Tatort Altpapier

Tatort Altpapier
Wann haben Zeitungen es „aufgegeben, sich gegenseitig zu attackieren“? Was soll eigentlich der ganze „Saison-Fimmel“ der Literaturressorts? Außerdem: ein Lob des „irritationsoffenen und beweglichen Diskurses“ (bei Facebook!), eine Kritik an der ‚Litigation-PR‘ im Fall Middelhoff und das „erstaunliche Eigenleben“ von Dokumentationen in ARD-Mediatheken.

Frage des Tages: Schließen Medienhäuser einen „faustischen Pakt“ mit Facebook, oder ist das soziale Netzwerk „für die Printmedien so etwas wie ein zweiter Frühling“, wie der Vorspann des Zeit-Feuilleton-Aufmachers verspricht? Sowohl als auch, lautet die Antwort, denn es geht um unterschiedliche Sachverhalte. Im ersten Fall um die aktuelle Überarbeitung des Algorithmus, der festlegt, was wir in unseren Newsfeeds zu sehen bekommen:

„Even as Facebook tries to convince news publishers like the New York Times to publish directly on its platform—instead of just posting excerpts with links to their websites—the company continues to demonstrate why that is such a Faustian bargain“,

schreibt Mathew Ingram (Fortune), der den von Facebook verwendeten Begriff der „Optimierung“ aufgreift - golem.de spricht i.Ü. von „Umsortierung“ und „Feintuning“ - und fragt, was damit gemeint sei. Facebook

„tries to portray the algorithm as just a harmless extension of its users’ interests, when in fact it is anything but. It is Facebook’s most powerful weapon, and a blade that cuts both ways when it comes to the media industry.

Im bereits erwähnten Zeit-Artikel geht es um einen anderen Facebook-Aspekt. Ijoma Mangold konstatiert:

„So wie man früher eine Zeitung abonniert hat, ist man jetzt auf bestimmte Facebook-Hosts abonniert, weil unter ihrem Dach der Diskurs irritationsoffen und beweglich bleibt.“

Unter diesen Dächern sind

„die Frontverläufe (...) längst unübersichtlich. Man fühlt sich wie auf einem Schiff, das von den Wellen mal in die eine, mal in die andere Richtung getragen wird - und man muss geschmeidig in den Knien sein, um diese Bewegungen auszubalancieren.“

Zu diesen „guten Hosts“ zählt Mangold unter anderem Markus Hesselmann (Tagesspiegel) und Tobias Rapp (Spiegel), „bei dem man sich immer darauf verlassen (kann), dass dem das Drama der eigenen Standortbestimmung mit allen Skrupeln und Selbstzweifeln durchlitten wird“. Ihre Threads seien „der Backstagebereich der gedruckten Zeitungswelt, in dem jeder Artikel einen zweiten Frühling erlebt“.

An dieser Stelle wird dann auch klar, dass der Vorspanndichter etwas anderes sagen wollte als der Autor, denn ob die Printmedien „einen zweiten Frühling“ erleben - abgesehen davon, dass man, wenn man Optimismus versprühen wollte, eher vom fünften Frühling reden müsste -, oder einzelne Artikel, macht dann vielleicht doch einen Unterschied. 

Mangold ist natürlich einer, der weiß, wo der Barthel den Feuilletonmost holt, und so er liefert uns niedliche Wortpaare („hochevolutive Teilöffentlichkeiten“) oder Neologismen („Beweglichkeitchoreographie“). Der Autor liegt allerdings daneben, wenn er schreibt, bei Facebook stehe „jeder mit seinem Namen (und meistens auch mit seinem Gesicht) dafür ein“, was er von sich gibt, und es ist auch nicht ganz klar, warum er Threads als „Backstagebereich“ beschreibt, denn in der Offline-Welt ist dieser ja keineswegs eine „Teilöffentlichkeit“, sondern ein nur für eine sehr, sehr kleine Gruppe zugänglicher Raum.

