Filmkritik: "Die Karte meiner Träume"

Foto: epd/Jan Thijs
Filmkritik: "Die Karte meiner Träume"
Exzentriker in 3D: Mit "Die Karte meiner Träume" hat der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet erfindungsreich einen Roman des US-Schriftstellers Reif Larsen verfilmt. Jetzt kommt der Film in die deutschen Kinos.
09.07.2014
epd
Gerhard Midding

Im französischen Originaltitel des neuen Films von Jean-Pierre Jeunet - "L'extravagant voyage du jeune et prodigieux T.S. Spivet" - ist von einer außerordentlichen Reise die Rede. Sie nimmt ihren Ausgang an einem zentralen Punkt Nordamerikas, der kontinentalen Wasserscheide. Für den jungen Helden des Films, T.S. Spivet (Kyle Catlett), verläuft sie genau durch die Coppertop-Ranch in Montana. Dort wurde er geboren und dort wächst er auf.

Das zehnjährige Wunderkind ist ein liebenswürdiger Egozentriker. Dem selbst ernannten "Leonardo von Montana" ist es gelungen, den Heiligen Gral der Naturwissenschaften zu finden: Er hat ein Perpetuum mobile geschaffen, eine Maschine, die in immerwährender Bewegung begriffen ist. Für seine Erfindung will ihn das Smithsonian Institute mit einem renommierten Preis auszeichnen. Allerdings hat er verschwiegen, dass er ein Kind ist.

Auch seiner Familie erzählt er nichts von seinem Durchbruch, sondern macht sich heimlich nachts auf den Weg nach Washington. Etwaige Gefahren scheut er nicht, unbeirrt wird er seiner Bestimmung folgen. Das ist, für die Figur wie für ihren Regisseur, ein heikler Parcours. Aber Jean-Pierre Jeunet ("Die fabelhafte Welt der Amélie") ist Kinomagier genug, um diese Forschungsreise unter das Zeichen des Gelingens zu stellen.

Jeunet hat stets dafür Sorge getragen, filmische Universen nach dem Maß seiner Hauptfiguren zu schaffen. Die Welt fügt sich bei ihm gemäß der Wünsche und Vorstellungen von versponnenen Außenseitern. Wie sonst hätten die Eltern von T.S. zusammenfinden können? Sein Vater (Callum Keith Rennie) ist ein schweigsamer Cowboy, der gern Western sieht und Whisky trinkt, und seine Mutter (Helena Bonham Carter) eine Insektenforscherin, deren Rollenname Dr. Clair das beglückend Extravagante dieser Allianz noch einmal bestätigt.

Die ältere Schwester träumt von fernem Ruhm und Glamour als Miss America. Sein Zwillingsbruder Layton hingegen hat die patente Bodenständigkeit des Vaters geerbt. Er kommt beim Spiel mit dessen Waffe ums Leben, ein Trauma, für das die Familie erst Worte findet, als sie den verschwundenen T.S. schließlich in einer fremden Welt wiederentdeckt. Die Galerie dieser liebe- und respektvollen Karikaturen wird vervollständigt durch Miss Jibsen (Judy Davis) vom Smithsonian Institute, die Schwierigkeiten hat, die Fürsorge für den kindlichen Preisträger mit ihrem beruflichen Ehrgeiz zu vereinen.

Vertrautes erscheint exotisch

Auch Jeunet erfüllt sich mit der Adaption eines Romans von Reif Larsen einen Traum von Amerika. Seinen ersten US-Film "Alien 4" realisierte er vollständig im Studio, nun schwelgt er in den unbegrenzten Weiten des Landes. Er hat "Die Karte meiner Träume" in 3D gedreht, was die Romanvorlage gleichsam vorschrieb, die behände über den Text ausgreift, die Randspalte mit Skizzen, Karten und Grafiken füllt. Dieser verspielte Enzyklopädist des Kinos setzt das Format auf staunenswerte Weise ein. Natürlich schöpft er die Projektil-Ästhetik aus (ein Lasso schnellt dem Zuschauer entgegen), aber vor allem nutzt er den Reliefeffekt, um das Vertraute exotisch erscheinen zu lassen. Wer außer ihm würde je auf die Idee kommen, Grashalme und Staub derart in der Wahrnehmung des Zuschauers hervortreten zu lassen?

Frankreich/Kanada 2013. Regie: Jean-Pierre Jeunet. Buch: Jean-Pierre Jeunet, Guillaume Laurant (nach einem Roman von Reif Larsen). Mit: Helena Bonham Carter, Robert Maillet, Callum Keith Rennie, Judy Davis, Julian Richings, Niamh Wilson, Dominique Pinon. Länge: 105 Minuten. FSK: o. Al., ff.