An den Lippen alter Strukturen

An den Lippen alter Strukturen

Ein rant, der sich gewaschen hat, über siegreiche alte Strukturen und das hörige deutsche Internet. Eine französische Datenschützerin zieht über Apps vom Leder. Eine Gender-Debatte in der Fernsehfilm-Kritik?

So viel Lob können die etablierten Medien selten in diesem Internet lesen. "Die führende Internetzeitung Deutschlands ist heute zweifellos die FAZ", schreibt Wolfgang Michal, und: "traditionelle Marken" "vom Handelsblatt bis zum Freitag, von der ARD bis zu 3Sat" "beherrschen" die Onlinepublizistik.

Ein paar schöne sprachspielerische Details ("... und fast täglich müssen sich die Schurken von der NSA vor der beißenden Kritik dieser Zeitung", der FAZ, "in Acht nehmen") deuten an, dass das Lob vergiftet ist. Allerdings gilt das Gift in Michals programmatischer Polemik vor allem den Blogs, also sich selbst oder uns selbst, dem "uns" in der Überschrift "Braucht es uns noch?":

"Heute sind es die Blogs, die alt aussehen. Also sperren wir den Laden doch einfach zu. In der Welt der Medien macht es keinen Sinn, etwas am Leben zu halten, was nicht mehr gebraucht wird. 'Geht sterben!'  - diesen bösen Satz aus der arroganten Frühzeit des Internets - können wir nun endlich zu uns selber sagen."

Kern der Kritik ist das "Phänomen der medialen Hörigkeit" im Internet:

"Die im Netz Sozialisierten beziehen sich fast ausschließlich auf das, was ihnen die Altmedien vorsetzen, ja sie hängen den Altmedien förmlich an den Lippen."

Der mehrheitlich freundliche, manchmal böse Tonfall sagt ziemlich deutlich, dass Michal als einer der Herausgeber mit der Entwicklung von Carta, also dem wohl ambitioniertesten deutschen Autorenblog-Projekt, unzufrieden ist. "Mit den technisch wie optisch hochgetunten Websites der Altmedien können unsere klapprigen WordPress-Dinos sowieso nicht mithalten" lautet der Satz vor dem ersten hier eingerückten Zitat. Einige Signale wie das "eigentlich" am Anfang des vorletzten Absatzes lassen hoffen, dass die technisch wie optisch besonders puristische Webseite Carta dennoch nicht zusperrt und vor allem ein pointierter Beitrag eine Debatte anstoßen sollte. Sie immerhin läuft bereits. Darin wird Michal noch deutlicher:

"Stattdessen lassen sich die Leute heute zu Verlinkungs-Hilfstruppen degradieren und fühlen sich sauwohl dabei. Ihre wohlfeiles Herumkritteln an Maischberger und Jauch bedeutet aber nur, den Kritisierten die Quoten zu verbessern. Und da frage ich mich: Was soll das? Anstatt sich gegenseitig zu unterstützen (was früher die Verlinkung oder die Blogroll war), anstatt etwas Eigenes zu entwickeln, machen sie me too-Kommentare zu Spiegel Online. Wenn das der Strukturwandel der Öffentlichkeit sein soll, dann gute Nacht",

schrieb er um 23.23 Uhr.

Es ist ein gewaltiges Fass, das Michal aufmacht. Dabei arbeitet er auch mit einem relativen Online-Erfolgsrezept, das bei Carta zum Glück selten verwandt wird, der Komplexitätsreduktion. Nur zum Beispiel bemerken "die alten Strukturen" kaum etwas vom "Sieg", den sie Michal zufolge "davon getragen" haben, weil sie, um im Bild zu bleiben, an ganz anderen Fronten kämpfen, vor allem an der, die Renditen aus dem Printgeschäft teilweise ins Digitalgeschäft herüberzuretten. Dass sie zu solchen Zwecken im Lauf der Jahre auch viele im Netz Sozialisierte angeheuert haben, ist weder wirklich kritisierenswert, noch hätte es sich vermeiden lassen. Schließlich sind nicht im Netz Sozialisierte inzwischen ja schwer zu finden.