Uns interessiert nun vor allem Folgendes:

„Journalisten kennen Journalisten. Das bildet sich natürlich auch in den gleichsam schwebenden Öffentlichkeitsarchitekturen auf Facebook ab. Aber während Zeitungen seit Langem aufgegeben haben, sich gegenseitig zu attackieren und die Kollegen von anderen Blättern namentlich zur Rede stellen, kommt man im Backstagebereich um diese Konfrontation oft nicht herum (...) (Hier) müssen - und das ist dann ein kommunikatives Schauspiel - die Kontrahenten auf offener Bühne eine Balance zwischen Selbstbehauptung/Abgrenzung und Bewahrung der Form  finden.“

Wann war das wohl, dass die Zeitungen es aufgegeben haben, „die Kollegen von anderen Blättern namentlich zur Rede stellen“? Ich kann mich daran erinnern, dass ich den frühen Nullerjahren mal für eine renommierte Tageszeitung aufgreifen wollte, dass ein Autor einen Artikel aus einem englischen Fußballmagazin übersetzt und einer renommierten Sonntagszeitung als eigenes Werk verkauft hatte. „Och nö, das machen wir nicht“, meinte der Redakteur leicht indigniert, als sei diese Art der Kollegenkritik irgendwie schmutzig.

Die Frage, ob die etablierten Medien heute überhaupt noch als Korrektiv respektive, um es angelehnt an Mangold zu sagen: Zur-Rede-Steller anderer etablierter Medien fungieren wollen/können, stellt sich auch angesichts der gängigen Recherchekooperationen zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Verlagen. Anders gesagt: 

„Wenn (...) jeder mit jedem kann, stellt sich (...) die Frage, ob Verlage und Sender künftig in der Lage sein werden, einander kritisch zu beobachten.“

So habe ich es für die taz formuliert, für die ich nicht nur auf die dank „Tagesschau“ und tagesschau.de berühmte, aus anderer Sicht eher berüchtigte Zusammenarbeit von SZ, NDR und WDR (die gestern auch an dieser Stelle Erwähnung fand) eingegangen bin, sondern auch auf weniger regelmäßig stattfindende bzw. sporadische Kooperationen zwischen dem „Report“ aus München und der „Zeit“, dem „Report“ aus München und der Eff-Ah-Zett und dem „Report“ aus Mainz und dem „Spiegel“.

[+++] Am heutigen Freitag beginnt in Darmstadt der Prozess gegen den Mörder der Studentin Tugce Albayrak, und der Tagesspiegel stellt mittels einen dpa-Berichts in diesem Zusammenhang einen Aspekt heraus, der für Journalisten relevant ist. Es sei 

keine Berichterstattung direkt aus dem Gerichtssaal möglich. Handys und Laptops dürfen in Saal 3 des Landgerichts (...) während der Verhandlung nicht genutzt werden“. 

Im vergangenen Jahr hatte das Bundesverfassungsgericht über einen Eilantrag des Springer-Verlags gegen Berichterstattungseinschränkungen bei einem anderen Mordprozess zwar weitgehend im Sinne des Medienhauses entschieden (1 BvR 1858/14). Die von Springer kritisierte Anordnung, „Aufnahmegeräte, Mobiltelefone und Laptops während der Verhandlung auszustellen“, fanden die Karlsruher Richter aber in Ordnung, weshalb man davon ausgehen kann, dass es schriftliche Live-Berichterstattung (etwa via Twitter) von vielen Prozessen, die von ähnlich starkem Interesse sind wie der gegen den Mörder von Tugce Albayrak, vorerst nicht geben wird. 

Dazu passt die NDR-Info-Rezension eines Buchs, in dem die Wirtschaftsjournalistin Dani Parthum das 62 Prozesstage dauernde Verfahren gegen  ehemalige Vorstände der HSH Nordbank beschreibt. Parthum war bei jeder Verhandlung dabei:

„Ein Problem, mit dem sie zu kämpfen hatte: Im Gerichtssaal war das Benutzen von Laptops verboten. Sie musste also ständig per Hand mitschreiben, nach mehreren Stunden schmerzte die Hand entsprechend.“

[+++] Bleiben wir auf juristischem Terrain: Im FAZ-Wirtschaftsteil  kommentiert Joachim Jahn die bevorstehende Freilassung des einstigen Medienmanagementhelden Thomas Middelhoff - und die Öffentlichkeitsarbeits-Strategien seiner Rechtsdienstleister. „Die Entscheidung, den 61 Jahre alten Mann (vorerst) freizulassen“, sei „nicht zu kritisieren“, meint Jahn. Aber: 

