Was ist Politik?

Was ist Politik?
Dieses Wochenende war von einem Thema dominiert gewesen, von dem die wenigsten Menschen wahrscheinlich vorher schon etwas gehört haben: "subsidiärer Schutz für Flüchtlinge". Für die Medien gehört das zur politischen Berichterstattung. Nur um was geht es eigentlich, wenn Journalisten über Politik berichten? Vielleicht hilft ausnahmsweise die Wissenschaft.

Medien berichten jeden Tag über Politik. Am vergangenen Wochenende stand eine Aussage des Bundesinnenministers zum Familiennachzug für Flüchtlinge aus Syrien im Vordergrund. Erst am Donnerstag hatte sich die Regierungskoalition in Berlin auf einen Kompromiss zum Umgang mit Transitzonen geeinigt, die aber nicht mehr so heißen dürfen. Nur um was geht es eigentlich in der Politik? In Deutschland fehlt diesem Begriff nämlich die Trennschärfe, was sich in der Berichterstattung niederschlägt. Hier hilft die Politikwissenschaft. Dort hat man eine hilfreiche Unterscheidung gemacht, um die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs Politik deutlich zu machen. Es geht um Politics, Policy und Polity. Politics untersucht den prozesshaften Charakter politischen Handelns, die Austragung von Konflikten und die Suche nach Kompromissen. Es geht um die Kalküle politischer Akteure. Policy meint dagegen die inhaltliche Dimension des Politischen, den Umgang mit den berühmten Sachfragen. Die Polity-Forschung beschreibt das institutionelle Gefüge der Politik, die letztlich den Rahmen für Politics und Policy setzen.

Diese drei Dimensionen des Politischen werden in den Medien mit dem Begriff "Politik" ausgedrückt. Entsprechend sieht die Berichterstattung aus. Man kann zwischen den drei Dimensionen munter wechseln, ohne aber deren Logik zu verstehen. In einem Interview mit n-tv formulierte der Bundesinnenminister Thomas de Maiziere, um was es geht. Zum Hintergrund dieses bemerkenswerten Interviews noch dieser Artikel von Christoph Herwartz.

„Die Zahl der Menschen mit subsidiärem Schutz ist jetzt klein. Ich halte es für richtig, auch bei Syrern wieder in jedem Einzelfall zu prüfen, welcher Schutzstatus angemessen ist, statt pauschal zu verfahren. Auch andere Staaten vergeben in solchen Fällen nur einen Aufenthaltsstatus für eine begrenzte Zeit. Anfang der Woche hatten wir eine Änderung vorgesehen. Im Lichte der Entscheidung der Koalition am Donnerstag zum Familiennachzug gibt es aber Gesprächsbedarf in der Koalition. Und deswegen bleibt es jetzt so, wie es ist, bis es neue Entscheidung gibt.“

Die Frage nach dem subsidiären Schutz betrifft die inhaltliche Dimension der Flüchtlingskrise (policy). Es geht darum, den Zuzug zu begrenzen. Deshalb beabsichtigt der Minister die bisherige Großzügigkeit bei der Gewährung des Anspruchs auf Familiennachzugs auszusetzen. Das ist rechtlich und politisch möglich. Thomas de Maiziere bringt in seiner Argumentation aber auch eine Polity-Ebene ein.

„Damit der Familiennachzug begrenzt wird, müssen wir, wie in der Koalition verabredet, ein Gesetz ändern. Schon jetzt ist es so, dass wir so viele Anträge haben, dass wir keinerlei Hoffnung machen können, dass Anträge auf Familiennachzug schnell beschieden werden. Von daher ist auch schon jetzt ein Bremszeichen gesetzt. Die Zahl der Flüchtlinge ist so hoch, wir können nicht noch ein Vielfaches an Familienmitgliedern aufnehmen.“

Offenkundig gibt es institutionelle Grenzen beim Familiennachzug (Polity). Das verwundert allerdings nicht: bisher funktioniert noch nicht einmal die Registrierung von Flüchtlingen und die Bearbeitung von Asylanträgen. Wie will man unter dieser Voraussetzung den Familiennachzug zeitnah organisieren? Der Minister argumentiert somit auf der Policy- und Polity-Ebene. Das Ziel der Begrenzung der Flüchtlingszahlen aus Syrien ist politisch umstritten. Das muss in der Berichterstattung deutlich werden. In gleicher Weise eine Plausibilitätsprüfung bezüglich der institutionellen Voraussetzungen für den Familiennachzug. Oder was das für Flüchtlinge aus Syrien bedeutet, ein Versprechen auf Familiennachzug abzugeben, das man später nicht einhalten kann. Es war bekanntlich in den vergangenen Monaten viel von Signalen die Rede gewesen.

