In die Genauigkeitsfalle tappen!

In die Genauigkeitsfalle tappen!

Wird Tom Buhrow zum Philipp Rösler des WDR? Oder sorgt er dafür, dass sein Sender künftig nicht mehr der MDR des Westens sein wird? Außerdem: Morddrohungen gegen finnische Journalisten, Begeisterung über eine österreichische TV-Serie, Kurt Krömer in der Rolle eines Unsichtbaren und ein neues Fußballmagazin.

Welche prominente Person des Medienbetriebs mag wohl gemeint sein, wenn vom „Gewinnerlächeln eines Kreuzfahrt-Stewards“ die Rede ist?
Nein, nicht Tom Buhrow, der neue WDR-Intendant (Altpapier), obwohl dessen „Lächeln“ derzeit ja auch sehr oft Thema ist. Es geht um einen anderen Führungsspieler des Medienbetriebs, der mit Buhrow gemeinsam hat, dass noch nicht feststeht, wann genau er seinen neuen Job antreten wird: Wolfgang Büchner, der künftige Spiegel-Chefredakteur.

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Spätestens jetzt sollten wir vielleicht erwähnen, dass die Formulierung „Gewinnerlächeln eines Kreuzfahrt-Stewards“ aus der Titanic stammt (Seite 30, Ausriss hier). Den richtigen Riecher hatten die Frankfurter allemal. Die Details der Buhrow-Berichterstattung konnten sie nicht voraussehen, aber jetzt liest sich der zweiseitige Artikel teilweise auch als deren Persiflage. Tim Wolff karikiert in seinem Text zahlreiche Stilmittel, die im medienjournalistischen Betrieb derzeit sehr beliebt sind: die Stilisierung leitender Medienbetriebsangestellter zu popstar-ähnlichen Wichtigheimern, nebulöse Psychogramme, homestoryartige Passagen, in denen Verlagsflure und Redaktionsbüros gewissermaßen als „Home“ fungieren, auf atmosphärisch dicht getrimmte Schilderungen eben solcher Räumlichkeiten, eingestreute Zitate namentlich nicht genannter Personen undsoweiter. Wolff schreibt also zum Beispiel:

„Graue Wolken hängen ... in der Glasfassade des neuen Spiegel-Hochhauses, das die Mitarbeiter liebevoll ‚Millionengrab‘ und ‚Tempel des Todes‘ getauft haben. (...) Gesenkten Hauptes stecken (die Redakteure) ihre Ausweiskarte in die berühmte Spiegel-Stechuhr.“

Büchner spielt in dem Artikel eigentlich eine untergeordnete Rolle, er dient hier eher als Mittel zum Zweck. Das dürfte auch für Passagen gelten wie diese:

„‚Wir können nicht immer nur auf Hartz-IV-Empfänger, Sozis, Grüne und südeuropäische Versagerländer schießen‘, gibt sich Büchner nachdenklich. ‚Was hat uns diese Anbiederung ans Kapital denn gebracht? Anzeigenkunden jedenfalls nicht!'“

[+++] Jetzt aber zu Tom Buhrow und ins nicht-satirische Genre:

Oliver Jungen hat für die FAZ (Seite 39) eine erweiterte und nachgedrehte Printversion seiner gestrigen WDR-Pressekonferenz-Reportage angefertigt:

„Sosehr sich der neue Hoffnungsträger des WDR Mühe gab, seine Lust auf die neue Aufgabe herauszustellen, brachte ihn doch die Frage einer Journalistin, warum er sich diesen Posten, der aus so viel Diplomatie und Verwaltungsarbeit bestehe, überhaupt antue, kurz aus der Fassung. Natürlich fand der Kommunikator eine Antwort – wenn man mehr Verantwortung übernimmt, steigt auch das Diplomatische, aber ganz überzeugt schien er selbst nicht.“

Dass er „von nun an von miesepetrigen Journalisten für den Untergang des Fernsehlands verantwortlich gemacht“ werde, „ging ihm vielleicht auch in diesem Moment erst auf“, schreibt Jungen auch. Vielleicht geht Buhrow, wenn er das liest, ja auf, dass er eine tolle Zeit haben könnte, wenn er den „Untergang des Fernsehlandes“ einfach mal stoppt. Okay, das war jetzt ein kleiner Rückfall ins Satirische.

Wer wird der Nachfolger Buhrows bei den „Tagesthemen“. Recht wichtig finden diese Frage der Tagesspiegel, die Berliner Zeitung und süddeutsche.de. Tenor: Es gibt fünf Kandidatinnen und Kandidaten, darunter eigentlich auch Reinhold Beckmann, der sich aber schon selbst aus dem Rennen genommen hat.