„Leider hat die Entscheidung den Beigeschmack, dass sie von einer verdeckten Kampagne der Strafverteidiger beflügelt wurde. Die Erlaubnis, aus Middelhoffs Krankenakte zu zitieren, ist typisch für das, was Anwälte und Medienberater bei Rechtsstreitigkeiten von Managern und Unternehmen heutzutage ‚Litigation-PR‘ (Anm.: Link von mir - RM) nennen. Sie versuchen, das Blatt der öffentlichen Meinung zugunsten ihrer Kunden zu wenden – und sogar Druck auf die Justiz auszuüben (wofür weisungsgebundene Staatsanwälte empfänglicher sind als unabhängige Richter).“ 

[+++] Wer sich fragt, was es mit der selbstreferentiellen, formal regelwidrigen Überschrift der heutigen Kolumne auf sich hat: Sie ist inspiriert von einem Vorfall, den Thomas Gehringer in seinem „Tagebuch“ für epd medien beschreibt. Er geht darauf ein, dass Dokumentationen in der ARD und in ihren Mediatheken „bisweilen ein erstaunliches Eigenleben“ entwickeln, wozu gehört, dass sie dort unter unterschiedlichen Versionen und Titeln auftauchen. Eine Dokumentation über Gewalt gegen Schiedsrichter im Amateurfußball ist in der ARD-Mediathek seit Januar unter dem Titel „Tatort Kreisklasse“ zu finden. Der Film sollte ursprünglich auch in jenem Monat laufen, aber wegen des Anschlags auf „Charlie Hebdo“ wurde er verschoben. Und jetzt wird es, tja, spannend:

„Komplett wurde die Verwirrung, als der WDR (...) vor dem zweiten Ausstrahlungstermin gegen das Wort ‚Tatort‘ im Titel protestierte - zum Schutz der populären ARD-Krimi-Marke.“

Man muss sich da schon besorgt fragen, ob beim WDR nicht nur ein paar Tassen fehlen, sondern sogar die Schränke. Die heutige Headline „Tatort Altpapier“ drängt sich also fast schon auf. Der Film lief im linearen Fernsehen dann unter dem markenrechtlich korrekten Titel „Fußball brutal - Wenn der Schiri zum Freiwild wird“. Auch in dieser Version ist er in der Mediathek zu finden. 


Altpapierkorb

+++ Wer sich für eine Nachbetrachtung der Germanwings-Katastrophenberichterstattung, speziell der aus Haltern, interessiert, ist möglicherweise nicht schlecht bedient mit Kay Sokolowskys „Aufklärung über Leichen“ in konkret (Seite 44, noch nicht online): „Die einzige Information von allgemeiner Bedeutung, die aus Haltern in die Welt ging, betrifft den Voyeurismus einer Gesellschaft, deren Gesellen sich derart vereinzelt haben, dass die Massenmedien ihnen mit dem fremden Schmerz auch die Illusion liefern müssen, zu menschliche Regungen doch in der Lage zu sein.

+++ Anlässlich der Beschwerde der EU-Kommission in Sachen Google hat Morten Freidel für die FAZ-Medienseite mit dem grünen EU-Abgeordneten Jan Philipp Albrecht gesprochen: „Die Dominanz von Microsoft hat der Markt in den vergangenen Jahren aufgeweicht. Könnte das mit Google nicht auch passieren?“ - „Das halte ich für sehr naiv. Der Markt kann nicht darauf vertrauen, dass marktbeherrschende Stellungen oder sogar Monopole sich einfach in Luft auflösen. Ganz im Gegenteil: Die Dynamik, die sich gerade auch bei Google zeigt, ist eher, dass Unternehmen den Wettbewerbsvorteil, den sie durch Marktbeherrschung haben, immer weiter ausbauen können.“ 

+++ Aufmacher auf der Tagesspiegel-Medienseite: eine Besprechung von „Hottentottenstottertrottel“, der möglicherweise nicht tiptop betitelten Autobiographie des früheren Welt-Chefredakteurs und Henri-Nannen-Schulmeisters Wolf Schneider. Das Buch ist, logo, geprägt von „diesem typischen Schneider-Sound, der manchmal beinahe schon parodistisch penibel durchgefegten Sprache“.