Tatsächlich interessiert aber in den Medien vor allem die Politics-Ebene. Was bedeutet das für die politischen Machtverhältnisse in Berlin? Wer ist der Sieger und wer der Verlierer in diesem Konflikt? Wie ist die Intervention des Bundesfinanzministers zugunsten des Amtskollegen aus dem Innenressort zu bewerten? Und was ist von der Rolle des Kanzleramtsministers zu halten, wenn er von seiner Unkenntnis bezüglich des Vorschlages von de Maiziere spricht? Ist ihm die sachliche (Policy) und institutionelle (Polity) Ebene des Themas unbekannt?

+++ Karl Doemens bringt das Kuddelmuddel dieses Wochenendes in der Berliner Zeitung gut auf den Punkt.

„Aber das Spielfeld des Bayern wäre nicht so weit, wenn die Diskrepanz zwischen Merkels gebetsmühlenartigen „Wir schaffen das“ und der Evidenz nicht so groß wäre. Natürlich muss die Flüchtlingskrise europäisch gelöst werden. Natürlich müssen die Ursachen bekämpft werden. Doch weder das eine noch das andere wird kurzfristig funktionieren. Gleichzeitig hat Merkel den eigentlich zuständigen Innenminister de Maizière, der überarbeitet und auch überfordert wirkt, auf menschlich schäbige Weise degradiert und stattdessen ihren Kanzleramtschef Peter Altmaier als Flüchtlingskoordinator installiert. Der gilt in der SPD als nicht immer ehrlicher Makler und behandelt die Flüchtlingskrise vor allem als PR-Problem. Die in den Ländern starken Sozialdemokraten wiederum sehen die wachsenden Probleme durch die Zuwanderung, wollen aber nicht ihre linksliberale Klientel vor den Kopf stoßen oder zwischen CDU und CSU zerrieben werden.“

Policy und Polity stehen zu den Anforderungen im politischen Meinungskampf offensichtlich in Widerspruch. Aber die Politics-Ebene ist von zentraler Bedeutung, auch wenn sie in den Medien häufig als „parteipolitische Querelen“ oder mit anderen wenig schmeichelhaften Charakterisierungen abgewertet wird. Sie betrifft den zentralen Aspekt demokratischer Verfahren: die Legitimation politischer Entscheidungen. Es ist daher nachvollziehbar, wenn vor allem die Hauptstadt-Korrespondenten dieser Ebene in ihrer Berichterstattung die zentrale Bedeutung einräumen. So auch an diesem Wochenende. Nur sollten sie den Begriff „Politik“ mit der nötigen Trennschärfe versehen, damit die Berichterstattung zur politischen Meinungsbildung der Bürger im demokratischen Staat beitragen kann. Ansonsten stiftet man wirklich nur Verwirrung.

+++ Diese Verwirrung gibt es in den Medien auch bezüglich des Umgangs mit Pegida und der AfD. Wenn sich heute Abend in Dresden wieder tausende Menschen zur Demonstration versammeln, können sich die Organisatoren der ungeteilten Aufmerksamkeit aller deutschen Medien erfreuen. Dort artikuliert sich der Widerspruch zu einer Politik der Großen Koalition, die Doemens in seinem Kommentar so beschreibt.

„Also stampft Schwarz-Rot auf der Stelle, immer lauter und vernehmlicher, ohne in der Sache viel zu bewegen. Das mag die eigenen Funktionäre bei Laune halten. Für dieses Land und für die Demokratie aber ist es verheerend. Wann hätte es je eine politische Legitimation für den Zusammenschluss von 80 Prozent aller Abgeordneten in einer großen Koalition gegeben wenn nicht jetzt, im Angesicht einer gewaltigen kulturellen Umwälzung der Gesellschaft? Versagt die Merkel-Regierung bei dieser Aufgabe, stehen weit mehr als ein paar Prozentpunkte am Wahlabend auf dem Spiel. Das planlose Chaos der letzten Tage und Wochen nährt ernste Zweifel, ob das allen Akteuren klar ist.“

Im Bundestag findet dieser Widerspruch nicht statt. Auf der Polity-Ebene wird das zum Problem, wenn zentrale gesellschaftliche Konfliktfelder nicht mehr im Parlament stattfinden. Das Interesse der Medien an Pegida und der AfD ist somit nachvollziehbar. Nur ist die Debatte über die Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen nicht rechtsradikal oder gar rechtsextrem. Ansonsten müsste man den Bundesinnenminister einen Rechtsextremisten nennen. Zu welchen Auswüchsen das führt, erkennt man an diesen Vorschlag von Janko Tietz auf Spiegel online. Er will Pegida ignorieren, allerdings mit einem unzulässigen Argument.