Einer der wahren Kerne dieses rants, die tatsächlich mehr Beachtung verdienen als sie im laufenden Öffentlichkeits-Strukturwandel erhalten: In Deutschland hat sich anders als in vielen Ländern, z.B. Frankreich oder den USA, kein einziges eigenständiges Universalmedium, keine einzige "Internetzeitung" im Sinne des ersten Satzes des Michal-Textes etablieren können, die von Verlagen oder Sendern ökonomisch unabhängig agierte. Im Netz Sozialisierte hatten, von einzelnen Nischen abgesehen, strukturell niemals die Chance, schreibend im Netz Geld zu verdienen, außer in alten Strukturen. Das letzte unabhängige Unternehmen, das sich mit zeitweise aufblitzenden Chancen auf Erfolg versucht hatte, dürfte wohl die längst sehr sehr ehemalige Netzeitung sein [in der am Anfang des Jahrtausends auch das Altpapier entstanden war]. Sie ist zu einer Zeit gescheitert, als Twitter und Facebook noch nicht die Aufmerksamkeit beschleunigten und verteilten (bzw. praktisch alleine ausreichten, das Medien-Zeitbudget der Nutzer zu füllen), und als noch nicht weit über die Häfte der Onlinewerbeeinnahmen an Google flossen. Das Scheitern hing natürlich damit zusammen, dass die deutsche Medienlandschaft so dicht besetzt war und noch immer ist wie wahrscheinlich keine andere: mit immer noch irre vielen Zeitungen und mit vielen Kanälen des reichsten öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Welt. Was man ja nicht grundsätzlich zu bedauern braucht ...

####LINKS####

Also, ein Dilemma.

(Würde man nicht zu Komplexitätsreduktion neigen, könnte man noch das Beispiel dnews.de erwähnen, auch das eine ehemalige Altpapier-Heimat: Da hatte der niederländische Onlinenachrichten-Marktführer nu.nl mit einer deutschen Version seiner angenehm puristischen Webseite versucht, im Nachbarland zu reüssieren; allerdings konnte oder wollte schon damals irgendwie kaum jemand dnews.de kennenlernen, man müsste also weit ausholen ... Und hier im Altpapier muss ja auch noch das relativ programmatische Altmedien-Lippen-Lesen erledigt werden.)

[+++] Wovor sich heut die kalifornischen NSA-Kollaborateure in Acht nehmen müssen: ein großes Interview mit Isabelle Falque-Pierrotin, der Chefin der französischen Datenschutzbehörde CNIL, auf der FAZ-Medienseite. Dass in Frankreich, das vor lauter USA-Fixierung in deutschen Medien kaum beachtet wird, Diskurse anders verlaufen als hierzulande, macht es gut deutlich. Z.B. antwortet Falque-Pierrotin auf eine etwas um- bzw. wohl nur in Kenntnis französischer Diskurse verständliche Frage Jürg Altweggs zu Smartphone-Apps:

"Wir haben mit zehn Freiwilligen, die Applikationen ihrer eigenen Wahl benutzten, entsprechende Erfahrungen gesammelt. Eine eigens dafür entwickelte Software ermöglichte es uns, genau zu verfolgen, wie die Apps mit Apple kommunizieren. Man fasst es nicht! Absolut banale Apps haben Zugang zum Telefon, zum Adressbuch, Kalender, können das Gerät lokalisieren. Sie ziehen Daten, die mit der Nutzung der entsprechenden App nichts zu tun haben. Wenn man zehn Apps benutzt, profitieren hundert Unternehmen der Net-Ökonomie von den Daten. Facebook, Amazon, Google wissen sehr genau, wer wir sind, wo wir uns befinden, mit wem wir in Verbindung stehen. Amazon weiß im Voraus, was wir kaufen werden. Die Algorithmen sind so genau, dass sie Voraussagen ermöglichen. Vor diesen Internet-Giganten sind wir völlig nackt. Aber die meisten Zeitgenossen sind sich dessen nicht bewusst, sie kennen nur die tollen Möglichkeiten, die ihnen die sozialen Netzwerke und Suchmaschinen erschließen."

