Ausreißer, Erdogan mischt sich ununterbrochen in die inneren Angelegenheiten Deutschlands ein, versucht – in Brandenburg zeitweise erfolgreich –, den Völkermord an den Armeniern aus deutschen Schulbüchern streichen zu lassen, blockiert die Ausbildung islamischer Geistlicher und geht wie selbstverständlich auch gegen die Presse vor."

Als Beleg führt Hanfeld dann wieder die Greser/ Lenz-Sache von 2014 an.

Der vielleicht sinnvollste Tweet zur aktuellen deutschen Meinungsfreiheits-Debatte stammt aus vermutlich etwas anderer politischer Richtung, vom Frankfurter Rundschau/ BLZ-Journalisten Steven Geyer und lautet:

"New Rule: Wer bei #Böhmermann vs #Erdogan 'Meinungsfreiheit' ruft, muss auch cool bleiben,wenn Trixi v Storch Obama satirisch 'Neger' nennt."

[+++] Und:

"Jeder Journalist sollte Bastian Obermayer und Frederik Obermaier, den Redakteuren der 'Süddeutschen Zeitung', die die weltweite Recherche der 'Panama-Papers' angestoßen haben, dankbar sein. ... Kein noch so exzellenter Essay, kein noch so kluger Kommentar, keine noch so langfristig angelegte Studie kann die weit verbreitete Untergangsstimmung in unserer Branche, kann die Marketingmaschinerie der Lügenpresse-Propaganda wirksamer stoppen als eine handwerklich saubere Recherche, noch dazu dieses Ausmaßes".

Große Worte, wie meist fundiert, von Ulrike Simon in ihrer gestrigen Madsack-Medienkolumne zum ebenfalls lebhaften Meinungsstreit rund um die Panamapapers (Altpapier), die heute in der Süddeutschen übrigens nurmehr eine Doppelseite füllen, kein eigenes (Zeitungs-)Buch mehr.

"Die Vermarktung der Rechercheergebnisse wurde über alle zur Verfügung stehenden Kanäle hinweg orchestriert", lobt Simon, kritisiert dann aber doch einen Beteiligten: die ARD, die "aus alten Fehlern nicht gelernt" habe. Da geht es um die Nach-Orchestrierung mit Dokus, die "späte Ausstrahlung ... erst einen Tag später um 23.20 Uhr" einer 55-minütigen Reportage (Video), für die dann gar "tatsächlich der seit fünf Jahren verrentete Christoph Lütgert reaktiviert" worden war, und das noch später gesendete "Zapp"-Spezial (Video). Das dauert eine halbe Stunde und wurde mit allerhand Aufwand gedreht, im Senegal und in Island, wo der einzige dortige Panamapapers-Rechercheur die Fenster seines Hauses von innen verdunkelt, damit niemand ihm beim Recherchieren über die Schulter schauen kann - außer eben die NDR-Kameras.

Ist das aufschlussreich, ist es klassisches, für Teile des Publikums längst überstrapaziertes Journalismus-Pathos? Auch darüber kann gestritten werden. Es ist jedenfalls Teil einer ebenso legitimen und notwendigen wie dann in den Details kritisierbaren Verwertungskette. [Weiter im Altpapierkorb]


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+++ Auch zu dieser Verwertungskette gehört das Kiepenheuer & Witsch-Buch von Obermayer/ Obermaier, das nun erschienen ist und, einer öffentlich-rechtlichen Radiokritik (Schriftform) zufolge, sowohl unter dem strukturellen Buch-Problem, dass "die Faktenlage des Buches zum Erscheinungstermin längst überholt ist", als auch dem notwendigen Recherche-Problem, dass "Juristen an diesem Buch kräftig mitlektoriert haben", leidet. +++

+++ Politiker reden natürlich gerne auch über Konsequenzen aus den Panamapapers-Enthüllungen. Ob sie, namentlich die SPD, auch die ziehen, im Europäischen Parlament die drohende "Verschlechterung der Situation von Whistleblowern" aufzuhalten, bezweifelt netzpolitik.org. +++  Dass die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca "keinen großen Wert darauf gelegt" haben kann, "die Daten ihrer Kunden zu schützen", meint wired.de. +++

+++ Die gedruckte FAZ-Medienseite vermeldet ein Bundesgerichtshof-Urteil mit Auswirkungen auf Onlinemedien: Diese müssen "kritisch prüfen, ob eine einst zulässige Verdachtsberichterstattung später noch immer rechtmäßig ist" und es in ihrem Online-Archiv berücksichtigen, wenn etwa eingeleitete staatsanwaltschaftliche Ermittlungen später mangels Tatverdachts eingestellt wurden. +++

+++ Alle finden die ARD-Spielfilm-Trilogie "Mitten in Deutschland: NSU" gut? Nicht ganz, Sebastian Weiermann kritisiert deren ersten Teil als "Liebesfilm im Nazimilieu. Ob er Menschen wirklich dazu anregt, sich mit Rechtsextremismus auseinanderzusetzen, ist fraglich" (jungle-world.com). +++ Es haben auch nicht sehr viele Zuschauer zugeguckt (dwdl.de: "Deutschland schaute weitgehend weg"), hin aber vergleichsweise junge. +++

+++ Inzwischen auch online: eine dwdl.de-Besprechung zur Böhmermann-Show gestern ("Dadaismus"). +++

+++ Mit 32 Jahren hat er 1976 als junger Assistent des ZDF-Krimikommissars "Der Alte" angefangen und ist das, älter werdend, geblieben (während ja mehrere neue "Der Alte" kamen). Nun geht Michael als "dienstältester TV-Ermittler" in den Ruhestand (Tsp.). +++ "Ande ist wie seine Figur immer im Hintergrund geblieben, auch zu seinem Abschied mag er Fragen nur per E-Mail beantworten" (Süddeutsche). +++

+++ "Drehtüreffekt im Regierungsviertel": Das Familienministerium vertritt in der Bundespressekonferenz nun eine vormalige
RTL2-Journalistin (Tilo Jung, Youtube). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.

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