Vorbeter des Silicon Valley als Parodisten der "Dialektik der Aufklärung"

Vorbeter des Silicon Valley als Parodisten der "Dialektik der Aufklärung"
Was wird die Zukunft unserer Kinder bestimmen? Putin und Russland? Frau Merkel und Griechenland? Wohl eher die Digitalisierung. Dort wird nämlich jene Wirklichkeit geschaffen, die unser Bild von der Welt prägen wird. Der Journalismus führt dabei nur eine Randexistenz.

Manchmal lohnt sich ein Blick zurück. Im Jahr 1928 veröffentlichte der Soziologe Karl Mannheim seinen Aufsatz „Das Problem der Generationen“. Ein „gemeinsamer kultureller Kontext“, die „chronologische Gleichzeitigkeit sowie die Wahrnehmung des Geschehens aus der gleichen Lebens- und Bewusstseinsschichtung heraus gehörten für Mannheim zu den entscheidenden Voraussetzungen generationeller Vergemeinschaftung.“ Angesichts dieser Definition wird deutlich, was die Digitalisierung eben auch ist: Eine Generationenfrage. Mittlerweile ist die erste Generation erwachsen geworden, die das Internet nicht mehr als etwas Neues, sondern als Selbstverständlichkeit betrachtet. Über das Neue wird gestritten, zwischen Befürwortern und Gegnern, zwischen scheinbarem Fortschritt und vermeintlichem Konservativismus. Das Selbstverständliche nicht nur als selbstverständlich zu erkennen, ist wesentlich schwieriger. Wem man lange genug eingeredet hat, dass das Selbstverständliche nur so sein kann, wie es heute ist, dem erscheinen gesellschaftliche Verhältnisse wie die Natur. Als etwas Unabänderliches, wo man sich dem keineswegs stummen Zwang der Verhältnisse zu unterwerfen hat. Die Digitalisierung ist dabei ein besonderer Prozess, weil sie in einzigartiger Weise unser aller Bewusstsein von der Wirklichkeit verändert. Sie verändert sogar unser Denken selbst, weil die diskursive Struktur der Digitalisierung Anpassungsprozesse des Individuums erzwingt. Die uferlose Debatte über das daraus entstehende Mediensystem und die Rolle des Journalismus hat hier seinen Grund. Es ist der andauernde Versuch, den Wandel zu verstehen, der sich in hoher Geschwindigkeit vollzieht.

+++ Insofern macht der aktuelle Spiegel Titel nur deutlich, worum es in Wirklichkeit geht. „Die Weltregierung. Wie das Silicon Valley unsere Zukunft steuert“ ist nichts anderes als der Appell, die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten. Sich nicht der kruden Ideologie von Technokraten zu überlassen, die zugleich als Interessenten des digital-industriellen Komplexes auftreten. Die im Spiegel beschriebenen Vorbeter der Digitalisierung wirken mittlerweile wie eine Parodie auf Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, die die instrumentelle Vernunft schon so verinnerlicht haben, dass sie jeden kritischen Gedanken längst aufgegeben haben.

„Davon handelt der unsichtbare Gesellschaftsvertrag, den jeder hier (im Silicon Valley) unterschreibt: der Glaube an die grenzenlosen Möglichkeiten der Technologie, daran dass wir auf dem Weg sind zu immer neuen Durchbrüchen mit immer größeren Sprüngen in immer kleineren Abständen. Die Singularity-Idee liefert den nötigen Überbau, die Überhöhung: Die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen, das ist das Ziel. So wird der Tech-Optimismus zur Erlöserfantasie.“

Das Silicon Valley hat einen eindimensionalen Fortschrittsbegriff, der aus Technologie einen Fetisch macht; sie zudem noch mit den eigenen ökonomischen und politischen Interessen zu verbinden weiß. Das erinnert an die kruden Ideen der Stalinisten, wobei allerdings Letztere zum Aufbau der passenden Gesellschaft noch den Terror als Disziplinierungsinstrument benötigten. Aber Stalin hätte von den Möglichkeiten nur geträumt, die die Internalisierung des Zwangs heute bietet.

