Es muss nicht immer Rilke sein

Es muss nicht immer Rilke sein

Harte Zahlen: Grimmepreis-Nominierungen (57 Titel), Pressefreiheitscharts (179 Staaten). Außerdem: wie der Ordnungsreferent von Augsburg per Redaktions-Durchsuchungsbeschluss zum Kaffee einlädt; "Verteidige dein Bild!".

So viel Online-Aufmerksamkeit gab es lange nicht mehr für die Grimmepreis-Nominierungen wie in diesem Jahr dank des Clous, mit dem RTL-Dschungelcamp "einen der größten Zuschauermagneten auf die Nominierungsliste" zu setzen (dwdl.de). Neben lebhaften Diskussionen in sog. soz. Medien wie bei Twitter gab es gestern, nur zum Beispiel, "Skandal"-Rufe aus der Freitag-Community, von Aficionados des Formats gern aufgegriffene Schnellvermeldungs-Irrtümer und spektakuläre Hypothesen von beträchtlicher Steilheit (welt.de: "Wenn das Ereignis von Dirk Bachs Tod der Grund für die Nominierung des Dschungelcamp ist, so bekommt, könnte man sagen, sein Tod den Grimme-Preis, ausgerechnet in der Sparte Unterhaltung").

Das prestigereiche Boulevardmedium Spiegel Online spendierte den Nominierungen unter der genialen Überschrift "Ehre für Ekel-TV" nicht nur eine superlativreiche Einordnung ("Der Preis ist die wohl prestigereichste Fernsehauszeichnung Deutschlands, steht aber auch im Ruf, die elitärste zu sein..."), sondern auch eine weit oben platzierte Fotostrecke (an der freilich enttäuscht, dass der ebenfalls nominierte SPON-Kolumnist und Spiegelverlags-Mitgesellschafter Jakob Augstein, der rein visuell ja jede Klickstrecke ebenfalls zieren würde, gar nicht auftaucht).

Den entspanntesten Kommentar zur "Kakerlaken-Sendung"-Nominierung bietet tagesspiegel.de als eine von vier möglichen Voting-Haltungen in der in die Agenturmeldung integrierten Klick-Umfrage an: "Es muss nicht immer Rilke sein", lautet er. Wie gut die (im Altpapier ja bereits gewürdigten) Klick-Umfrage-Texter des Tagesspiegel sind, zeigt der direkte Vergleich mit den abgeschmackten Formulierungen des SPON-Votings zur selben Frage. Sie hätten demnächst eine Grimme Online-Nominierung verdient, schon weil Votings leider ja zu den wichtigsten onlinejournalistischen Formen zählen.

Alle Grimmepreis-Nominierungen gibt's beim Institut selbst nach Kategorien getrennt (Fiktion, Information, Unterhaltung), während die jeweiligen Kommissionen untereinander vorgestellt werden. Der Vorsitzende der für die Dschungelcamp-Nominierung verantwortlichen Unterhaltungskommission, Hans Hoff, verliert bei sueddeutsche.de dazu kein Wort, sondern weint der ebenfalls für den Preis nominierten, im Programm jedoch eingestellten Talkshow "Roche & Böhmermann" eine ausgiebige Träne nach. Die TAZ tut das ebenfalls ("... die wohl intellektuellste Boulevard-Sendung, die sich das deutsche TV leisten konnte...").

Die einfühlsamste Analyse der Fiktion-Nominierungen gibt's unter der Überschrift "Das Beste vom Besten" bei tittelbach.tv ("Die Charts der nominierten Sender führen das ZDF (8), der WDR (6) und der BR (6) an. Bei den Machern 'gute Namen' & die üblichen Verdächtigen..."). Es verhält sich übrigens auch keineswegs so, dass Rainer Tittelbach alle Filme, die er bespricht, gut findet. Unter dreizehn Kurzbesprechungen von am heutigen Mittwoch ausgestrahlten Fernsehfilmen finden sich gleich zwei, die nur drei von sechs möglichen Sternchen bekommen.

[+++] Harter Schnitt nun zu völlig anderen Charts: Die "Rangliste der Pressefreiheit" (PDF) der Reporter ohne Grenzen kam ebenfalls gerade heraus. Deutschland steht auf Platz 17. Den letzten der 179 Plätze belegt Eritrea.

