„Man muss das alles natürlich aus der Zeit heraus verstehen.“

„Man muss das alles natürlich aus der Zeit heraus verstehen.“
Das muss man wohl. So waren die Verhältnisse im Jahr 1963 anders als heute. Aber wie sind die Verhältnisse in den Medien im Jahr 2015? Dafür begeben wir uns nach Berlin, Rostock und Athen.

Wie geht die Medienbranche mit der Krise um? Diese Frage interessiert bekanntlich alle Menschen, die Journalisten sind, was allerdings im Verhältnis zur Gesamtpopulation dann doch eher eine bescheidene Größenordnung ist. In dieser Situation ist jeder Ratschlag willkommen. Daher hat uns die Bild am Sonntag gestern ein innovatives Geschäftsmodell für Unternehmensgründer vorgeschlagen. Es stützt sich auf die Erfahrung der Kollegen vom Film. Bild-Reporter Christian Seidl macht ein „Oral History“ Interview mit einem Angehörigen der Erlebnisgeneration.

Diese vertritt der Schauspieler Mario Adorf, bekannt aus unzähligen Filmen von Winnetou bis zum Bellheim. Zugegen ist noch der Filmproduzent Nico Hofmann. Adorf schilderte die Nöte des Filmemachers Will Tremper im Jahr 1963. Zu dieser Zeit war an die deutsche Filmförderung noch nicht zu denken. In dessen Film „Die endlose Nacht“ sollte Adorf mitspielen, allerdings konnte Tremper kein Honorar zahlen. Da waren innovative Lösungen gefragt.

„Regis­seur Will Trem­per zeigte ihm dafür fünf Frauen, von denen sich Adorf eine für die Nacht aus­suchte. „Rich­tige Gra­na­ten“, so Adorf im Inter­view mit BILD am SONNTAG.“

Was in der Vorabmeldung fehlt: Adorf musste damals erst noch in Berlin seinen Kollegen Hansjörg Felmy vom Flughafen abholen, der später in Essen den Tatort-Kommissar Heinz Haferkamp spielte.

„Abends kamen der Felmy und ich zurück und wir haben uns zwei von den Mädchen ausgesucht.“

Was die „fünf Granaten“ dazu zu sagen haben? Das ist leider nicht dokumentiert. Auch wenn Hofmann „stundenlang zuhören könnte“, wie er in dem Interview bekundet. Was wir hiermit getan haben. Aber leider, leider ist das auch kein Tim-Hunt-Moment. Dafür ist das Jahr 1963 schon zu lange her. Dem hat Adorf auch ansonsten vorgebaut.

„Man muss das alles natürlich aus der Zeit heraus verstehen."

+++ Das ist eigentlich schade. Angesichts der Niedrigzinsen ist nämlich das Geschäftsmodell der Versicherungsunternehmen unter Druck geraten. Wenn für freie Mitarbeiterinnen als Entlohnung fünf knackige Versicherungsvertreter im Angebot wären, entlastete das deren PR-Etats und wäre zudem in historischer Perspektive ein Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit. So schlecht geht es dem „Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft“ (GDV) aber noch nicht. Auch wenn - ebenfalls laut Bild am Sonntag - eine Firma in freier Mitarbeit über die Höhe der Honorierung „keine Angaben machen wollte“. Es wurde aber nicht mit Dienstleistungstausch gezahlt, so ist zu vermuten.

Bei dieser Firma handelt es sich um Ansager&Schnipselmann, die beim Wettbewerb um kreative Firmennamen sicher einen der vorderen Plätze belegen könnte. Es ist die Produktionsfirma von Frank Plasberg, der für den WDR die montägliche Talkshow „hart aber fair“ moderiert. Sie war vom GDV mit der Organisation einer Podiumsdiskussion anlässlich des Versicherungstages beauftragt worden. Versehentlich hatte bei der Kontaktaufnahme mit möglichen Podiumsteilnehmern ein Mitarbeiter von Ansager&Schnipselmann die Signatur (früher Briefkopf genannt) von „hart aber fair“ benutzt.

„In der langen Sommerpause werden auch Mitarbeiter dieser Redaktion eingesetzt, um um andere Produktionen zu unterstützen.“

So ist in der Bild am Sonntag zu lesen. An diesen Vorfall wird nun alles Mögliche festgemacht. Es bestünden Interessenkonflikte, so die Kritik in dem Artikel. Daher habe der WDR auch die Verwendung des Briefkopfes von „hart aber fair“ gerügt.

