Jens Daniel zum aktuellen Spiegel-Titel

Jens Daniel zum aktuellen Spiegel-Titel
Heute könnte man sicher über den Vagina-Schrecken reden, den Carolin Kebekus im WDR verbreitet. Oder über Hochzeiten und Scheidungen. Wir beschäftigen uns mit dem Thema, das die Kanzlerin mit Alexis Tsipras in Berlin besprechen wird: Europa.

Im Umgang mit den Funktionsbedingungen des digitalisierten Mediensystems sind wir immer noch alle Anfänger. Vor 25 Jahren wäre ein Jan Böhmermann nicht in der Lage gewesen, den politischen Diskurs so zu beeinflussen, wie es ihm mit seiner Journalismus-Parodie auf die Jauch-Sendung mit Yanis Varoufakis gelungen war. Ohne Twitter und die nächtliche Ratlosigkeit über sein Stück wäre nämlich niemand auf die Idee gekommen, die Authentizität der Parodie nicht zu erkennen. Es brauchte somit die Geschwindigkeit der digitalen Medien, das Denken in Skandalen und die Suche nach politischer Opportunität, um #Varoufakefake auszulösen. Harald Staun hat das in der FAS so beschrieben:

„Was Böhmermanns Coup vor Augen führte, das war eben nicht nur die banale Erkenntnis, dass man den Bildern im Zeitalter ihre Virtualisierung nicht mehr trauen sollte. Es war vor allem die Demonstration der fundamentalen Beschränktheit eines Journalismus, der seine Finger einfach nicht von solchen Fingern lassen kann, eines Journalismus, der seine Probleme nicht einmal dann erkennt, wenn er über sie berichtet, eines Journalismus, der sich nur für die Lüge hinter der Satire interessiert statt für ihre Wahrheit. Es ist ein Journalismus, der für die täglichen Verdrehungen vermeintlicher Fakten und Tatsachen gar keine Kategorien, keine Sprache, kein Bewusstsein hat. Wahr oder falsch, echt oder Fake sind seine einzigen Bewertungskriterien, er funktioniert nach einer binären Logik, als würden in den Redaktionen schon jetzt nur noch Algorithmen das Sagen haben.“

Staun irrt. Die Algorithmen haben nichts zu sagen, außer als Stimmen in unseren Navigationsgeräten, sondern sie bestimmen unser Denken. Wir meinen deshalb tatsächlich, die Metaebene der Medienkritik sei wichtiger geworden als das, was in den Medien über schwierige Sachverhalte zu lesen ist. Die Sendung von Jauch mit Varoufakis war ein hervorragendes Beispiel dafür gewesen. Tatsächlich hatte sich an diesem Sonntag ab 22:45 Uhr schon niemand mehr dafür interessiert, was in den 58 Minuten noch zu sehen und hören gewesen ist, außer das über den berühmten Mittelfinger. Es dominierte sofort die Logik des Boulevard-Journalismus, der schon immer alles, was ihm in die Finger kommt, zuspitzt und auf den scheinbar skandalösen Punkt reduziert. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Deswegen forderte gestern sogar die NZZ die Entlassung von Jauch:

„Hier die disziplinierten deutschen Zahlmeister, dort die faulen Griechen, die ihre Retter auch noch beleidigen. Kein Wunder, schlugen die Bilder in Deutschland wie eine Bombe ein, zumal Varoufakis seit seinem Amtsantritt im Januar seine europäischen Partner oft vor den Kopf stiess. Doch das Video ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Zwar ist es echt (auch wenn eine Satiresendung im ZDF anderes behauptete). Aber Varoufakis’ obszöne Geste reflektiert nicht seine Meinung über Deutschland. Das kann jeder nachvollziehen, der sich im Internet die komplette Aufnahme ansieht. Auch Starjournalist Jauch hätte das tun können und müssen. Sein Beitrag ist darum kein Coup, sondern übelster Kampagnenjournalismus, der das verkorkste Verhältnis zwischen Berlin und Athen zusätzlich belastet.“