+++ Noch eine Buchwürdigung: Die Jüdische Allgemeine bespricht den gerade erschienenen Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und dem Schriftsteller Peter Rühmkorf. „Sie sind wirklich ein ekelhafter Mensch. Aber Ihr Aufsatz über Gernhardt ist vorzüglich, ja hervorragend“, schrieb der Literaturredakteur seinem Gelegenheitsautor einmal. Eine von Rühmkorf in einem der Briefe vertretene Position - von Rezensent Welf Grombacher wiedergegeben mit den Worten: „Was der ganze ‚Saison-Fimmel‘ überhaupt soll, nur neue Bücher zu besprechen“ - verdiente es, diskutiert zu werden. 

+++ Fein beobachtet: „Das Feuilleton wird zum Hassknecht und Stellvertreter eigener Aversionen: Allerweltsfrust über Allerweltsfeindbilder (Mahner, Gutmenschen, Fremde, Frauen, Rauchverbote) sind mittlerweile auch in großen Feuilletons so bräsig, krachig, giftig, spitz, dass sie einer nicht-mehr-stummen Mehrheit aus dem Herzen sprechen“ (Stefan Mesch, Zeit Online). Wolf Schneider hätte allerdings zwei bis drei Adjektive gestrichen.

+++ Joachim Käppner lobt auf der SZ-Medienseite die von Spiegel-TV produzierte Marathon-Doku „1945. 12 Städte, 12 Schicksale“, die am Sonnabend zwischen 12 und 24 Uhr bei Vox zu sehen ist: „Ganz schön ehrgeizig für den Privatsender Vox. Aber siehe da: Das Projekt gelingt.“

+++ Ebenfalls für die SZ hat Claudia Tieschky den neuen Slogan der Deutschen Welle aufgespießt („Made for minds“) und eine sich u.a. mit dem bevorstehendem Personalabbau beim Sender befassende Anfrage der Bundesfraktion von Bündnis 90/Die Grünen durchgearbeitet.

+++ Auch noch in der SZ: Ein Luxemburger Ermittlungsrichter geht gegen den französischen Journalisten Edouard Perrin vor, „der maßgeblich an den Luxemburg-Leaks-Enthüllungen beteiligt war“. 

+++ „Die Zeitungsverleger und die privaten Radioveranstalter haben den Beschluss der Ministerpräsidenten kritisiert, die Ausstrahlung von regionalisierter Werbung in bundesweit verbreiteten Fernsehprogrammen zumindest vorerst doch nicht untersagen zu wollen“, berichtet die Medienkorrespondenz. Hintergrund: Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Dezember Pro Sieben Sat 1 das Recht zugestanden, in seinem bundesweiten Programm Werbespots für regional begrenzte Gebiete auszustrahlen - der TV-Riese darf nun auch bei den potenziellen Hauptkunden von lokalen Zeitungen und Sendern baggern. Deren Interessenvertreter hatten nun geglaubt, „die Politik“ würde eingreifen, aber, tja, das hat sie, wie gesagt, „vorerst doch nicht“ getan.

+++ Über einen Sieg gegen den Fußballweltverband Fifa freut sich das Handelsblatt. Es geht um die Verlosung von WM-Tickets, die das Landgericht München nun für rechtmäßig erklärt hat.

+++ Und eine neue Folge des „Episoden-Podcasts zur letzten Halbstaffel von ‚Mad Men‘“ hat das Torrent Magazine im Angebot.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

weitere Blogs

Symbol Frau und Sternchen
Geschlechtsneutrale oder geschlechtssensible Sprache erhitzt seit Jahren die Gemüter. Nun hat die Bayrische Landesregierung das Gendern verboten. Die Hessische Landesregierung will das Verbot ebenfalls einführen.
Eine Ordensschwester im Kongo wurde wieder freigelassen – weil der Bandenchef keinen Ärger wollte.
Ein spätes, unerwartetes Ostererlebnis der besonderen Art