Wie blickt eigentlich die westliche Kultur auf den Rest der Welt?

Wie blickt eigentlich die westliche Kultur auf den Rest der Welt?
Die Medien könnten die Debatte um Köln als Gelegenheit nutzen, um einige Prämissen ihrer Berichterstattung kritisch zu diskutieren. Etwa den "kolonialen Blick", der mittlerweile zur westlichen Selbstbeschreibung gehört. Das bedeutet übrigens nicht zwangsläufig den Verzicht auf Kritik.

In den Medien werden immer noch die Ereignisse der Silvesternacht aufgearbeitet. Einer der häufig gehörten Begriffe lautet Projektion. Wie der funktioniert, machte Bernd Ulrich schon in der Zeit am Donnerstag deutlich. Entscheidend ist nicht die Wirklichkeit, sondern die Vorstellung, die man sich von ihr macht.

„Der Araber, der Muslim, der Muselman – das sind Klischees, die von jenem kolonialen Blick zeugen, der tief in der westlichen Kultur verankert ist. Um vor sich selbst zu rechtfertigen, dass man in Arabien wieder und wieder einmarschieren und mit der dortigen Bevölkerung nach Belieben umspringen darf, wurden die Araber als minderwertig, wild, verschlagen, aggressiv, geil und undiszipliniert dargestellt. Darum ist einiges Selbstmisstrauen angebracht, wenn »wir« über »die« zu sprechen beginnen.“

Nun stehen wir bekanntlich auf den Schultern von Intellektuellen, selbst wenn wir sie schon längst vergessen haben sollten. Ulrich referiert in seinem lesenswerten Artikel die „Orientalismus-These“ von Edward Said, die seit Ende der 1970er Jahre unsere Sichtweise auf den Islam gravierend verändert hat. Es ging um westliche Selbstkritik, wenn auch ursprünglich formuliert von einem gebürtigen Palästinenser. Die Kritik von Said entwickelte eine enorme Durchschlagskraft. Wer nennt die Araber heute schon noch „minderwertig, wild, verschlagen, aggressiv, geil und undiszipliniert“? Außer den üblichen Verdächtigen natürlich. Aber wie ist dann folgende Aussage zu verstehen, die gestern in der Welt am Sonntag zu lesen gewesen ist? Eine Sozialarbeiterin berichtet von ihren Erfahrungen in einer Hamburger Flüchtlingsunterkunft.

„Tja, und dann kamen die ersten Flüchtlinge in mein Büro, in dem ich die Sozialberatung abhalten wollte – und ich habe schon nach den ersten paar Besuchen von ihnen gemerkt, dass meine sehr positive und idealistische Vorstellung von ihnen und ihrem Verhalten sich doch deutlich von der Realität unterschied. Natürlich darf man auf keinen Fall pauschal über alle Flüchtlinge urteilen, es gibt unter ihnen viele, die sehr freundlich sind, sehr dankbar, sehr integrationswillig, sehr froh hier zu sein. Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist die Zusammenarbeit mit 90 Prozent von denen, die ich treffe, eher unangenehm und leider nicht so, wie ich mir das vorher gedacht habe.“

Sie schildert, was sie erlebt hat. Rassisten könnten daraus die Schlussfolgerung ziehen, alle Araber wären „verschlagen, aggressiv, geil und undiszipliniert.“ Nur wie sind solche Berichte einzuordnen, wenn sie nicht lediglich als Projektionsfläche für Rassisten dienen sollen? Offensichtlich hatte darauf niemand eine Antwort, außer die Idee, sich an den Rassisten abzuarbeiten. So entwickelte sich eine idealistische Vorstellung vom Flüchtling, die wohl nicht nur die Perspektive dieser Sozialarbeiterin bestimmte. Das lag aber nicht an den fehlenden Informationen über die Situation in Maghreb-Staaten wie Algerien. So ist etwas im jüngsten Länderbericht von Amnesty International über Algerien folgendes zu lesen:

„Trotz dieser positiven Entwicklungen boten die bestehenden Gesetze Frauen noch immer keinen ausreichenden Schutz vor Gewalt und sexuellen Übergriffen. So blieb beispielsweise die gesetzliche Bestimmung in Kraft, dass Männer, die ein Mädchen unter 18 Jahren vergewaltigt haben, straffrei ausgehen, wenn sie ihr Opfer ehelichen. Frauenrechtlerinnen führten ihren langen Kampf für eine umfassende Gesetzgebung zur Eindämmung von Gewalt gegen Frauen weiter. Frauen wurden durch das Familienrecht außerdem noch immer hinsichtlich Heirat, Scheidung, Sorgerecht für die Kinder und Erbrecht benachteiligt.“

Algerien ist sozial und ökonomisch mit dem Problem der Perspektivlosigkeit konfrontiert. Das dortige Regime hatte im Islam in den vergangenen Jahrzehnten eine Lösung für diese Problem gesehen, trotz des Bürgerkrieges mit Islamisten in den 1990er Jahren. Er sollte als Integrationsideologie dienen, um die sozialen Konflikte einer unter demographischen Druck stehenden Gesellschaft zu kanalisieren. Algerien ist in einer Hinsicht ein gutes Beispiel. Wie säkulare Intellektuelle an zwei Fronten kämpfen. Gegen ein korruptes Regime und gegen ein reaktionäres gesellschaftspolitisches Konzept, das sich mit dem Islam als Religion legitimiert. In der Flüchtlingsdebatte hatte es zu keinem Zeitpunkt an Informationen gefehlt. Es fehlte die Bereitschaft, sie zur Kenntnis zu nehmen. Dann hätte man über die Modernisierungsblockaden in den arabischen Gesellschaften reden müssen, die mittlerweile ganze Generationen junger Araber geprägt haben.

Stattdessen beschäftigte man sich mit der Frage, ob alle Araber „verschlagen, aggressiv, geil und undiszipliniert“ wären. So blieben Rassisten und Anti-Rassisten einem rassistischen Diskurs verpflichtet, dessen Kritik in Saids Buch von 1978 zu finden sind. Von dem aber außer wenigen Experten kaum jemand etwas gehört hat. Natürlich ist es idiotisch über Eigenschaften zu reden, die angeblich alle Araber haben oder eben nicht haben. Es ist die Projektion von dem, was Ulrich den „tief in der westlichen Kultur verankerten kolonialen Blick“ nennt. Man sollte in den Medien (wo sonst?) endlich darüber reden, ob der überhaupt existiert oder diese These mittlerweile nicht schlicht irreführend ist. Und damit den Blick auf Zuwanderung verstellt.

+++ Ansonsten hätte man auch kein Problem damit gehabt, solche Erfahrungsberichte wie den der Sachbearbeiterin aus Hamburg überhaupt zu diskutieren. Diese Probleme gab es aber, wie nicht zuletzt in Nordrhein-Westfalen zu erleben war. So berichtet wiederum die Welt am Sonntag über eine Sitzung des Innenausschusses im Düsseldorfer Landtag im Oktober 2014:

„Aufschlussreich war eine Sitzung des Innenausschusses im Oktober 2014. Damals sprach der Ausschuss ein einziges Mal breit über die Problemgruppe junger Nordafrikaner – aber wie über ein Staatsgeheimnis. Von Innenminister Jäger über dessen Staatssekretär Bernhard Nebe bis zu Innenpolitikern von CDU, FDP und Grünen kam man überein, dass es in NRW tatsächlich eine gefährliche Gruppe nordafrikanischer Asylbewerber gebe, die exzessiv trinke, Bürger angreife, Geschäfte ausraube. CDU-Innenpolitiker Werner Lohn hatte aus Wickede gehört, dass "allein reisende Nordafrikaner wirklich massive Exzesse im Zusammenhang mit Alkoholkonsum, Angriffe und Pöbeleien in Richtung Geschäftsleute" verübt hätten. "Ganze Gruppen" gingen in Geschäfte, um "dann sozusagen das Bezahlen zu vergessen". Auch Joachim Stamp, FDP, kannte "die Probleme mit dieser Zielgruppe". Die Grüne Düker stimmte zu. Sie kenne einen Bericht aus Urbach, >>der mich ein wenig besorgt macht<<."