"Die Türkei findet sich - wegen staatlicher Verfolgung von Journalisten - auf Platz 154, noch hinter Russland (148) und der Ukraine (126). Prekär ist die Lage in Ländern des Nahen Ostens.... Verbessert habe sich die Lage in Afghanistan (128) und Burma (151). China findet sich auf Position 173", fasst die FAZ-Medienseite 31 zusammen. Instruktiver die internationale Analyse der DuMont-Presse: "Kein Land hat sich im Pressefreiheits-Ranking der Organisation Reporter ohne Grenzen so sehr verschlechtert wie Mali", das ja gerade auch aus den großen Schlagzeilen bekannt ist.

Klicken Sie vielleicht besser noch zum identischen Text bei fr-online. Schließlich ist der heutige Mittwoch für die Frankfurter Rundschau eine Art Schicksalstag. "An diesem Mittwoch wird die Belegschaft .. auf einer Mitarbeiterversammlung über die Zukunft ihrer Zeitung informiert", informiert die Süddeutsche (S. 31) knapp. Einen aktuellen Bericht aus Frankfurt selbst hat die Neue Presse.

Und solche Aspekte - das 2012 hierzulande neuaufgretetene Phänomen, "dass mehrere Zeitungstitel komplett eingestellt wurden" - spielen auch in der Pressefreiheitsanalyse für Deutschland der ROG eine Rolle. Die vier PDF-Seiten sind lesenswert, etwa, weil sie beim Zeitungssterben an die im Februar 2012 eingestellte, jenseits von Barsinghausen bereits ziemlich vergessene "kleine, aber traditionsreiche Deister-Leine-Zeitung" erinnern, und dennoch das große Ganze im Blick behalten:

"Ins Auge sticht vor allem die abnehmende Vielfalt der Presse: Aus Geldmangel arbeiten immer weniger Zeitungen mit eigener Vollredaktion, mehrere Redaktionen wurden 2012 komplett geschlossen. In vielen Regionen gibt es keine konkurrierenden Printmedien mehr. Gleichzeitig steigt die Zahl der von Unternehmen bezahlten Beiträge, die sich immer stärker - und für den Leser kaum erkennbar - mit journalistischen Inhalten mischen."

####LINKS####

[+++] Es lohnte noch längeres Verweilen bei der Analyse mit sonst selten formulierten Zusammenhängen ("Neonazis und Islamisten drohen Reportern") - wenn nicht aktuell eine für Deutschland ganz neue Pressefreiheits-Gefährdung aufgetaucht wäre.

"Ist es nun eine Provinzposse oder tatsächlich ein Schlag gegen die Pressefreiheit, wie es seit Montagabend überall im Netz zu lesen ist?", schreibt die Süddeutsche zu einer Begebenheit in Augsburg. Dort hat der CSU-Politiker und -Bundestagskandidat sowie örtliche Ordnungsreferent Volker Ullrich beim Amtsgericht einen Durchsuchungsbeschluss gegen die Augsburger Allgemeine erwirkt, um so die Identität eines Online-Kommentators namens "Berndi", von dem er sich beleidigt fühlte und gegen der er Anzeige erstattet hatte, herauszubekommen.

Was die Absurdität der Story betrifft, zu der auch revidierte Äußerungen des Ordnungsreferenten (ein Beruf, der jenseits von Augsburg nicht ungemein verbreitet scheint) auf seinem Facebookprofil gehören, ist dieser sueddeutsche.de-Bericht aufschlussreich, der sich allerdings auch selbst revidieren musste:

"In einer früheren Version des Artikels hieß es, die Redaktionsräume der Zeitung seien tatsächlich durchsucht worden. Es hat aber lediglich der Durchsuchungsbeschluss vorgelegen, worauf die Redaktion die zu beschlagnahmenden Daten herausgegeben hat, um einer Durchsuchung zuvorzukommen",

steht untendrunter. Schlimm genug, wozu eine Lappalie zumindest im bayerischen Schwaben führen kann. Aus norddeutscherer Sicht beleuchtet die TAZ die Sache. Christian Rath ordnet sie dort auch ein, bezweifelt, dass überhaupt eine Straftat vorliegt, und rät der Lokalzeitung, "notfalls mit einer Verfassungsbeschwerde auch das Bundesverfassungsgericht ein[zu]schalten".

Die Augsburger Blatt berichtet selbstverständlich auch selbst, per Leitartikel und im Blog "Greater Augsburg", das am Ende eine Übertragung des Streisand-Effekts ins Schwäbische konstatiert: "Denn in bundesweiten Foren wie bei Heise.de wird der Ordnungsreferent inzwischen härter attackiert als im AZ-Forum".