+++ Er kommt heute auf leisen Sohlen daher. In der FAZ hat Fridtjof Küchemann am Samstag vom Besuch der Bildungsmesse Didacta in Hannover berichtet. Dort geht es um um die Anwendung dieser neuen Technologien im Bildungsbereich. Damit zugleich um die Frage, was alle möglichen Akteure mit diesen neuen Technologien anstellen, um sie nutzbar zu machen. Mit anderen Worten: Wie gestalten wir die Sozialisation unserer Kinder, die sie dann später im Sinne Mannheims als „generationelle Vergemeinschaftung“ interpretieren müssen? Man kann das zwar alles als selbstverständlich betrachten, als gesellschaftspolitischen Fortschritt wie das die Vorbeter der Digitalisierung tun, aber sollte wenigstens wissen, was es für Folgen hat. Es verändert nämlich die Wahrnehmung der Kinder über ihre Umwelt. Sie bekommen damit eine Botschaft vermittelt, die Küchemann so beschreibt.

„Wenn die vielbeschworene Bildungspartnerschaft, in die selbstverständlich auch Eltern einbezogen sind, ihre Grundlage in einer solchen Datenauswertung hat, der sich der Schüler nicht entziehen kann, letztlich also in einem Überwachungswerkzeug, ist nicht nur einer der wesentlichen Werte jeder Partnerschaft — Freiwilligkeit und Selbstverantwortung — von vornherein verraten. Auch die Eltern werden kaum eine Wahl haben, von diesen Angeboten Gebrauch zu machen. Einerseits ist es auch für Väter und Mütter ohne Rotorblätter nicht leicht, zwischen einem fürsorglichen und einem voyeuristischen Blick auf die Teile des Lebens der eigenen Kinder zu unterscheiden, die sich ihnen bislang entzogen hatten. Andererseits müssen sie damit rechnen, dass in Systemen, die bis in die Bearbeitungsdauer einzelner Aufgaben hinein Leistung und Einsatz registrieren und verrechnen, auch das eigene Profil einer solchen Datenauswertung unterliegt. Künftig könnte der Blick in die Bildungsdaten ihrer Kinder zum Idealbild engagierter Eltern gehören.“

+++ Womit wir bei der Januar-Ausgabe des Merkur sind. Er beschäftigt sich in einer Reihe von interessanten Aufsätzen mit der Digitalisierung. So weist etwa Ted Striphas auf einen wesentlichen Aspekt hin, der ansonsten immer zu kurz kommt. Wie nämlich die Technologie zugleich unsere Sprache und damit auch unsere Wahrnehmungsmuster verändert:

„Veränderungen der Sprache … legen Zeugnis darüber ab, wie neue technologische Wirklichkeiten entstehen, zugleich bringen sie diese mit auf den Weg. … . Wäre er noch am Leben, hätte der Kulturtheoretiker Raymond Williams „Freund“, „Cloud“, „Plattform“, „Algorithmus“, „Server“ und „App“ wohl zu den „Schlüsselwörtern der Gegenwart gezählt – zu den Begriffsfeldern, an deren Bedeutungsverschiebungen besonders „aktive und akute“ soziale Veränderungen abzulesen sind. Schlüsselwörter zeigen, wie sehr die Geschichte der Technologie eine menschliche ist und nicht nur auf dem Kalkül der von Wissenschaft und Ingenieurswesen, sondern auch auf dem Tohuwabohu der Alltagssprache beruht.“

Die Medien selbst unterliegen diesem Prozess. Im früheren Verständnis waren die Medien gleichbedeutend mit journalistischen Produkten gewesen, die unser Verständnis von Wirklichkeit konstituierten. In der fortlaufenden und unendlichen Journalismusdebatte kommt das auch zum Ausdruck, weil sie im Bewusstsein dieser früheren Bedeutung geführt wird. Heute sind aber Medien etwas anderes, wo der Journalismus nur noch eine Randexistenz führt. Er konstituiert nicht mehr zwangsläufig Wirklichkeit, wenn unsere Kinder Medien als die von Küchemann beschriebenen Überwachungstools ihres Alltags erfahren. Oder Eltern diese Medien nutzen, weil „der Blick in die Bildungsdaten ihrer Kinder zum Idealbild“ ihres Erziehungsstils geworden ist. Der Journalismus kann also heute nur die Aufgabe haben, den kritischen Blick auf diese Entwicklung zu ermöglichen, ohne dem Gerede der Adorno/Horkheimer-Parodisten aus dem Silicon Valley zu verfallen. Günther Hack hat in der genannten Merkur-Ausgabe über das „Internet als militärisches System“ geschrieben, aber vor allem darüber wie dieser Mythos seiner militärischen Ursprungsgeschichte entstanden ist. Er zieht daraus folgenden Schluss:

„Das freie Netz ist aber nur eine Idee. … . Es (steht) stets unter Druck mächtiger organisierter Eigeninteressen aus Wirtschaft und Nationalstaaten. Das Internet ist aber nicht der ureigenste Turf des Militärs und der Geheimdienste, es ist Infrastruktur und Produktionsmittel zugleich, Ergebnis langer harter Arbeit verantwortungsbewusster Experten, ein Gemeingut höchster Ingenieurskunst, das von Staat und Wirtschaft in deren eigenem Interesse sorgsam behandelt werden muss.“