Wer sich die ganze Sendung angesehen hatte, konnte keinen Zweifel daran haben, dass Jauch den griechischen Finanzminister gerade nicht eingeladen hatte, um ihn vorzuführen, sondern im Gegenteil: Varoufakis bekam ausführlich Gelegenheit, das Elend der deutschen Debatte deutlich machen. Die saß in Gestalt von Ernst Elitz und Markus Söder in der Sendung. Auf die Idee, dass Jauchs Redaktion also den Sprengstoff dieser 2 Minuten nicht erkannt hatte, sie die bisweilen tatsächlich polemischen Äußerungen aus Griechenland an diesem Beispiel lediglich (allerdings falsch) thematisieren wollte, kam niemand mehr. Das wäre auch nicht aufgefallen, wenn Varoufakis den Redeausschnitt so kommentiert hätte, wie der Kollege von der NZZ. Stattdessen bestritt er, diese Geste gemacht zu haben. Wer in das überraschte Gesicht von Jauch nach dieser Aussage gesehen hat, wird auch wissen, dass er das alles unmöglich geplant haben kann. Varoufakis reagierte aber in der Live-Konstellation nicht so, wie der NZZ Kollege nach einer Woche Bedenkzeit. Damit erst kam der Schneeball ins Rollen. Über den klärt uns dann auch der aktuelle Spiegel auf:

„Böhmermann hat mit seiner Aktion die Logik des medialen Schneeballs, der zur Lawine wird und keine Grenzen mehr kennt, schon gar nicht die der Sendezeit, permanent weiterentwickelt: Jeder, der mitspekuliert, ist Teil dieser Performance, jede Klarstellung, jeder Beweis für die eine oder andere Theorie gehört dazu. Und selbst wenn irgendwann das gottgleiche Machtwort „Ätsch“ gesprochen wird, wenn der Urheber wirklich sagt, wie es ursprünglich wirklich war – was ursprünglich passiert war, lässt sich nicht rückgängig machen.“

Damit ist die Reaktion auf Böhmermann gemeint. Nur interessiert sich noch wirklich jemand dafür, wie es in den anderen 58 Minuten bei Jauch gewesen war? Einen langjährigen Beobachter politischer Talk Shows überraschte nämlich vor allem eins: Der Redaktion von Jauch die Raffinesse zuzutrauen, einen Gast in der Form geplant auf das Glatteis zu schicken, damit er sich dort auf die Nase legt.

+++So landete Varoufakis auf dem Spiegel-Titel, allerdings nur links unten. Im Mittelpunkt steht eine Dame in gelber Hose und grünem Blazer, die mit ihrer klassischen Raute verzückt in den Himmel sieht. Ansonsten sind dort Offiziere der Wehrmacht vor dem Hintergrund der Akropolis zu sehen. Es illustriert die Titelgeschichte: „The German Übermacht: Wie Europäer auf die Deutschen blicken.“ #Varoufakefake war vorgestern, jetzt geht es um den Spiegel-Titel. Darf man das? Die Kanzlerin in den Kontext mit Opas Wehrmacht stellen? In der deutschen Gartenzwerg-Idylle ist historisches Bewusstsein schon längst auf Mittelfinger-Größe geschrumpft. Es reicht eines zu wissen: Die Nazis waren böse und wir sind keine Nazis, also sind wir nicht böse. Ansonsten redet man an Gedenktagen von historischer Verantwortung, die aber zumeist nur noch das Ziel verfolgt, sich selbst zu vergewissern, nicht böse zu sein. So dient die Erinnerung an Herrn Hitler nur noch der deutschen Borniertheit, nämlich über Deutschlands Rolle in Europa nicht nachdenken zu müssen. Die Titelgeschichte macht das ausdrücklich nicht. Sie versucht diesen medialen Schleier zu konterkarieren, indem sie nämlich die Kontinuität des Problems namens Deutschland deutlich macht. Es sei in der Position des „Semi-Hegemons“, so zitiert der Spiegel Ludwig Dehio, den wahrscheinlich sogar Fachhistoriker nicht mehr kennen. Aber das Elend der deutschen Debatte über die eigene Rolle in Europa könnte man durchaus auch an Dehio kenntlich machen. Jens Daniel beschäftigte sich mit ihm zu einer Zeit als man noch nicht auf die Staatskunst der heutigen Bundeskanzlerin vertrauen musste. Wir hatten Adenauer:

„Wie einleuchtend, wie sprachgewaltig beschreibt der erstrangige Historiker das vergeblich-verderbliche Streben des Reiches, die englische Welthegemonie zu zerbrechen und dabei willig in Kauf zu nehmen, daß die deutsche Hegemonie dabei an Stelle des Mächtegleichgewichts in Europa treten müsse! … . Die Folgerungen, die der Publizist Dehio aus seiner historischen Einsicht für die aktuelle Politik keltert, müssen jeden bekümmern, der weiß, daß der geachtete Mann für eine ganze Schule Bonner Politiker repräsentativ steht. Es ist des Historikers ureigenes Recht, auch die Frage der deutschen Wiedervereinigung leidenschaftslos zu behandeln. Aber wo sind Klarheit und Wahrheit der Begriffe geblieben, wo ist die Präzision des Stils? Wie soll das Ausland das todernste Risiko, das im deutschen Status quo liegt, begreifen lernen, wenn unsere prominenten Historiker das Problem in solch dürftige Rezepte einpacken. … . Wie, wenn wir auch eine europäische Verantwortung hätten und nicht nur eine angelsächsische?“

Was sagt aber Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer zu seinem Titelbild, das nicht mehr Jens Daniel alias Rudolf Augstein absegnen musste?

„Und die Titelzeilen sagen, dass es um den europäischen Blick auf Deutschland geht. Angela Merkel ist ausgeschnitten und mit Klebestreifen eingefügt worden; absichtlich plump also, damit das Titelbild an jene Karikaturen erinnert, die die Kanzlerin mit Hitler-Bart zeigen. Wir zitieren, ironisieren und verfremden einen Blick von außen und die Vermischung von deutscher Geschichte mit deutscher und europäischer Gegenwart.“

Das muss man tatsächlich erklären, weil es niemand so verstanden hat. Es geht nämlich nicht um die Frage, wie uns nur das Ausland sieht, sondern wie wir uns selber sehen. In Brinkbäumers Erläuterungen, er könnte sie bei Reclam veröffentlichen, macht er genau den Fehler, den Augstein Dehio schon 1956 vorwarf. Nämlich wider besseren Wissens die Erkenntnis zu verkleistern, dass „die "Dynamik der deutschen Frage seit 1900 überlegen der jeder anderen nationalen Problematik in Europa ist." Insofern ist die Kritik berechtigt, dass der Spiegel laut seiner Selbstoffenbarung mit seinem Titelbild auf Effekthascherei setzte. Er sich also gar nicht bewusst gewesen ist, wie sehr die Kontinuität der „Dynamik der deutschen Frage seit 1900“ wieder die Zukunft des alten Kontinents bestimmt. Wir brauchen jetzt keine Ironie (oder ähnlichen Scheiß), sondern die Einsicht Adenauers: Die Lage ist ernst. Es wäre ein Fortschritt, wenn das die Medien in ihrer Berichterstattung endlich begreifen würden. Aber man kann natürlich auch die Journalismus-Parodie von Jan Böhmermann zum Standard unseres Berufsstandes machen. Und das sogar für kritisch halten. In Wirklichkeit hat er nur unsere Blödheit sichtbar gemacht.


Altpapierkorb

+++ Wie sehr die Varoufakis-Böhmermann-Debatte die Gemüter bewegt, zeigen auch die zumeist am Wochenende laufenden Medienformate im Radio. So ist dazu etwas auf WDR 5 zu finden, im Deutschlandfunk und im Bayerischen Rundfunk. Es lohnt sich übrigens das Hinhören, auch wenn es nicht im Mittelfinger geht. In "Markt und Medien" wird etwa über ein neues Projekt berichtet. Deren erstes Thema: Wer kommt eigentlich in die Talk Shows, außer Wolfgang Bosbach natürlich? In "Töne, Texte, Bilder" beschäftigt man sich zudem mit einer neuen Serie zur Zukunft des Journalismus. Zwar ist das Thema seit Jahren eine fortlaufende Serie wie „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ auf RTL. Aber trotzdem zu empfehlen. Es geht in der ersten Folge um Crossmedialität. Aber was denkt das Volk eigentlich? Hans Hoff macht sich darüber Gedanken. Er war nämlich im Supermarkt. Was mich aber wirklich erstaunt. Sogar Menschen, die keine Journalisten sind, haben eine Meinung? Damit kommen wir zu einem Fernsehkritiker: Er ist 10 Jahre alt. 