Bei Hans Hoff in der gedruckten SZ geht es um die etwas interessanteren Personalfragen - nämlich jene, die Buhrows Kür zum Intendanten beim WDR nach sch ziehen:

„Als entscheidend gilt, wen er sich für die im kommenden Jahr freiwerdenden Direktorenposten holt. Bei deren Besetzung hat Monika Piel gleich zu Beginn ihre zwei größten Fehler gemacht. Als Fernsehdirektorin holte sie Verena Kulenkampff vom NDR. Von der war bekannt, dass sie weiß, wie man Fernsehen glattbügelt, wie man es so süffig inszeniert, dass die Quoten steigen. (...) Das einst höchstambitionierte dritte Programm des WDR (...) ist inhaltlich (...) inzwischen auf das betuliche Tralala-Niveau des MDR-Dritten gesunken. Hier gilt es, einen gestandenen Journalisten zu installieren, der dem Dritten wieder achtbares Profil verschafft. Der Name von Chefredakteur Jörg Schönenborn fällt dabei nicht ohne Grund vielfach.“

Ob andere Namen weniger vielfach fallen, weiß man derzeit nicht. Bemerkenswert ist es jedenfalls, dass es für den Posten des Tagesthemen-Moderators offenbar fünf Kandidaten gibt, für den unter inhaltlich-journalistischen Aspekten ungleich bedeutsameren des WDR-Fernsehdirektors - Buhrow hat hier das alleinige Vorschlagsrecht, der Rundfunkrat kann nur Ja oder Nein sagen - aber lediglich einen.

Recht instruktiv über Buhrow und den WDR schreibt heute die Hannoversche Allgemeine Zeitung. Imre Grimm formuliert in seinem mit einer Warnung Monika Piels („Man muss in dem Job wirklich managen können“) eingeleiteten Artikel die viel diskutierte Frage, ob ein Journalist oder Manager besser als WDR-Chef geeignet sei, folgendermaßen:

„Kann ein Vollblutjournalist heute, wo publizistische Wucht nur noch ein Aspekt unter vielen beim Medienmachen ist, die offenen Baustellen bei der größten Anstalt der ARD beackern?“

Ob man „Baustellen“ überhaupt „beackern“ kann, ist eine andere Frage, aber zuzustimmen ist Grimm (der auch die Frage aufwirft, ob Bhuhrow zum Philipp Rösler des WDR wird), wenn er schreibt:

„Der WDR hat – wie der Mutterverbund  ARD insgesamt – ernsthafte, tief sitzende Probleme. Der Sender, der vor langer Zeit innovative Formate wie ‚Schmidteinander‘, ‚ZAK‘, ‚Die Sendung mit der Maus‘ oder ‚Zimmer frei!‘ hervorbrachte, scheint an einer merkwürdigen Angststarre erkrankt.“

[+++] Nachdem in den letzten Tagen sehr viele Journalisten der Ansicht waren, es sei angebracht, umfänglich auf die neuen Verbreitungs- und Preisgestaltungsstrategien der Bild-Zeitung einzugehen (siehe Altpapier), erinnert der gute alte Presserat uns - und möglicherweise sogar Jakob Augstein - daran, was Springers Leute eigentlich für Inhalte verkaufen. Über den Tod einer „Nymphomanin“ berichtete sie im Dezember 2012 zum Beispiel so:

„Ihr letzter Liebhaber (31, ein Nachbar) wachte am Freitag gegen 6.30 Uhr neben ihrem leblosen Körper auf. Doch wie starb […]? Kann Dauer-Sex die Ursache sein?“

Weil die Zeitung im Originaltext die Person aber nicht vollständig anonymisierte, erteilte der Presserat nun eine öffentliche Rüge. Darüber berichtet der Bildblog.

Mit einem aus anderen Gründen unappetitlichen Bild-Beitrag beschäftigt sich der Blog Ad Sinistram. „Wie kamen Sie eigentlich dazu, den Haustürken Springers zu spielen?“ fragt Roberto De Lapuente Ertugrul Özköl anlässlich des „Integriert-euch-Appells“, den der „berühmteste Journalist der Türkei“ gerade „an die türkischstämmigen Deutschen“ gerichtet hat. 

[+++] Etwas Grundsatzdebattenstoff haben wir auch noch:

„Als der Soziologe Niklas Luhmann seinen ominösen Satz von der ‚Reduktion von Komplexität‘ sagte, verstand die Mitwelt dies als Aufforderung und reduzierte drauflos. Die Finanzkrise ist ein gutes Beispiel. Wer hat nicht alles versucht, dieses Desaster in vereinfachter und so besser verständlicher Form darzustellen. Aber man versteht es trotzdem nicht. Was folgt? Die Genauigkeitsfalle ist nicht zu umgehen. Wir müssen hineintappen. (...) Der Drachen muss als Drachen analysiert werden und nicht als eine Summe von Steaks.“

Dies bloggt Barbara Sichtermann auf ihrer „Interessenseite“ bei Facebook. In dem - sehr kurzen - Beitrag geht es nicht explizit um Journalismus, anders als bei „Die vierte Machtlosigkeit“, der im Wostkinder-Blog der FAZ erschienen ist. Mir fällt es aber leider schwer, einen Text ernst zu nehmen, in dem geschrieben steht, „die tatsächliche Aufgabe (...) der Medienarbeiter“ sei „eine ständige Emanzipation von der Schere im Kopf“.