Den Ordnungsreferenten, der wie gesagt in den nächsten Bundestag strebt, am Telefon hatte Marin Majica von der Berliner Zeitung. Dort sprach Ullrich Berndi offenbar sogar eine Einladung zu einem Kaffee aus. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn er tatsächlich gewählt werden würde. Schließlich kann auch Tolpatschigkeit wichtige Entwicklungen vorantreiben.
 


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+++ Heut um 16.00 Uhr im Sitzungssaal 4.300 des Bundestags: eine Expertenanhörung zum Leistungsschutzrecht, allerdings ohne den sonst üblichen Stream (Carta). Die gesammelten Sachverständigen-Stellungnahmen liegen vor, außerdem selbstredend eine Menge weiterer Stellungnahmen bekannter Google-Sympathisanten (Stefan Niggemeier: "Die 'Lex Google' wird ohne Google beraten") und -Gegner (Christoph Keese). +++ Was Google-Gegner tatsächlich als Argument verwenden können: die neue Ausspieltechnik der Google-Bildersuche, die Keese so erklärt: "Wurde früher im Hintergrund immer die Quellseite geöffnet, was der Original-Seite einen Visit verschaffte, wird das Bild nun innerhalb einer 'Webapplikation' angezeigt, bei welcher der Benutzer Google.com nicht mehr verlässt." +++ Dagegen läuft anderswo die Aktion "Verteidige Dein Bild!" (nicht im Springer-Kontext zu verstehen!, sondern so: "Die Begründung, dass die neue Bildersuche 'benutzer-freundlicher' sei, gibt Google nicht das Recht, eine große Version der urheberrechtlich geschützen Bilder auf einer Google-eigenen Seite der Bildersuche anzuzeigen..."). +++ Siehe auch FAZ. +++

+++ Noch ein internationales Ranking: "die Anfragen staatlicher Stellen nach Nutzer-Informationen" bei Twitter ("Der Großteil mit 815 von 1.009 Anfragen kam aus den USA", netzpolitik.org). +++

+++ Wie ist die Lage beim WDR, dessen Intendantin gerade überraschend ihren Abschied ankündigte (siehe Altpapier)? "Da niemand weiß, welche persönlichen Gründe es für diese Entscheidung gab, ist zwar weder Häme noch Schadenfreude zu spüren, doch bei vielen macht sich Erleichterung breit", so der Kölner Stadtanzeiger am Anfang eines Artikels mit einem eigentlich anderen Thema ("das Problem der werblichen Wirkung von Kati Witt", wie es WDR-Unterhaltungschef Siegmund Grewenig nennt). +++ Ebd. zu sehen: der stahlharte Blick des neuen WDR-Unternehmenssprechers Stefan Wirtz, dessen Antritt mit Piels Abschied nichts zu tun habe. +++

+++ Sexismus-Debatte und Sexismusdebatten-Debatte: "Stellen Sie sich die Situation mal umgekehrt vor. Dass zum Beispiel eine ältere Politikerin mit einem jungen Journalisten über Slipgrößen und Jeansmarken scherzt und darüber, was er wie alles so ausfüllen könnte (so wie Brüderle mit Himmelreich über Körbchengrößen). Schockierend? Aber klar doch", schreibt Alice Schwarzer unter der Überschrift "Im Land des Herrenwitzes" im FAZ-Feuilleton (S. 27). +++ "Das Problem vieler, vor allem älterer Feministinnen ist, dass sie sich weigern, ihr in jüngeren Jahren geformtes Bild von Männern in Frage zu stellen: das des dauergeilen Patriarchen, der männerbündelnd seine Privilegien verteidigt", schreibt Marc Felix Serrao auf der bunten Panaoramaseite 9 der SZ. +++ "Bin ich ein(e) Brüderle?" Testen Sie Ihr Wissen bei bild.de, gleich neben der "Sex-Nachhilfe" "So wollen Frauen Oral-Sex". +++ "Eine Minderheit oder deren 'Vertreter' kann 'der' Mehrheit schlicht nicht erklären, wie sie fühlt und warum, wodurch und wie sie sich bedroht und verletzt fühlt. Zumindest nicht in Form einer Debatte. Für die Mehrheit ist das schwer zu verstehen, deshalb bemüht sie sich, mit Vergleichen zu nähern. Aber so richtig kann das nicht gelingen. Wer es trotzdem immer wieder versucht, ist nicht naiv, sondern debattengeil... " (Johannes Kram bei vocer.org). +++