+++ Zur erwähnten Sendung mit Frau Kebekus gibt es bei Spiegel online und dem Tagesspiegel Fernsehkritiken. Es soll hier aber nicht verschwiegen werden, was der 10jährige Kritiker aus der eigenen Familie dazu zu sagen hatte. Im Gegensatz etwa zu Formaten wie „Ladys Night“, die er manchmal so unverständlich findet wie Papas politische Erläuterungen, könne er bei Frau Kebekus jeden Witz verstehen. Insofern wäre ein früherer Sendetermin sicherlich nützlich. Der junge Kritiker ist nämlich auch ein Fan der „heute show“, womit er nur ein Problem hat: Er schläft vorher ein. Der grandiose Start des neuen Formats könnte noch grandioser werden, wenn man den Sendetermin von „Pussy-Terror-TV“ vorverlegte.

+++ Im Tagesspiegel erläutert im Interview der Chefredakteur von RT-Deutsch wie gefährlich er ist. In der FAZ schreibt Friedrich Schmidt über die Gefährlichkeit unabhängiger Medien in Russland. Nach #Varoufakefake hat man aber eher den Eindruck, dass die Ungefährlichkeit der Medien wegen erwiesener Belanglosigkeit das eigentliche Problem sein könnte. Dafür haben aber die Staatstrolle in Russland eine gesicherte, wenn auch wahrscheinliche prekäre Beschäftigungsperspektive. Weil man sich ja im Westen überlegt, wie man auf diese mediale Herausforderung reagieren kann, sollte im Vorfeld eine Frage geklärt werden: Könnte man als westlicher Staatstroll in der Künstlersozialkasse pflichtversichert werden? Wenn man nämlich schon den Journalismus auch im Westen abzuschaffen gedenkt, sollten wenigstens sozialpolitische Mindeststandards eingehalten werden. Aber wir können es natürlich auch weiterhin mit Journalismus versuchen.

+++ Über die Belanglosigkeit des Sport-Journalismus macht sich die taz ihre guten Gedanken. Darüber hinaus diskutierte man dort über die Hinterlassenschaft von dem, was man vor kurzem noch #tazgate nannte. Dazu passt sicherlich auch dieser Tweet über das, worüber man sich in der kommenden Woche empören kann.

+++ Laut Bild am Sonntag lassen sich nicht nur Christian und Bettina Wulff scheiden, sondern wird auch Margarete Schreinemakers unter Umständen wieder in das RTL-Programm zurückkehren. Eine Vermutung lässt sich angesichts dieser Nachricht jetzt schon formulieren: Der Zielgruppe von 10 bis 29 Jahren wird man damit neue Perspektiven vermitteln können. Die Älteren ahnen wahrscheinlich schon jetzt, was sie erwartet.

+++ Programmbeschwerden bezüglich der Berichterstattung in öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind ja groß in Mode gekommen. In den alten Zeiten nannte man das Fernsehkritik. Eine hat jetzt Norbert Häring in seinem Blog geschrieben. Das ist natürlich Camouflage. In Wirklichkeit handelt es sich um eine ökonomisch fundierte Kritik der deutschen Europa-Politik. Insofern sollten sie nicht Medienmacher in den Anstalten lesen, sondern die Kanzlerin bevor sie sich heute Abend mit Alexis Tsipras trifft.

+++ Die Medien bemühen sich gerade, den Leser, Hörer und Zuschauer auf das abendliche Treffen der Kanzlerin mit Alexis Tsipras einzustimmen. Weil man ja bis dahin die Zeit totschlagen muss, vergleicht Spiegel online die Qualitäten von Ronaldo mit denen von Messi vor dem Clasico. Oder so ähnlich. Leider trifft Frau Merkel nicht auf Frau Tsipras. Dann hätte man noch die Frisuren und die Hosenanzüge einer Analyse unterziehen können.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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