ALTPAPIERKORB

+++ Das Thema des Tages auf der Seite 2 der SZ ist, dass US-Drohnenangriffe in Somalia von Militärbasen in Deutschland aus gesteuert werden. Unter medialen Aspekten ist das interessant, weil die Zeitungsleute hier gemeinsam mit dem ARD-Magazin „Panorama“ recherchiert haben. Online findet man Ergebnisse finden sich zum Beispiel hier und hier. NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz hat den „kleinen Investigativ-Pool“ bereits vor einem Jahr besungen.

+++ Mit Morddrohungen aus dem braunen Milieu müssen sich derzeit finnische Journalisten auseinandersetzen, die „die Stellung des Schwedischen als zweite Landessprache“ verteidigen. Das berichtet die NZZ. Betroffen ist unter anderem die Interims-Chefredakteurin der Tageszeitung Helsingin Sanomat. 

+++ Daniel Bax geht in der taz auf die Kritik an der Redaktion der Sendung „Anne Will“ ein, die meinte, am 20. Jahrestag des Mordanschlags von Solingen das Thema „Allahs Krieger im Westen. Wie gefährlich sind radikale Muslime?" auf die Tagesordnung setzen zu müssen. Um den „recht vorhersehbaren“ Verlauf der Sendung geht es auch.

+++ Ebenfalls in der taz: Es gibt ein neues Fußballmagazin: „Ballnah“, ein Ableger des Taktikblogs Spielverlagerung. Herzstück der ersten Ausgabe: eine Art Monographie des taktischen Werks von Jupp Heynckes (Disclosure: Der Text ist von mir).

+++ „Warum sind wir nicht alle ein bisschen ORF?“ Bzw.: Warum kann das ORF, was Sender im erheblich größeren nördlichen Nachbarland nicht können, wollen oder dürfen? Ja, es geht um Fernseh-Serien. Die besagten Fragen wirft das neu formierte „serielle Quartett“ des Magazins Torrent auf, Anlass ist die famose Serie „Braunschlag“, angesiedelt an einem fiktiver Ort in der niederösterreichischen Provinz.

+++ Kurt Krömer spielt in „Eine Insel namens Udo“, der heute auf arte zu sehenden „originellen Romantikkomödie“ (Sender-PR) einen Mann, der für (fast) alle anderen unsichtbar ist. Heike Hupertz (FAZ) findet den Film mittelprächtig: „Situationskomik, brachialverbale Witze, poetische Szenen, Verwechslungshumor, Verkleidungsschalk, Grimassen, loriothafte Missverständnisse und zum Fremdschämen inszenierte Lächerlichkeit – Markus Sehr (der mit Clemente Fernandez-Gil auch das Drehbuch geschrieben hat) zieht alle Witzregister, die Kamera von Daniela Knapp alle Bildregister, um ‚Eine Insel namens Udo‘ so kauzig zu machen, wie es der Grundidee dienlich ist. Gelegentlich ist das des absichtlich Originellen zu viel. Das Hamburger Abendblatt ist dagegen vollauf begeistert.

+++ „Does it piss you off the way Africa is written about in connection with development aid?“ Falls ja: Bei This is Africa findet sich ein ausführlicher Rundumschlag.

+++ Die New York Times plant offenbar, verstärkt auf „Sponsored Stories“ zu setzen. Das schreibt Bloomberg.

+++ Nebenan bei evangelisch.de gibt es einen Bericht über aktuelle Crowdfunding-Projekte - unter anderem die Beilage „Was glaubt der Norden?“, die dieser Tage in den Blättern des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlages erscheint.

+++ Volker Weidermanns Replik aus der FAS auf eine „nicht ganz allgemeinpatzfreie“ NZZ-Abhandlung über die vermeintlich durch das Internet von der Marginalisierung bedrohte Literaturkritik ist mittlerweile online: „Der beste deutschsprachige Literaturkritiker des letzten Jahrhunderts war Kurt Tucholsky (...) Und wenn man in den Erinnerungen von Willy Haas liest, wie er, zusammen mit Kurt Tucholsky, vor beinahe hundert Jahren die ‚Literarische Welt‘ gegründet hat, mit welcher Liebe zur Literatur und welcher Leidenschaft und welchem Wahnsinn, dann klingt das so, als müsse man genau heute genau damit noch einmal anfangen. Oder einfach weiterschreiben, so gut es eben geht. Das Internet zerstört da gar nichts.“

Neues Altpapier gibt es wider am Montag.

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