Die Worte hört man wohl, allein es fehlt der historisch begründete Glaube. Zumeist mussten den „mächtigen organisierten Eigeninteressen“ Kompromisse mühselig abgerungen werden. Damit das auch in Zukunft gelingen kann, ist es aber notwendig, den Vordenkern des Sillicon Valley die Deutungshoheit über diese Interessen abzunehmen. Oder will wirklich jemand diesen Leuten überlassen, was mit der „Lebens- und Bewusstseinsschichtung“ zukünftiger Generationen geschieht?


Altpapierkorb

+++ Und was bedeutet das jetzt alles für den Journalismus? Cordt Schnibben versucht sich ebenfalls im Spiegel an dem Thema. Dazu hat er einige Protagonisten des Medienwandels befragt. Vom Altmeister Wolf Schneider bis zur jungen Kollegin Jessica Schober. Schneider ist dabei in seiner Medienkritik gewohnt kreativ: „Und wenn er nun einmal schon so in Fahrt ist, dann haut er auch auf den Spiegel ein, auf die Zeit, den Stern und alle Blätter, die gerne in Rudeln dieselben Themen hochblasen, Schweinegrippe, Rinderwahn, Vogelgrippe und alle die anderen Seuchen, die sich ein paar Monate später wieder in Luft aufgelöst haben: „Die Seuchen, die nicht von Viren, sondern von Journalisten verbreitet werden, kosten auf Dauer Glaubwürdigkeit und Auflage.“ Das ist zwar im Prinzip richtig, nur ist Schneider bekanntlich kein Altmeister in Virologie. Er erfährt darüber nur das, was er in der Zeitung findet. Denn das Dumme an solchen Seuchen ist deren fehlende Prognostizierbarkeit. Die Wissenschaft kann bei dem Thema nur in Wahrscheinlichkeiten rechnen und die Politik muss mit Risiken kalkulieren. Niemand weiß, ob ein Vogelgrippeausbruch harmlos bleibt oder sich zur weltweiten Pandemie entwickelt. Die Medien dramatisieren solche Ereignisse, weil der schlechteste Fall in solchen Situationen das größte Interesse bei den Lesern findet. Das ist aber keineswegs neu. Sie haben schon immer so funktioniert. Aber gleichgültig, wie Medien berichten, ob abgewogen kühl oder dramatisierend zugespitzt, sie können an der Ungewissheit im Umgang mit diesem Ereignis nichts ändern, sondern sie nur zum Ausdruck bringen. Schneider fällt seiner Zeitungslektüre zum Opfer, die Monate später weiß, was nicht passiert ist, aber beim Ausbruch der Vogelgrippe niemand wissen konnte. Schneider müsste einmal Ebola in eine Suchmaschine eingeben, um sich zu vergewissern, was passiert, wenn man den Ausbruch einer Seuche unterschätzt. Dort wurde nämlich das umgekehrte Argument formuliert: Die Medien hätten den Ebola-Ausbruch in Westafrika zu lange ignoriert. Es gibt heute offenkundig den Wahn, die Zukunft vorhersagen zu können.

+++ Das versucht jetzt auch die Polizei: Das Verbrechen vorherzusagen. Der Spiegel berichtet über die entsprechenden Planungen in einzelnen Bundesländern, was auch zur Titelgeschichte passt. Nun hat Schnibben mit guten Gründen auf die legendäre Spiegel-Dokumentation hingewiesen. Allerdings könnten die Dokumentare beim Spiegel einmal unter den Begriffen „Horst Herold“ und "Kriminalitätsprävention“ nachsehen, um eine erstaunliche Feststellung zu machen. Der ebenfalls legendäre ehemalige BKA-Präsident Herold hatte schon Ende der 1960er Jahre in seiner Tätigkeit als Polizeipräsident von Nürnberg vergleichbare Konzepte entwickelt. Sie beruhten ebenfalls auf den ungeahnten Möglichkeiten der damals modernsten Datenverarbeitung. Herold rüstete später das BKA entsprechend auf. Die Erwartungen an den „Kollegen Computer“ waren damals nicht anders als heute. Das Verbrechen konnte trotzdem nicht abgeschafft werden.

+++ Der Journalismus als Randexistenz im Mediensystem sucht weiterhin ein Geschäftsmodell. Die Süddeutsche Zeitung versucht es ab März mit bezahlten Inhalten.

