Haben Sie mal eine Million?

Haben Sie mal eine Million?

Die spätabendliche LSR-Debatte wird zum „Digitalevent“. Die Frage, ob Frank Schirrmacher zumindest ein bisschen links ist, stellt sich mal wieder. Außerdem: Was könnte man sich unter einer „Demokratisierung“ der Zeitungsverlage vorstellen? Und Bettina Böttinger hat einen Grund zum Feiern.

Die hübsche, auch schon mehr als 30 Jahre alten DAF-Refrainzeile „Nachtarbeit ist Arbeit in der Nacht“ mussten die sich fürs Leistungsschutzrecht interessierenden Abgeordneten des Bundestages nun doch nicht vor sich hinsingen, denn anders als zuvor vermutet (siehe auch Altpapier) hatten sie keine Nachtarbeit im strengen Sinne zu verrichten. Los ging es mit der ersten Parlamentsdebatte um das Leistungsschutzrecht dann doch schon gestern um 22.50 Uhr, wie wir dem Live-Ticker der Rhein-Zeitung entnehmen (der für eine Rekonstruktion der Redebeiträge eh hilfreich ist, jedenfalls für jene, die nicht die Zeit haben für die bei netzpolitik.org verlinkten Videos).

Jenseits der vermeintlichen Kernnachricht - „Nach der Beratung in den Fachausschüssen wird der Gesetzentwurf dann möglicherweise mit Änderungsvorschlägen wieder dem Bundestag vorgelegt. Ob das Gesetz aber noch in der laufenden Legislaturperiode in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden kann, ist ungewiss“ (dpa/faz.net) - kristallisiert sich heraus, dass es zwar, um es mit Dirk von Gehlen zu sagen, ein „demokratischer Digitalevent“ gewesen sein mag (was wiederum Vera Bunse für Carta unter der Headline „Die LSR-Bundesnacht bei Twitter“ recht gut dokumentiert hat), ansonsten aber eher ein Anti-Event:

„Die Ränge sind leer. Ganze zwölf Zuschauer, darunter vor allem Journalisten, Internet-Fans, Lobbyisten. Man hört die Lüftung brummen und die Abgeordneten tuscheln. Es ist der Teil eines Sitzungstages, an dem eigentlich nichts mehr passiert“,

berichtet Manuel Bewarder (Welt Online), der auch „die wichtigsten Aussagen und Tweets“ im Angebot hat.

Was noch zu ergänzen wäre: Tabea Rößner, die medienpolitische Sprecherin der Grünen, die unten im Altpapierkorb aus anderen Gründen noch einmal auftauchen wird, stellte andeutungsweise einen Bezug zum anderen großen bzw. ja eigentlich viel größeren Mediendebattenthema her, nämlich der Medienkrise und ihren Opfern („Leistungsschutzrecht wird Anwalts Liebling. Journalisten hätten das Geld viel nötiger"). Und die Linken-Abgeordneten Petra Sitte rief der Bundesregierung zu:

„Überwinden Sie ihre Angst vor der Bild-Zeitung!“

Ein paar Stunden, bevor es im Bundestag losging, hatte Stefan Niggemeier noch über ein für die Gesamtberichterstattung zum Leistungschutzrecht nicht untypisches Phänomen geschrieben: „Die führenden deutschen Zeitungen“ hätten ihren Lesern die „vernichtende Kritik verschwiegen“, die unter anderem das Max-Planck-Institut und die Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) an dem Gesetzesentwurf formuliert haben.

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Wie sich eine expertenkreisinterne Debatte - in diesem Fall die um Google und das Leistungsschutzrecht - auf zumindest unterhaltsame Weise ausdehnen lässt auf andere Felder, zeigt Michael Seemann in einem Beitrag, den Carta crossgepostet hat. Es geht, sehr verkürzt gesagt, darum, dass Kritik an Google was mit Antiamerikanismus, mit Antiimperialismus gar, zu tun haben könnte:

„Hier, beim Leistungsschutzrecht, lässt sich die antiimperialistische Denke recht gut herausextrahieren, denn die altlinken Netzaktivisten distanzieren sich völlig ohne Not vom ‚amerikanischen Konzern‘, dessen Interessen sie teilen.“

Der Text ist ein bisschen konfus, Seemann verlegt zum Beispiel den konsumkritik-kritischen und kulturpessimismus-kritischen „Popdiskurs“ der frühen 80er Jahre in die 90er Jahre. Aber richtig turbulent wird es in den Kommentaren, da äußert sich Seemann zu FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher (und implizit zu diesem viel verlinkten Text):