Gab es aber die „Schweigespirale“, die etwa der Focus in seiner aktuellen Ausgabe diagnostiziert? In den Medien wurde über solche Erfahrungen nämlich durchaus diskutiert, etwa in diversen Talkshows. Oder hatten auch die Welt und der Focus geschwiegen, indem sie sich der Schweigespirale unterwarfen? Davon kann nicht die Rede sein, wahrscheinlich noch nicht einmal beim WDR. Das Problem war die Politik, die daraus keine Schlussfolgerungen gezogen hat. Das versucht sie jetzt nach Köln nachzuholen. Die Aufgabe der Medien wäre es zur Zeit der politischen Rede vom Nordafrikaner, der „säuft, pöbelt und randaliert“, einen analytischen Blick entgegenzusetzen. Es nützt ja nicht dem politischen Diskurs, wenn man jetzt die gleichen Fehler wiederholt - und in das Gegenteil verfällt. Diese "Nordafrikaner" sind nämlich nicht für die Idiotie der deutschen Asyl- und Einwanderungspolitik verantwortlich. Sie erzeugt erst mit ihren Widersprüchen die Probleme, die anschließend in Innenausschüssen wortreich beschwiegen werden.

+++ Aber immerhin hat RTL wieder den Dschungel geöffnet, um den Zuschauern einen Blick in das Seelenleben ausgewählter Deutschen zu ermöglichen. RTL verzeichnet sensationelle Einschaltquoten. Aber noch nicht einmal der Boulevard am Sonntag beschäftigt sich mit dem Seelenleben dieser Deutschen auf seinem Titel. In der Bild am Sonntag ging es vielmehr um die Frage, ob und wer Angela Merkel aus dem Kanzleramt herausholt.


Altpapierkorb

+++ Günther Jauch ist Geschichte. Der Sonntag ist jetzt wieder der Sendeplatz von Anne Will. Allerdings irritierte schon das Fehlen des weiten Runds im Berliner Gasometer. Man hatte noch das Gefühl, es wäre Mittwoch. In einem Interview mit Übermedien sah Frau Will das Charakteristikum in der Diskussion um die Flüchtlingspolitik in den „politischen Haltungen von Fernsehkritikern“, die sich „viel mehr als früher in einer positiven oder negativen Kritik“ äußerten. Das habe aber „mit unserem Tun weniger zu tun hat als vielmehr mit der Agenda des Kollegen oder seiner Publikation.“ Ob diese These zutrifft, kann heute jeder Leser selber überprüfen. So besprechen die Sendung unter anderen Michael Hanfeld in der FAZ und Arno Frank für Spiegel online. Was aber gestern Abend zweifellos gelungen ist: Kanzleramtsminister Peter Altmaier fehlte es nicht an Gelegenheit, seine Agenda vorzustellen. Das ist schließlich auch sein Job in so einer Sendung. Der Job von Moderatoren und Kritikern ist aber nicht die Vorstellung der eigenen Agenda, obwohl jeder von ihnen eine Meinung zur Flüchtlingspolitik haben wird. Das betrifft aber auch alle anderen Berufsgruppen. Solche Sendungen und deren Kritiken finden Interesse, wenn sie beim Leser zur eigenen Meinungsbildung beitragen. Das kann sich in Zustimmung oder im Widerspruch ausdrücken. Am Ende werden Journalisten und Politiker eines nicht verhindern können: Dass sich die Leser und somit die Wähler diese Meinung bilden. Das kannn sogar eine sein, die manchen Journalisten und Politikern nicht gefällt. Das eigentliche Problem der Flüchtlingsdebatte war die These gewesen, diese Meinungsbildung könnte wegen Irrelevanz entfallen. Am Ende dürften die Zuschauer und Wähler nicht darüber mitreden und politisch entscheiden, welche und wie viele Flüchtlinge dieses Land aufnehmen will. Das erzeugte den Verdruss, nichts anderes. Es ging also nicht um die Meinungen von Journalisten, sondern um deren These, warum Meinungsbildung in dieser Debatte eigentlich überflüssig gewesen war.