+++ [Nachtrag am Vormittag: "Showdown in Berlin-Mitte"... ... "Brüderle und Himmelreich: In diesen Minuten treffen das FDP-Urgestein und die junge Journalistin aufeinandertreffen!", auch bild.de]. +++

+++ Der Stern "sucht übrigens händeringend die stellvertretende Kraft für [Dominik] Wichmann", den bald allein amtierenden Chefredakteur. "Wegen der aktuellen Pro-Frau-Stimmung muss es jemand sein, der auch ein Dirndl füllen könnte, also kein Mann", weiß die TAZ-Kriegsreporterin, der man zu große Themenvielfalt ja kaum zum Vorwurf machen kann, die in G+J-Dingen aber immer gut informiert ist. +++

+++ Neuer Micro-Trend: Himmelreich-Wortspiele, z.B. "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Das gilt noch viel mehr für seine Imagination... " (Bettina Röhl bei wiwo.de), "Ob Herr Brüderle an jenem denkwürdigen Abend vor dem Dreikönigstreffen der FDP an die Pforte der Frau Himmelreich klopfte oder nicht..." (Jakob Augstein bei SPON)... +++

+++ "Die Zeitung vom Informationsträger Papier zu emanzipieren...", "Google und Apple sind unsere größten Freunde und Feinde zugleich" - da spricht Springer-Chef Mathias Döpfner. "Die Zukunft im Netz gehört den starken Marken". Dem Interviewer von wallstreetjournal.de gelingt es jedoch, ihn einmal auch zur Auskunft "Da stehe ich selbst ratlos vor einem irrationalen Phänomen" zu bringen. +++ Wie alt ist Döpfner eigentlich? Antwort gibt die Axel-Springer-Akademie auf Youtube. +++

+++ Ins Fernsehen: "Prominente Schauspieler", die "aus der deutschen Fernsehlandschaft längst nicht mehr wegzudenken" seien, so nennt der MDR seine allerneuesten Kommissarsdarsteller. Die Süddeutsche hat Mitleid mit Sylvester Groth und Claudia Michelsen und nennt sie auch "zwei hervorragende, vielschichtige Schauspieler". +++ Sind die beiden nicht schon längst Fernsehkommissare? Jein, die ZDF-Serie "Flemming" mit Michelsen "ist kürzlich aber nach der dritten Staffel eingestellt worden" (SZ), und den schwedischen "Inspektor Barbarotti ..., diesen etwas anderen Kriminalisten", den Groth mal spielte, gibt's wohl auch nicht mehr. +++

+++ Stimmen zum ARD-Film heute, "Mord in Eberswalde": "Regisseur Stephan Wagner stellt ... abermals sein Talent als Erzähler unter Beweis, der Realität in einzigartiger Strenge mit Fiktion zu verbinden weiß" (Michael Hanfeld in der FAZ). +++ Der Film "erzählt mehr davon, dass sich der Autor Holger Karsten Schmidt und der Regisseur Wagner nicht entscheiden konnten: Sie wollten den Fall des Kindermörders Erwin Hagedorn erzählen, der noch 1972 in der DDR hingerichtet wurde, als letztes ziviles Opfer. Aber sie vertrauen ihrem Stoff nicht, sie geben der Geschichte die Rahmenhandlung einer Vorabendserie..." (Jochen Arntz, SZ). +++ "Was, zum Beispiel, nicht gesagt wird" zum DDR-historischen Aspekt des Films schreibt Jens Müller in der TAZ auf. +++ Fünf Sterne bei tittelbach.tv, TV-Tipp des Tages hier nebenan. +++

+++ "Am Ausgang des Theaters gibt es Creme gegen Falten. Politisches Interesse muss schließlich belohnt werden", berichtet die Süddeutsche von der Berliner Veranstaltung der G+J-Zeitschrift Brigitte mit Katrin Göring-Eckardt ("Brigitte live - Frauen wählen!"). +++ Von einer Fernsehserien betreffenden "völlig verkorksten Titelgeschichte" der früher nicht völlig unrenommierten Burda-Zeitschrift Cinema berichtet dwdl.de. +++

+++ Und noch ein gelöschter Facebook-Kommentar: von Konstantin Neven DuMont zur Lage im DuMont Schauberg-Verlag (meedia.de). +++ Was macht derweil Alfred Neven DuMont? Ihn "treibt es derzeit zusammen mit Festkomitee-Präsident Markus Ritterbach durch die Karnevalssäle", weiß der kölsche Stadtanzeiger. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
 

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