„Er sucht seit einiger Zeit ja explizit die Nähe der anti-imp Linken, die er ja beispielsweise auch in Rieger und Kurz gefunden hat. Der Neoliberalismus – dem er selbst früher frönte – passt derzeit nicht so gut ins Geschäftsmodell. Was aber – und das beobachte ich seit geraumer Zeit vor allem bei Schirrmacher aber auch bei anderen – ein allgemeiner Prozess ist. Es gibt eine ideologische Annäherung der bürgerlich Konservativen zu der antiimp Linken.“

Linker Journalismus passte aber auch noch nie gut zu einem Geschäftsmodell, und das ist auch heute noch so, sonst würden Jungle World und konkret ja bessere Honorare zahlen als Schirrmachers Laden. Gar nicht gut geht es übrigens, wie die taz berichtet, der einst durchaus mal wichtigen linken Plattform Indymedia, obwohl die nie ein „Geschäftsmodell“ sein wollte.

Hinzu kommt: Schirrmacher in die Nähe jener aus der Zeit gefallenen Mini-Szene zu rücken, die gemeinhin mit dem Begriff Antiimp bezeichnet wird und die allenfalls mal durch Rangeleien mit Antideutschen auffällt, ist schon ein bisschen bizarr. Wortmeldungen der vom früheren FAZ-Blogger Seemann erwähnten FAZ-Mitarbeiter Frank Rieger und Constanze Kurz zur Einsortierung ins Amtiimp-Lager gibt es bisher nicht, aber vielleicht handelt sich hier eh nur um einen bestenfalls neckischen Seitenhieb gegen ein Buchautorenduo, das völlig anderen Thesen vertritt als der Autor Seemann.

Abgesehen davon, dass Seemann in seinem Beitrag etwas überdreht, kann man es natürlich merkwürdig finden, dass beispielsweise ein Michael Hanfeld gegen den „Silicon-Valley-Kapitalismus“ wettert, obwohl er doch Kapitalismus ansonsten recht schnuckelig zu finden scheint. Und dass sich ein Christoph Keese gestern im Deutschlandfunk durchaus nicht anti-antiamerikanisch anhörte („Google ist eine Organisation, die viel Geld aus Europa absaugt und in die USA bringt“).

Um auf Schirrmacher zurückzukommen: Die allgemeiner gefasste Frage, ob er ein Linker geworden ist, ist so neu nun auch nicht mehr. Verglichen mit den „Internetkritikkritikern“, wie Katrin Schuster sie nennt, also mit jenen Neoliberalen, die Marx für einen Schokoriegel halten, steht Schirrmacher derzeit tatsächlich als Linker da. Das darf man den Neoliberalen durchaus übel nehmen.

[+++] Wo wir schon bei den Linken sind: Kersten Artus, die Medienexpertin der Linken-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft, hat in ihrem Blog ihre Rede veröffentlicht, die sie im Parlament gerade zur Einstellung der in Hamburg ansässigen FTD gehalten hat:

Das Ende der FTD, für deren halbwegs betuchte Fans es gerade ein verlockendes Angebot auf Ebay gibt, eigne

„sich nicht einmal als Beispiel für das Thema Zeitungssterben. Es geht um eine Demokratiekrise.“

Wenig hält Artus im Übrigen von

„Finanzierungsmodellen, die Zeitungen einen öffentlich-rechtlichen Charakter geben und für die sich viele Linke und GewerkschafterInnen erwärmen“.

Da wird sich der Michael Hanfeld aber freuen! Offenbar lehnen sich nicht nur die Konservativen den Linken an, wie Michael Seemann meint, sondern auch umgekehrt. Jedenfalls ist es ein bisschen ärgerlich, dass über öffentlich-rechtliche Finanzierungsmodelle für Zeitungen schon vorab der Daumen gesenkt wird, ohne dass solche Modelle überhaupt vorliegen.

Was Artus an anderer Stelle sagt, klingt im Prinzip gut:

„Die Verlage müssen (...) demokratisiert werden.“

Was genau damit gemeint ist, wird nicht klar, aber da Artus als Betriebsrätin eines Medienkonzern schon einige Erfahrungen mit dem Demokratieverständnis von Verlagen gemacht hat, wird da sicher noch einiges kommen von ihr.