Und weil das FAZ-Feuilleton halt als Bundle für "liberale, mittelständische Kritik am digitalen Monopolkapitalismus" (Michal) funktioniert, steht auf der ersten Feuilletonseite rechts oben, dort wo immer die zeitlosen Glösschen prangen, ein Sandra-Kegel-Text, der Amazons "anticipatory shipping" gleich auch noch einmal, ähm ... aufspießt. Der Text steht auch schon online, das interessantere Interview nun auch.

[+++] Den typisch französischen Optimismus, Strukturwandel gestalten zu können, verbreitet Isabelle Falque-Pierrotin ebenfalls ("Wir müssen uns in Europa noch stärker zusammenschließen und gemeinsam vorgehen. Europa ist der höchstentwickelte Markt mit gebildeten Leuten, die Geld und Zeit haben"). Die Frage bzw. Bemerkung Altweggs, auf die hin sie das sagt, lautete: "Frankreich hat von Google eine Milliarde Steuernachzahlung verlangt."

Hierzulande ist die noch ziemlich unbekannte Institution VG Media nun neu aufgestellt und "soll Geld von Google eintreiben" (golem.de), auf der Basis des lange umstritten gewesenen, längst in Kraft getretenen, aber bislang wohl unbenutzten Leistungsschutzrechts für Verlage. Was die Medienseite der Zeitungen der weiterhin nicht an der VG Media beteiligten Verlage dazu schreiben: "Es ist gewissermaßen eine Investition in der Hoffnung, dass sie sich rekapitalisiert, wenn die VG Media künftig Geld von Internetanbietern eintreibt ... . Das betrifft nicht nur Google ... . Allerdings dürfte die VG nur dann nennenswerte Erlöse erzielen, wenn sie Rechnungen tatsächlich an Großkonzerne wie Google schreibt. ...Die Frage, wie Google und andere darauf reagieren, ist spannend", schreibt Claudia Tieschky in der SZ.

Und die FAZ ist in einer 22-zeiligen Meldung im Wirtschaftsressort (S. 13) wieder im Kriegsberichter-Jargon: "Verlage greifen Google an", lautet die Überschrift, die der Text selbst nicht deckt. "Die Verlage Gruner+Jahr und Bauer beteiligen sich nicht an dem Vorstoß", lautet der letzte Satz (was auch heißt, dass die FAZ ihre Leser im Unklaren lässt, ob sie selbst sich daran beteiligt).
 


Altpapierkorb

+++ Unter der sprachlich schönen Unterzeile "Wenn Wellness weh tut", verreißt Ursula Scheer auf der FAZ-Medienseite den heutigen ARD-Fernsehfilm "Weiter als der Ozean" kräftig, u.a. mit den Sätzen: "Denn 'Weiter als der Ozean' meint es gut mit seinen Zuschauerinnen. Für Männer ist der Film (Buch: Beate Langmaack) nämlich gänzlich uninteressant ..." +++ Da kennt Ursula Scheer die Männer schlecht, zumindest die, die sich deutsche Fernsehfilme anschauen: "wunderbarer Film" (Thomas Gehringer, Tagesspiegel). +++ "Zwar alles andere als spektakulär, aber ungemein sorgfältig inszeniert", "und die Walgesänge sind sehr schön in die Musik (Florian van Volxem, Sven Rossenbach) integriert" (Tilmann P. Gangloff hier nebenan). +++ "Alltagsnahes Ausnahme-Drama, das die Grenzen zum ausschnitthaften Realismus des Arthaus-Kinos intelligent auslotet", würde Rainer Tittelbach sogar sagen. +++ Womöglich handelt es sich aber doch um kein debattentaugliches Gender-Phänomen, sondern bloß um individuelle Ansichten. Das größte Lob schrieb wiederum eine Frau: "Es gibt diese Fernsehfilme, die alles richtig machen. Das ist so einer" (Lea Streisand, TAZ). +++

+++ "Jetzt gerät Axel Springer ... in den Kampf der Medien", und zwar den in der Türkei, also einen noch ganz anderen Kampf als die hiesigen. Verbindungen des deutschen Konzerns mit der Zeitung Hürriyet würden falsch dargestellt und mit Springers Eintreten für deutsch-jüdische Aussöhnung verknüpft, berichtet Bülend Ürük (newsroom.de). +++