+++ Ansonsten muss man im Interesse aller Journalisten dem neuen Format „Übermedien“ viel Erfolg wünschen. Welches Probleme Medien haben, schildert übrigens Giovanni Di Lorenzo in einem Interview mit Stefan Niggemeier. „Es gibt eine schwere Vertrauenskrise gegenüber Institutionen, denen man lange geglaubt hat. Da werden wir nicht wahrgenommen als diejenigen, die Eliten überprüfen – was wir de facto zum größten Teil tun – sondern als Teil dieser Elite. Wir haben auch Fehler gemacht, die jetzt auf uns zurückfallen, keine Frage. Die Skepsis gegenüber Medien hat außerdem zugenommen, weil Leute denken, wenn sie im Netz etwas finden, sei das genauso glaubwürdig, wie wenn sie zum Beispiel die „FAS“ lesen. Ich habe zuletzt bei Abendessen der vermeintlich guten Gesellschaft erlebt, wie Leute erzählen, sie hätten das jetzt recherchiert im Netz: Angela Merkel sei beispielsweise Tochter von zwei Juden, habe einen unehelichen Sohn. Was darin für eine antisemitische Botschaft steckt! Frau Merkel und ihre Flüchtlingspolitik als Rache am deutschen Volk, das in seinem Kernbestand aufgelöst werden soll. Insofern spielt die vermeintliche Souveränität, sich Quellen selbst zu erschließen, dabei aber nicht unterscheiden zu können, welche eine seriöse Quelle ist und welche nicht, mit Sicherheit eine Rolle.“ Die selektive Wahrnehmung gehört offenkundig zu einer fragmentierten Medienwelt. Manchmal ist sie aber hilfreich. So hörte ich hier das erste Mal von Sabrina Staubitz. In früheren Zeiten hätte das Privatleben von Journalisten übrigens niemanden interessiert.

+++ Wer ist für die Misere beim Spiegel verantwortlich? Gibt es überhaupt eine, deren Ursache vor allem beim Spiegel selbst zu finden ist? Dafür wäre aber sicherlich der Eigentümer verantwortlich. In diesem Fall die Mitarbeiter-KG als Mehrheitsgesellschafter – und nicht etwa Jakob Augstein.

+++ Bedeutet keinen Bock auf Infojournalismus gleichzeitig keinen Bock auf Information? Damit beschäftigt sich der SRF in der Schweiz. Angesichts der Recherchefähigkeiten der erwähnten besseren Gesellschaft ist das wohl zu befürchten.

+++ Wie vielfältig das Leben von Journalisten ist, konnte man an diesem Wochenende erleben. So wurde etwa kritisiert, wie Journalisten die Opfer des Attentats von Istanbul bedrängten. Gleichzeitig aber die Gewalt gegen Journalisten diskutiert. Vielleicht sollte man den Ratschlag von Jan Fleischhauer berücksichtigen: Journalisten sollten sich „weniger wichtig nehmen“. Ob Journalisten besser gleich schweigen sollen? Das meint Wolfgang Herles bei Roland Tichy. Aber auch das Schweigen erweist sich in diesem Fall als journalistisches Stilmittel.

+++ Der WDR eröffnete ein neues Portal für Flüchtlinge. Es bietet einen guten Einstieg, damit sich Neuankömmlinge in dieser Gesellschaft zurechtfinden. Der WDR sollte allerdings nicht den Fehler machen, sich in erster Linie mit dem „kolonialen Blick“ zu beschäftigen, der angeblich „tief in der westlichen Kultur verankert“ ist. Das könnte sich als Integrationshindernis erweisen, wenn die Zuwanderer vor allem der Meinung wären, diese Gesellschaft müsste sich integrieren und nicht sie selbst. Das bedeutet übrigens nicht auf westliche Selbstkritik zu verzichten, sondern lediglich den Verzicht auf Ideologisierung einer ohnehin schwierigen Debatte.

+++ China geht härter gegen ausländische Journalisten vor und in der Türkei strukturiert man die Berichterstattung über den Anschlag von Istanbul

+++ Ansonsten noch die Personalie des Tages: Marcel Reif verlässt Sky.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

weitere Blogs

Symbol Frau und Sternchen
Geschlechtsneutrale oder geschlechtssensible Sprache erhitzt seit Jahren die Gemüter. Nun hat die Bayrische Landesregierung das Gendern verboten. Die Hessische Landesregierung will das Verbot ebenfalls einführen.
Eine Ordensschwester im Kongo wurde wieder freigelassen – weil der Bandenchef keinen Ärger wollte.
Ein spätes, unerwartetes Ostererlebnis der besonderen Art