[+++] Eine Art von Verlagsdemokratie gibt es ja zumindest beim Spiegel, und zwar in Form der Mitarbeiterbeteiligung. Dummerweise, wie Stefan Winterbauer (meedia.de) sagen würde. Der beliebte Verlagsunternehmensberater analysiert in bewährter Knallhärte die Lage beim Spiegel, wobei er Bezug nimmt auf die aktuellen Äußerungen des Geschäftsführers Ove Saffe (siehe Altpapier):

„Der Print-Spiegel ist (...) nicht nur (noch) der größte Gewinn- und Umsatzträger des Hauses – er ist auch mit Abstand der größte Kostenfaktor. Wenn Saffe wirklich sparen will, muss er an den Print-Spiegel ran. Nur dummerweise gehören den Print-Spiegel-Mitarbeitern über die Hälfte des Unternehmens. Sie müssten also einen Sparkurs mittragen, bei dem sie selbst am meisten abspecken müssten. Das ist alles andere als leicht und wird ein echter Lackmustest für die Manager-Qualitäten von Ove Saffe werden: Er muss seinem eigenen Arbeitgeber unmissverständlich klar machen, dass dieser gemessen an den Zukunftsperspektiven auf zu großem Fuß lebt.“

[+++] Dass der Berliner Verlag zuletzt „auf großem Fuß“ gelebt hat, lässt sich nicht sagen, zumindest insofern nicht, als die Personalkosten dort „in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken“ sind, wie der Betriebsrat gegenüber der taz äußert. Dennoch sinken die Kosten nun noch weiter: 40 der 368 Stellen (kress.de und FAZ) bzw. „bis zu 86“ (meedia.de, Tagesspiegel) bzw. „bis zu 88" (Spiegel Online) werden abgebaut. Was es mit dem „bis zu“ auf sich hat, schildert die taz ausführlich:

„Die FR, ebenso eine Tochter von DuMont, bekommt ihren Manteilteil genau wie die Berliner Zeitung von einem Autorenpool in der Hauptstadt. Hier würden, sollte die Rundschau eingestampft werden oder ein neuer Investor sich von der Lieferung des Mantelteils aus Berlin abwenden, 14 von 27 Stellen wegfallen. Darüber hinaus müssten die 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen, die diesen Mantelteil bislang produzierten, und zwölf weitere Stellen bei der Berliner Zeitung würden auch noch abgebaut.“

Ähnlich schlechte Nachrichten kommen auch aus Wiesbaden, der „ersten Landeshauptstadt, in der es keine Tageszeitung mit Vollredaktion mehr gibt“ (journalist).

[+++] Der Wirbel, den das Leistungsschutzgesetz in den letzten Tagen hier zu Lande in Teilen des Politk- und Medienbetriebs mal wieder ausgelöst hat, dürfte eh als lau einzustufen sein, wenn man ihn mit der Aufmerksamkeit vergleicht, die der Bericht der von Brian Leveson geleiteten Untersuchungskommission in Großbritannien bekommt. Die Einsetzung dieser Kommission war durch die Phone-Hacking-Affäre bei der mittlerweile eingestellten Murdoch-Boulevardzeitung News of the World notwendig geworden.

„Es sind vier Wälzer von knapp zweitausend Seiten, basierend auf 637 Zeugenaussagen, die – nach den ersten Reaktionen zu urteilen – den Stoff für lange Auseinandersetzungen liefern dürften“, schreibt Gina Thomas.

Christian Zaschke schreibt in der SZ, Levesons Vorschläge zur Presseregulierung seien

moderater als vermutet. Trotzdem sind die Zeitungen nicht glücklich. Dem Lordrichter Brian Leveson ist es gelungen, warme Worte für die britische Presse zu finden und ihr trotzdem ein denkbar schlechtes Zeugnis auszustellen. Sie sei ein Eckpfeiler der Demokratie, sagte er, und sie richte dennoch verheerende Schäden im Leben einfacher Menschen an."

Thomas erläutert bei der direkten Konkurrenz:

„(Leveson) fordert (...), eine gesetzliche Grundlage für ein unabhängiges Gremium zu schaffen, das die Presse reguliert. Sosehr Leveson bestrebt war, den Aspekt der Selbstregulierung hervorzuheben, sosehr er bei allem Tadel betonte, dass die Presse der Nation „den größten Teil der Zeit gut diene“ und dass die gesetzliche Untermauerung nicht zu verwechseln sei mit gesetzlicher Regulierung, regte sich bei der reinen Erwähnung des Begriffs ‚gesetzlich‘ der Widerstand all jener, die im vorhinein gegen Levesons Befunde gewettert haben.