+++ Wer geht heute noch in das Theater, um sich die Welt erklären zulassen? Hans Hütt macht das für die Krautreporter und hat sich das Stück „Seite Eins“ angesehen: „Lügenpresse, Lügenpresse, Lügenpresse. Das ist Quatsch. Aber auch Quatsch wird wirkungsmächtig und messbar, zum Beispiel als Gefühle und Einstellungen. Wilhelm Heitmeyer hat das ausführlich in seinen Studien über „Deutsche Zustände“ dokumentiert. Den eindringlichsten Befund beschreibt er als „wutgetränkte Apathie“. Die Apathie scheint neuerdings der Lust am Krawall zu weichen. Immerhin gelangen damit auch Töne und Bilder in die Öffentlichkeit, die bislang an den Rand gedrängt oder ausgeblendet blieben. Das ist der Ort der unausgesprochenen Übereinkunft zwischen Medien und Politik. Wir können sie als namenlose Angst vor den Massen da draußen bezeichnen. Das ist in dem Normgefüge der Republik nicht vorgesehen. Der Respekt vor den Wählerinnen und Wählern schon. Der Respekt könnte eine andere Sprache, einen anderen Blick auf die Welt, auf die Wirklichkeit, auf den Wandel vertragen und ermöglichen. Darin kommt der Phantomschmerz zum Ausdruck, das Gefühl, dass da etwas abgeschnitten worden ist, das vermittelte Bild verkürzt wird, weshalb die politische Sprache wie in Äther getränkte Watte wirkt, eine präventive Therapie gegen die unberechenbaren wilden Gefühle da draußen“.

+++ Wie führt man gute Interviews? Vielleicht indem man der Bundeskanzlerin folgende Frage stellt: Kann man sich in der Politik hochschlafen? Nun wissen wir nicht, wie Frau Merkel auf diese Frage reagierte. Sie allein sicherte aber schon genügend Aufmerksamkeit, um selbst Mediendiensten eine breite Öffentlichkeit zu verschaffen. Die bekommen aber keine Interviews mit Frau Merkel. Deshalb musste sich Turi mit der neuen Chefredakteurin von Gala, Anne Meyer-Minnemann, begnügen, um folgenden denkwürdigen Dialog zu führen: „Was heißt das konkret? Konkret heißt es: Da sein, gut sein, mutig sein. Okay, dann bin ich mal mutig und frage ganz allgemein: Kann man sich im People-Journalismus hochschlafen? Offenbar Ihre Lieblingsfrage, die haben Sie so ähnlich auch schon Katja Hofem gestellt. Gute Frauen müssen sich nicht hochschlafen. Und überhaupt, bei wem denn? Julia Jäkel etwa? Sagen Sie’s mir. Mensch, Turi, kommen Sie mal in der Gegenwart an!
Na ja, Ihre oberste Chefin, Liz Mohn, und Friede Springer haben ja vorgemacht, dass die steilste Medienkarriere über das Herz eines mächtigen Mannes führen kann. Kommt noch eine Frage?“ Es kam noch eine. Aber die ersparen wir uns.

+++ Zum Schluss geht es um eine unbeantwortete Frage. Die stellt Bild-Kolumnist Hugo Müller-Vogg dem Regierungssprecher Steffen Seibert seit dem 26. Februar. „Was hat die GroKo denn für die gute Arbeitsmarktlage getan?“ Müller-Vogg bekam bis heute keine Antwort. Was für einen Bild-Redakteur schon ungewöhnlich genug ist (Siehe auch das Update). Außerdem hat er sogar schon einmal mit der Bundeskanzlerin gesprochen, wenn das auch schon ein paar Jahre her ist. Müller-Vogg könnte es jetzt auch auf Facebook versuchen. Oder mit der Frage an Frau Meyer-Minnemann versuchen: „Kann man sich im Bundespresseamt hochschlafen?“ Das Erstaunliche wäre aber nicht die ausbleibende Antwort des Regierungssprechers. Vielmehr die Tatsache, dass die Bild nachfragen müsste, ob das stimmen könnte. Früher hätte sie das nämlich gewusst.

Update

Hugo Müller-Vogg hat via Twitter eine Korrektur zu machen: "War nie Bild-Redakteur, bin auch nicht bei Bild." Seine regelmäßige Kolumnentätigkeit für die Bild betrifft das aber nicht. Etwa zum Thema Griechenland.

20:00 Uhr

Müller-Vogg arbeitet seit einem Jahr nicht mehr als Bild-Kolumnist. Wir bitten das Versehen zu entschuldigen.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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