„Wohl kaum sonst würden die fast 800.000 Flüchtlinge, die in diesem Jahr bereits zu uns gekommen sind, so pragmatisch versorgt - bei allen Schwierigkeiten, die es dabei gibt. Wohl kaum sonst hätte Machtpolitikerin Angela Merkel so beherzt Partei für sie ergriffen, wenn sie nicht ein Klima der Aufgeschlossenheit unter der Bevölkerung wahrnehmen würde. Die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer, Beamten auf Behörden, Polizisten und Kommunalpolitiker stellen das ja Tag für Tag unter Beweis. Ihnen sollte alle Aufmerksamkeit gehören.“

Sicher gibt es ein Klima der Aufgeschlossenheit. Nur wollen die Bürger zugleich eine Antwort bekommen auf eine einfache Frage, die außer in Deutschland in keinem anderen Land auf der Welt ein Problem ist: wie viele Flüchtlinge dieses Land aufnehmen will? Auf der sachlichen (Policy) und institutionellen (Polity) Ebene hat man auf diese Frage bis heute keine Antwort gefunden. Das Verwirrspiel um einen subsidiären Schutz für Flüchtlinge aus Syrien bringt das zum Ausdruck. Im politischen Machtkampf ist es für die Bundeskanzlerin sogar zu einer politischen Existenzfrage geworden, sich überhaupt dazu zu äußern. Insofern ist Pegida nicht die Krise, sondern lediglich deren Symptom. Sie wird aber nicht verschwinden, wenn die Berichterstatter in Zukunft die Symptome ignorieren. Diese Illusion sollte sich niemand machen. Sie war schon bisher das Problem der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise gewesen.


Altpapierkorb

+++ Im aktuellen Spiegel gibt es eine lesenswerte Reportage von Jan Fleischhauer über Akif Pirinçci. Dieser sei „kein wirklich politisch denkender Mensch“, so Fleischhauer. „Er war noch nie wählen, seine Meinung zu vielen Themen ist eher gewöhnlich“. Aber er habe ein Talent, das sich von vielen Autoren unterscheide. „Er hat keine Angst, sich unbeliebt zu machen. Es macht ihm Spaß, Menschen zu provozieren, um zu sehen, wie sie reagieren.“ Dazu käme ein ausgeprägtes Faible für das Drastische. Fleischhauer beschreibt auch, wie Pirinçci Facebook für sich entdeckte, um diese Lust an der Provokation auszutesten. Sie wurde zu seinem publizistischen Geschäftsmodell, das auch leidlich funktionierte. Erst sein Auftritt bei der Pegida-Demonstration in Dresden machte deutlich, wo die Grenzen zwischen folgenloser Publizistik und politischen Engagement zu ziehen sind. Diese Differenz nicht vorher erkannt zu haben, ist das Interessante an diesem Fall. Letztlich ist Pirinçci der gleichen Logik sozialer Netzwerke zum Opfer gefallen, die er vorher so zielsicher bedient hatte. Er lebte von der Empörung und der Lautstärke, die sich jetzt aber nach seiner Dresdner Rede gegen ihn wandten. Die Folgen sind für ihn dramatisch: er findet als Autor selbst mit seinen unpolitischen Katzenkrimis in Deutschland nicht mehr statt. Das betrifft die Verlage in gleicher Weise wie den Buchhandel. Einen vergleichbaren Fall hat es in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben. Was einen wirklich besorgt machen muss, ist die Einmütigkeit in dieser Sanktionierung. Sie kann nämlich auch andere Autoren mit anderen Überzeugungen betreffen. Insofern sollte der Fall Pirinçci nicht Schule machen.

+++ Der Spiegel hat seinen Titel dem an Krebs erkrankten Guido Westerwelle gewidmet. Er war auch gestern Abend bei Günther Jauch. Eine Zusammenfassung der diversen Frühkritiken findet man bei Meedia.

+++ Ebenfalls bei Meedia die Gerüchte aus der New York Times über die Zukunft von Forbes. Als aussichtsreicher Kandidat für die Übernahme des Blattes gilt der Axel Springer Verlag.

+++ Um die Pressefreiheit in Bulgarien steht es sehr schlecht. Das berichtet das Handelsblatt via Turi.

+++ Lügenpresse? Diesen Vorwurf hat man ja schon gehört. Jetzt versucht sich die Redaktion von Logo an eine Antwort. Die ist sehenswert in ihrer Kürze. Was aber schon erstaunlich ist. Logo berichtet davon, dass eines für Journalisten in Deutschland klar geregelt sei. Sie hätten zu einem friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Meinungen, Religionen und Kulturen beizutragen. Jenseits dessen, das niemand genau weiß, wann und wie man etwas dazu beiträgt. Wer will schon etwas zum Bürgerkrieg „beitragen“, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt? Aber seit wann gibt es eine solche Vorschrift, die für alle Journalisten verbindlich wäre? Und wer entscheidet darüber, dass man sich auch daran hält? Doch wohl nicht der Staat, der sich in die freie Berichterstattung bekanntlich nicht einzumischen hat. Bisher gab es nur einen Verlag, der politische Grundsätze für alle Redakteure verbindlich festlegte. Das war Axel Springer. Andere Verlage verzichteten darauf. Nicht weil sie diese Grundsätze abgelehnt hätten. Wer ist schon für den Totalitarismus? Sie sind vielmehr ein Einfallstor für die politische Sanktionierung nicht gewünschter Meinungen. Die Redaktion von Logo sollte daher noch einmal darüber nachdenken, was in Deutschland angeblich klar geregelt sein soll.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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