Darüber hinaus lässt sich die taz durch den Levesen-Bericht zu einem deutsch-englischen Presseregulierungs-Vergleich inspirieren, der Guardian liefert viele, viele Stimmen und die Times auf der Titelseite eine interessante Bilderkomposition.


ALTPAPIERKORB

+++ Hat ein Springer-Journalist einem Polizeibeamten Geld für Informationen bezahlt? Spiegel Online berichtet über eine mutßmaßlich diesbezügliche Durchsuchung bei der Berliner Morgenpost. Die Morgenpost berichtet in eigener Sache kurz zur Aktion der Staatsanwaltschaft, und bei der stadtinternen Konkurrenz von der Berliner Zeitung findet sich die solidarische Überschriftsformulierung „Angriff auf Pressefreiheit“

[+++] Heute erscheint in der Schweizer Wirtschaftszeitschrift Bilanz eine Liste mit den 300 Reichsten des Landes (das Pendant zu dieser deutschen Liste). Die WoZ reagierte gestern bereits vorab rnit einer Sonderausgabe unter dem Titel „Die 300 Reichsten wollen nicht teilen!“ Das Motto lautet grob zusammengefasst: Haben Sie mal ne Million? Bzw. im Detail: „Sie verstecken sich hinter dichten Hecken und videoüberwachten Toren: Wir baten die Reichsten im Lande dennoch um eine Million Franken – für eine Umverteilungsinitiative.“ Die Tageswoche und persoenlich.com berichten über die Aktion.

+++ „Was tut der Staat gegen die Mietpreisexplosion?“ Ist das, um noch mal auf das oben Gesagte zurückzukommen, nicht auch schon beinahe eine linke Überschrift? Sie steht über einer Frühkritik zur gestrigen „Maybrit Illner“-Sendung bei Welt Online.

+++ Wie Gottschalk bei Lanz war, erzählen uns Ruth Schneeberger (süddeutsche.de) und Stefan Niggemeier (Spiegel Online).

+++ Bettina Böttingers Talkshow „Kölner Treff“ läuft heute zum 250. Mal im WDR Fernsehen. Thomas Gehringer (Tagesspiegel) nimmt dies zum Anlass für eine Würdigung. „Mittlerweile hat sich der ‚Kölner Treff‘ im Reigen der parallel ausgestrahlten Freitags-Talks eine Spitzenposition erarbeitet. Nach bundesweiten Zuschauerzahlen liegt Böttingers Format mit knapp einer Millionen Zuschauern vor der ‚NDR Talkshow‘ und ‚Tietjen und Hirschhausen‘. Bei den Gesprächen geht es eher um Temperatur als um Tiefe. Böttinger nennt den ‚Treff‘ eine ‚Spielwiese‘.Dabei komme es gar nicht so darauf an, ‚was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird‘, meint Böttinger.“

+++ Ärger herrscht derzeit rund um die Redakteurvertretung (RV) von Böttingers Sender. Vier von sieben Mitgliedern des Gremiums sind zurückgetreten, berichtet die Funkkorrespondenz. „Die Mehrheit der Redakteurvertretung wollte verhindern, dass sich einzelne RV-Mitglieder öffentlich über WDR-Angelegenheiten äußern, ohne dies mit dem gesamten Gremium zuvor abgesprochen zu haben.“

+++ Ebenfalls in der FK: Die heute schon erwähnte Tabea Rößner mahnt die Intendanten-Findungskommission der Deutschen Welle. „Ich hoffe, dass die Findungskommission jeden Anschein von Posten-Gemauschel im Hinterzimmer von Anfang an vermeidet.“ Die acht Intendantenfinder seien „gut beraten, die Staatsferne der ‚medialen Stimme Deutschlands’ bei der Suche nach einem neuen Intendanten herauszustellen“.

+++ Ein „Skateboard-Gate“ (Spiegel Online natürlich) gibt es jetzt auch, und brigitte.de ist Schuld. horizont.net berichtet ebenfalls. 

+++ „Ein New Yorker Polizist kauft einem Obdachlosen ein Paar Stiefel“ - dieses Bild aus der New York Times gehe gerade „um die Welt“, erzählt die FAZ uns heute im Feuilleton, es sei einer dieser „kleinen, überraschenden Momente“, die viral so gut funktionieren.

+++ „Eine Premiere in der Geschichte des Merkur“, vermeldet eben jene Zeitschrift: Das Dezember-Heft wird „ausschließlich von Autorinnen bestritten, die nun allerdings gerade und ausdrücklich nicht über Genderthemen schreiben“.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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