„Der WDR hat Ansager&Schnipselmann darauf hingewiesen, dass dies nicht zulässig ist und zu unterbleiben hat. Ansager&Schnipselmann hat das zugesichert.“

Nun ist die Bild mit ihren sogenannten Volksprodukten selbst ein gutes Beispiel für die Vermischung von redaktionellen Inhalten mit Werbung. Aber jenseits dessen ist diese Zusage natürlich nichts wert. Die Verwendung des „hart aber fair“ Briefkopfes hat nur einen Grund. Zu verhindern, dass die Mail von Ansager&Schnipselmann sofort in den Papierkorb des Adressaten verschwindet. Wer kennt schon diese Produktionsfirma mit dem kreativ-bescheuerten Namen? Das Problem ist nämlich, hochkarätige Gäste für eine solche Tagung zu bekommen. Nur diese garantieren eine hinreichende Aufmerksamkeit in den Medien. Einen Mario Adorf einzuladen, damit er gegen gutes Honorar Dönekes aus der Vergangenheit erzählt, ist hier ja keine Alternative. Also lädt nicht die Pressestelle des GDV selbst ein. Einladungen schreiben, können sie dort wahrscheinlich auch. Vielmehr beauftragen sie die Firma von Plasberg mit ihren guten Kontakten, damit sich ein möglichst prominenter und auch ansonsten vielbeschäftigter Gast die Zeit für einen solchen Termin nimmt.

Der Interessenkonflikt fängt allerdings erst dann an, wenn das Folgen für die Einladungspolitik zu "hart aber fair" haben sollte. Man etwa den Podiumsteilnehmern der Jahrestagung der Versicherungswirtschaft ein besonderes Entgegenkommen bei späteren ARD-Sendungen zusichert. Nur wer will solche zumeist informellen Absprachen im Einzelfall nachweisen? Das Problem liegt in der Struktur des Outsourcing. Wer, wie der WDR, solche Sendungen nicht mehr in einer eigenen Redaktion produzieren lässt, darf sich über die Folgen nicht wundern. Diese agieren damit auf einen Medienmarkt, wo die Aufmerksamkeitslogik die Grenzen zwischen PR und Journalismus aufgehoben hat. Beide agieren nach der gleichen Logik.

Das ist das Problem. Ansonsten hätte es etwa der GDV nicht nötig, die Organisation solcher Gesprächsrunden an externe Dienstleister zu vergeben. Selbstredend ist die Teilnahme an einem Versicherungstag nicht ehrenrührig. Interessenverbände gehörten schon immer zum politischen System dazu. Nur fallen zunehmend diese neumodisch „Lobbys“ genannten Verbände dem Erfolg der PR-Industrie zum Opfer. Weil mittlerweile alles unter PR-Verdacht steht, versuchen alle die letzten Reste namens Glaubwürdigkeit zusammenzukratzen. Daher bedient man sich der übrig gebliebenen Reputation etwa von öffentliche-rechtlichen Vorzeigeformaten wie „hart aber fair“. Die agieren aber selbst unter dieser Logik. Das Outsourcing wird ja nur aus einem Grund gemacht: Damit sich Sender wie der WDR die arbeits- und sozialrechtlichen Kosten einer eigenen Redaktion sparen können. Ob man das Problem mit der Wahl des richtigen Briefkopfes lösen kann? Kaum. Wie formulierte das Adorf?

„Man muss das alles natürlich aus der Zeit heraus verstehen."

+++ Die Aufmerksamkeitslogik ist zumeist vom Interesse an Menschen bestimmt. Wer interessiert sich schon auf einer Podiumsdiskussion für die Inhalte unbekannter Experten, wenn dort ein prominenter Teilnehmer selbst mit Blödsinn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sichern sollte? Zwei Personen der auf Wochen reduzierten Zeitgeschichte sind aktuell der vierzehnjährige Teenager Reem aus Rostock und der frühere griechische Finanzminister Giannis Varoufakis. Etwas altertümlich könnte man sie mit Adorf als journalistische Granaten bezeichnen. Bei beiden geben sich zur Zeit die Journalisten die Klinke in die Hand. Anna Prizkau schildert in der FAS ihre Eindrücke.