+++ Der Gründer der auflagenstärksten deutschen Zeitschrift gleich hinter der ADAC-Motorwelt (die bekanntlich nicht mehr ist, was sie war), ist gestorben. Jürgen Wolfram würdigt in der SZ Rolf Becker (DPA-Nachruf online) in genauer Kenntnis des oberbayerischen Verlagsorts Baierbrunn, in dem Becker "nach Belieben ... ein architektonisch ansprechendes Verlagsgebäude neben das andere" setzte und "der Dorfidylle eine eigenwillige modernistische Note", verpasste. Dieses Printmedium gibt's auch online: apotheken-umschau.de. +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite (und schon online!) flankiert Michael Hanfeld das oben erwähnte Interview mit einem kämpferischen Text über die Google-Politik der EU-Kommission: "Dass es keine europäische Konkurrenz für den Google-Algorithmus gibt, ist das eine. Europa Google preiszugeben, etwas anderes." +++

+++ Die Frankreich-Berichterstattung in Medienressorts ist Krisen-Berichterstattung. Über die der Libération (zuletzt Altpapierkorb gestern) berichtet heute Joseph Hanimann auf der SZ-Medienseite: "Mit dem auf Konfrontation eingeschworenen Regierungsstil Sarkozys hatte die linke Presse einen wirksamen Partner gehabt, gegen den sie ansteuern konnte. Unter dem konsensseligen Hollande entfällt der ideologische Peitschenknall, was sich in sinkenden Leserzahlen niederschlägt. Damit wird auch das alte Übel einer chronischen Unterfinanzierung der Presse wieder sichtbar in einem Land, das keine großen Medienkonzerne kennt." +++

+++ Wem immer noch fröhliche Totholz-Untergangs-Prophezeiungen über die Lippen gehen: Tommy Knüwer. Er befasst sich nun mit dem Plan des "Presserats der sterbenden Medienhäuser", Rat und Rügen zu Onlinekommentaren zu vergeben. +++ "Missachtung kann eine Waffe sein: Wer jemand anderen beleidigen möchte, braucht dazu die Öffentlichkeit", meint in derselben Angelegenheit Joachim Huber (Tsp.).

+++ "Was Absurditäten angeht, gibt sich das Jahr 2014 wirklich Mühe" (Sascha Lobo zur Edathy-Causa; spektakulär: um auf den massenmedial noch wenig beachteten Beteiligten Klaus-Dieter Fritsche zu verweisen, verlinkt Lobo bei Spiegel Online auf t-online.de!). +++ "Die Debatte ist schlicht erbärmlich und an Verlogenheit kaum zu überbieten. Das gilt aber nicht für das Handeln des zurückgetretenen Bundesminister Hans-Peter Friedrich ..." (Frank Lübberding, u.a. bei Carta). +++ Friedrichs Handeln "im Interesse der beteiligten Parteien, zeigt, wie wenig Gespür er hat für den Wert einer wenigstens noch theoretisch gewahrten Trennung von Ämtern und Parteien. Er hat damit nicht etwa 'Schaden vom Volk' abgewendet, wie er meint, sondern allenfalls Schaden von einer Partei ..." (Jasper von Altenbockum, FAZ). +++ Nicht unbedingt eine Mediendebatte, freilich... +++ Bzw.: Ist "Rechtsstaatsbewahrer" ein Schimpfwort? (Stefan Niggemeier via Twitter). +++

+++ Medien aus alten Strukturen befassen sich gerne mit Medien aus alten Strukturen. Durfte das ZDF für 2500 Euro deutschen Rodler aus Sotschi nach Mainz fliegen lassen? (Tagesspiegel) +++ "Statt mit Steinen zu werfen, würde ein spitzer Pfeil weit schmerzhafter treffen. Doch der Kampagnen-Journalismus sucht sicher schon nach dem nächsten Kiesel", meint dwdl.de zur Springer-BamS-initiierten Aufregung. +++

+++ "Hach, das ist, als würden Schmetterlinge mich an Fäden durch die Luft tragen!" (TAZ-Kriegsreporterin, wg. Hans Hoff). +++

+++ Und nicht immer nur über die vielfältigen Institutionen schimpfen: "Medienanstalten ermöglichen 'Schlagerparadies'" (die-medienanstalten.de). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.


 

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