„Aus der Gegensprechanlage kratzt es bis in das Wohnzimmer hinein. Atef kommt wieder. Ein Journalist der „New York Times“, sagt er und fragt, ob Reem mit dem Mann sprechen will. Die Tochter, sie ist vierzehn, nickt dann, und das etwas zu cool für vierzehn Jahre. Atef öffnet die Tür, Reems Mutter, Manal, wirkt angespannt. Und dann passiert es. Die Frau erstarrt. Uneingeladen steht im Zimmer der „New York Times“-Reporter und merkt nicht, wie peinlich die Situation ist für Manal, eine Muslimin ohne Kopftuch, die nicht mit männlichem Besuch gerechnet hat. Vielleicht merkt er es doch, nach wenigen Sekunden ist er wieder verschwunden, er wird Reem in ihrem Zimmer interviewen. … . Atefs Handy vibriert, die ARD, eine Frau von dem Mann, der die Millionen-Show macht, sagt er nach dem Telefonat. Seit Tagen schon klingelt sein Handy, seit Tagen wird seine Tochter Reem zu dem Gesicht der neuen Debatte ums Flüchtlingsrecht gemacht, von Medien zumindest.“

Es meldeten sich außer Frau Prizkau, sie war als teilnehmende Beobachterin schon da, noch jemand von der Deutschen Welle und ein Mann, der ein Buch über Reem schreiben will. Ein vergleichbares Problem hat Varoufakis, wenn er auch ansonsten in einem völlig anderen Universum zu Hause ist als "das Flüchtlingskind". Dort ist als teilnehmende Beobachter ein Kollege vom Stern für mehrere Nächte in dessen Wohnung eingezogen. Er beobachtet allerdings die Kollegen vom Spiegel, die ebenfalls am gleichen Ort ein Interview mit Varoufakis machten.

„Dann passierte etwas Merkwürdiges.“

Das schreibt der Spiegel. Als ein Spiegel-Kollege während des Interviews kurz das Wohnzimmer verlässt, habe er im Flur den Stern-Kollegen „davonhuschen“ sehen. Das steht in dem Artikel wirklich so. Er habe sich in der Nähe der Tür aufgehalten.

„Wollte er mithören, wie der Spiegel ein Interview führt?“

Die Auflösung lesen wir am Donnerstag im Stern. Der „davongehuschte“ Stern-Redakteur wird uns dann sicherlich seine Sicht der Dinge präsentieren.

„Man muss das alles natürlich aus der Zeit heraus verstehen."

Muss man wohl. Sogar im Sauerland. Dort huscht übrigens niemand durch Büro und Wohnung des Autors. Schade eigentlich. Er könnte den Kindern das Frühstück ans Bett bringen.


Altpapierkorb

+++ Wo Investitionszusagen nicht funktioniert haben? Beim Debattenmagazin European, wie dort am Freitag mitgeteilt worden ist: „Der Mehrheitsgesellschafter von The European, die von Bernd Förtsch geführte Börsenmedien AG, hat ihre Zusage, als langfristiger Partner bei The European zu investieren, zurückgezogen. Diese Ankündigung kam für das Team von The European überraschend. Sie hat fundamentale Auswirkungen, weil das Magazin The European so, wie es nach dem Einstieg der Börsenmedien AG als Mehrheitsgesellschafter im vergangenen Dezember aufgesetzt wurde, ohne Kapital nicht weiter geführt werden kann. The European hat daher gegenüber allen Mitarbeitern und der Geschäftsführung Kündigungen ausgesprochen.“

+++ Wie Debatten online stattfinden, konnte man dafür an diesem Wochenende erleben. So war die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch der Bayreuther Festspiele zusammengebrochen. Diese Meldung sichert die gewünschte Aufmerksamkeit, allerdings nur, wenn man den Kontext gleich weglässt. Sie war nämlich lediglich mit ihrem Stuhl zusammengebrochen. Die Kollegen vom bildblog und meedia haben den Fall dokumentiert. Zum Glück waren am Wochenende die Börsen geschlossen. Ansonsten wäre noch der Kapitalismus zusammengebrochen. Und das bevor am Donnerstag der Stern mit dem Varoufakis-Portrait erscheint. Der frühere Finanzmister wäre dann sicherlich vor Schreck kollabiert. Und niemand wäre dabei gewesen.

+++ Wie Facebook funktioniert? Das erfuhr man dieses Wochenende an zwei Beispielen. Wegen eines rassistischen Postings hatte Porsche in Österreich einem Auszubildenden fristlos gekündigt. Adorf hätte sicher noch Lehrling gesagt. Zur gleichen Zeit kämpft dort Til Schweiger gegen seine Kritiker, die scheinbar auch seine Fans sind. Es geht um seine Position zur Flüchtlingspolitik. Mit „Zeig doch einmal Deine dumme Fresse“ geht es wohl unter anderem um die Problematik anonymer Postings in sozialen Netzwerken. Aber hier zeigt sich zugleich wie Medien funktionieren. Erst ein klassischer Pöbel-Schweiger bringt dort die notwendige Aufmerksamkeit. Insofern geht es Schweiger nicht anders als dem Porsche-Azubi. Nur muss Letzterer einen hohen Preis für diese Aufmerksamkeit bezahlen, während das Schweiger als Teil seiner (zugegeben) unkonventionellen Öffentlichkeitsarbeit betrachten kann. Simon Hurtz macht in der SZ den Unterschied deutlich: "Hätte Porsche den Auszubildenden lediglich abgemahnt und sich unmissverständlich distanziert, wäre der öffentliche Beifall vermutlich weniger lautstark ausgefallen. Trotzdem wäre es die angemessenere Reaktion gewesen. Jetzt steht ein 17-Jähriger vor einem Scherbenhaufen: Seine Lehrstelle ist er los, und ob er so bald einen neuen Arbeitgeber findet, darf man bezweifeln. Zudem ist Schweiger jener Logik ausgesetzt, dass die Beschimpfung durch ihn von seinem unbekannten Kritiker als Auszeichnung begriffen werden kann. Lieber von ihm beschimpft werden als in der Masse unerkannt unterzugehen.

+++ Dafür hat ein CDU-Landtagsabgeordneter aus Hessen ein eigenes Problem mit Facebook. „CDU-Integrationsexperte für Salafistenfoto abgestraft“, so titelt die Welt. Das kann man durchaus anders verstehen als es im Artikel zu lesen ist. Das erinnert an den Zusammenbruch der Kanzlerin.

+++ Der plötzliche Nicht-Verkauf der „Financial Times“ an Springer war schon am Freitag im Altpapier ein großes Thema gewesen. Jetzt soll aber auch noch der Anteil von Pearson am Economist verkauft werden. Das berichtet Politico aus Brüssel. Immerhin eine Plattform von Springer.

+++ Wie man die sperrigen Vorschriften zum Jugendschutz umgeht? „Make love“, das neue Sex-Magazin im ZDF (oder ist es ein Aufklärungsmagazin?), zeigt wie es geht.

+++ Zu Frank Plasbergs Fingerspitzengefühl hat Stefan Niggemeier noch einen link. Außerdem hält Helmut Thoma in einem Interview mit Horizont Mediagenturen „für ein parasitäres Geschäftsmodell“: „Es kann doch nicht sein, dass Medien Geld dafür bezahlen, dass Werbung bei Ihnen gebucht wird. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Aus meiner Sicht sind Mediaagenturen vollkommen unnötig, zumindest für den Einkauf. Für mich ist das ein parasitäres Geschäftsmodell. … . Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft. Darin hat der Staat die Aufgabe, bestimmte Regeln zu setzen. Er darf nicht generell in Marktmechanismen eingreifen, aber er muss Auswüchse verhindern. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, haben wir einen Nachtwächterstaat.“ Interessant ist auch die von Thoma beklagte Themenverschiebung bei den Aufsichtsorganen der Medienpolitik zu den öffentlich-rechtlichen Anstalten: „Heute ist niemand mehr da, der etwas davon versteht. Und wenn doch, dann sind die Leute so eng mit den öffentlich-rechtlichen Sendern verwoben, dass kein Platz mehr für andere Themen bleibt. Also noch mal: Das Thema gehört auf die Bundesebene, die Länder schaffen es nicht.“ Übrigens hat Thoma keine Scheu, das eigene Interesse an einer entsprechenden Gesetzesinitiative des Bundeswirtschaftsministers deutlich zu machen. Lobbyismus kann nämlich sogar gut begründet sein. Vielleicht an diesem Montag eine wichtige Erkenntnis.

+++ Was jetzt nicht mehr fehlt? Der Wechsel der Sytling-Expertin Astrid Rudolph vom ZDF zum Einkaufssender QVC. Sachen gab es: Sogar Styling-Expertinnen beim ZDF.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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